Ludwig: "Ich bin
da sehr alarmiert"

Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig über die Probleme mit der Corona-Ampel, die Wirtschaftskrise in Wien und seine Sorge vor Wahlbündnissen gegen die SPÖ.

von Sommertour - Ludwig: "Ich bin
da sehr alarmiert" © Bild: News/Ricardo Herrgott
Michael Ludwig, 59 wuchs im Floridsdorfer Gemeindebau auf. Er studierte Politikwissenschaften und Geschichte. Seine politische Laufbahn begann er 1994 als Bezirksrat in Wien-Floridsdorf, ab 1996 war er SPÖ-Abgeordneter im Bundesrat, ab 1999 im Wiener Landtag. 2007 wechselte er als Wohnbaustadtrat in die Stadtregierung. 2018 folgte er Michael Häupl ins Amt des Bürgermeisters.

Wien wurde bei der ersten Corona-Schaltung auf Gelb gestellt. Prompt gab es den Verdacht, diese Ampel würde "politisch" geschaltet, da andere Bezirke mit ähnlichen oder höheren Fallzahlen auf Grün stehen. Also: Vertrauen Sie diesem Instrument?
Die Entscheidung für eine gelbe Ampelschaltung für größere Städte und urbane Zentren war per se nicht überraschend. Allerdings ist nach wie vor nicht klar, wie es zur Entscheidung für die Farbgebung der einzelnen Regionen gekommen ist. Es ist auch noch immer nicht geklärt, wie die Veränderungen der Ampel zustande kommen und welche konkreten Auswirkungen sie nach sich ziehen. Die Kriterien für die Ampel-Stellung müssen transparent und nachvollziehbar sein.

Was heißt "Gelb" nun für die Wienerinnen und Wiener? Und wie rasch droht Orange?
Wir warten jetzt einmal auf die rechtlichen Rahmenbedingungen des Bundes. Wir kennen nur die sehr vagen Aussagen aus den Pressekonferenzen. Aber es gibt bis heute weder eine Verordnung noch eine konkrete Gesetzesvorlage. Wien ist - wie auch bereits in der Vergangenheit -bereit, konstruktiv bei der Corona-Ampel mitzuarbeiten. Aber neben der dringend notwendigen Transparenz braucht es auch den notwendigen rechtlichen Rahmen für die Folgemaßnahmen. Es braucht die notwendigen Verordnungen, die dann auch halten, und auch die notwendigen Beschlüsse im Nationalrat. Es kann nicht sein, dass Entscheidungen ohne rechtliche Basis gefasst werden.

Aus Wien werden aber steigende Zahlen gemeldet.
Ich möchte betonen, dass Wien alles unternimmt, um die Auswirkungen der Pandemie einzugrenzen und die Bevölkerung bestmöglich zu schützen. Wir haben unabhängig von der Corona-Ampel deutlich strengere Maßnahmen im Bereich des Mund-Nasen-Schutzes umgesetzt. So ist etwa die Maskenpflicht in Amtsgebäuden nie aufgehoben worden, ebenso wie Zutrittsbeschränkungen und Corona-Checks beim Betreten von Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern oder Pflegeheimen.

Die Ampelfarben geben auch ein Signal an die Wirtschaft, vor allem an den Tourismus. Da hat die Coronakrise voll durchgeschlagen. Wankt der Wirtschaftsriese Wien?
Es gibt gravierende wirtschaftliche Auswirkungen. In der Hotellerie trifft es Wien ganz besonders, weil der Städtetourismus generell gelitten hat und Wien den Schwerpunkt Kongresstourismus hat. Hier ist der Fremdenverkehr um 100 Prozent eingebrochen, und das trifft neben Hotels und Messeveranstaltern auch alle anderen Gewerbe-und Handelsbetriebe. Konferenztouristen lassen im Regelfall dreimal so viel Geld in Wien wie normale Touristen. Daher habe ich Wirtschaftsstadtrat Peter Hanke gebeten, entsprechende Maßnahmen zu setzen. Es war mir wichtig, gleich am Beginn unmittelbar und schnell zu helfen. Etwa in der Kulturszene, wo wir Subventionen, die ausbezahlt waren und nicht in Leistungen umgesetzt werden konnten, nicht zurückfordern. Zudem haben wir Arbeitsstipendien für Kulturschaffende auf den Weg gebracht, und wir haben eine Sonderförderung für die Infrastruktur im Homeoffice entwickelt. Mit dem Gastro-Gutschein wollte ich der Wiener Bevölkerung für die große Disziplin danken, denn im Unterschied zu dem, was auf Bundesebene behauptet wird, waren die Wienerinnen und Wiener sehr diszipliniert. Und wir wollten die Gastronomiebetriebe und die rund 66.000 Beschäftigten dort unterstützen. Insgesamt wurden mehr als 150 Millionen Euro in die Hand genommen und zum überwiegenden Teil schon an die Betroffenen und die Betriebe ausbezahlt. Jetzt gibt es ein weiteres Corona-Hilfspaket, das rund 40 Millionen Euro schwer ist und neben der "Joboffensive 50+" Hilfen für die Tourismusbranche und die Nachtwirtschaft umfasst.

Wie kann man verhindern, dass wir demnächst an leerstehenden Läden entlang flanieren?
Wir haben den "Stolz auf Wien"-Fonds geschaffen, wo wir Unternehmen Beteiligungen anbieten. Allerdings sollen die Unternehmen nicht das Gefühl haben, wir wollen sie übernehmen. Daher haben wir uns auf eine Beteiligung von 20 Prozent beschränkt und bieten an, dass sie diese innerhalb von sieben Jahren zurückkaufen können. Das ist eine Möglichkeit, Kapital sehr schnell in die Unternehmen zu bringen. Erfreulicherweise gibt es auch viele Private, die sich an diesem Fonds beteiligen wollen. Die Stadt hat 20 Millionen Euro vorgesehen, Private werden ebenfalls in dieser Größenordnung mitwirken.

Wie erfolgt die Auswahl?
Wir haben eine Liste mit acht bis zehn Betrieben, die in Frage kommen. Wir wollen sicherstellen, dass das investierte Geld den Betrieben hilft, und wir nicht Geld nachwerfen, wo sich ein Konkurs abzeichnet.

Ist das für Stadt und private Investoren ein gewinnbringendes Engagement?
Im Idealfall, ja. Aber das steht nicht im Vordergrund. Wir wollen diese Unternehmen zunächst einmal retten.

»Mich hat gewundert, dass doch sehr renommierte Unternehmen offensichtlich eine so dünne Kapitaldecke haben«

Sind da auch bekannte Unternehmen dabei?
Ja. Mich hat gewundert, dass doch sehr renommierte Unternehmen offensichtlich eine so dünne Kapitaldecke haben, dass sie bereits nach zwei kritischen Monaten in schwere Bedrängnis kommen.

Schlecht gewirtschaftet?
Die Erwartung in vielen Unternehmen war einfach, dass es so weitergeht, wie in den letzten Jahren. Wir hatten ja eine Aufschwungphase, wie schon lange nicht. Die internationale Finanz-und Wirtschaftskrise (2008) haben wir als Stadt Wien sehr gut überstanden. Daher war man verführt, das Gefühl zu haben, es geht so weiter.

In Wien sind rund 150.000 Menschen arbeitslos. Welches Angebot gibt es für sie?
Ich habe da zwei Personengruppen besonders im Auge. Zum einen die ganz Jungen. Wir werden daher die Lehrlinge der Stadt Wien von 150 auf 300 verdoppeln. Und wir werden alle Unternehmen der Stadt Wien auffordern, zusätzliche Lehrlinge einzustellen. Parallel dazu wird es auch ein Angebot für private Unternehmen geben, und wir bieten verstärkt überbetriebliche Lehrwerkstätten an. Wir starten einen eigenen "Corona-Lehrlingsausbildungsverbund". Das heißt: Wenn Ausbildungsbetriebe auf Grund von Corona in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind und die Lehrausbildung nicht aufrechterhalten können, springen wir als Stadt ein: Wir vermitteln die Lehrlinge für vier Monate in die Schulungseinrichtungen der Überbetrieblichen Lehrausbildung, und die Stadt übernimmt die Lehrentschädigung. Eine weitere Gruppe, die mir am Herzen liegt -das war schon vor Corona so - sind die über 50-Jährigen. Mit der Joboffensive 50+ unterstützen wir ältere Langzeitarbeitslose, die ansonsten kaum Chancen haben, wieder in Beschäftigung zu kommen. Diese Aktion setzen wir mit 1.000 neuen Plätzen fort. 13,3 Millionen Euro werden dafür bereitgestellt.

Viele Menschen machen sich Sorgen vor dem Winter - dass sie ihre Wohnung nicht heizen können.
Daher versteh ich ja nicht, dass es immer noch politische Gruppen gibt, die viel Energie darauf verwenden, die bedarfsorientierte Mindestsicherung zu reduzieren. Wenn man die Lebensgeschichte solcher Menschen kennt, die monatlich mit deutlich weniger als 1.000 Euro auskommen müssen, bekommt man einen besonderen Respekt vor solchen sozialen Auffangnetzen. Gerade jetzt wird sich die Sichtweise in Teilen der Bevölkerung verändern. Jetzt merken viele, wie schnell man unverschuldet in eine solche Situation kommen kann und wie wichtig Sicherungssysteme sind. Auch für Familien -für uns ist jedes Kind gleich viel wert. Wir haben daher auch immer alle Vorschläge der Bundesregierung, eine Staffelung bei der Kinderförderung vorzunehmen, abgelehnt. Da stehen wir in der Tradition Bruno Kreiskys.

Die Corona-Sonderzahlung an Familien werden gestaffelt, wenn die Kinder im Ausland leben. Wundert Sie, dass die Grünen das auf Bundesebene mittragen?
Wir wundern uns in vielen Fragen. Aber, die Grünen müssen mit sich selbst ausmachen, was sie bereit sind, mitzumachen. Ich will mir gar nicht vorstellen, welches Echo es ausgelöst hätte, wenn die SPÖ auf Bundesebene solche Entscheidungen mittragen würde. Und, was wir da von einer grünen Opposition zu hören bekommen würden.

Von der roten Opposition hört man weniger. Hat sie das Stichwort verpasst?
Nein, aber wir stehen für seriöse Diskussionen.

In Wien hat die Schule begonnen. Können Sie ausschließen, dass wir schon bald wieder mit unseren Kindern am Küchentisch beim Homeschooling und Homeoffice sitzen?
Ausschließen kann ich gar nichts. Aber wir werden alles tun, damit das nicht eintritt. Mir ist bewusst, dass das für viele Frauen eine Mehrfachbelastung war. Ich habe immer vor einer zu starken Glorifizierung des Homeoffices gewarnt. Es gibt bei manchen politischen Entscheidungsträgern das unrealistische Bild, dass man die Tätigkeit zuhause mit Haushalt und Kindererziehung vereinbaren kann - und das vielleicht unter eingeschränkten Wohnverhältnissen. Daher sehe ich Vorschläge, was die Flexibilisierung des Homeoffices betrifft, mit großer Sorge. Da sind Gewerkschaft und Arbeiterkammer gut beraten, genau hinzuschauen, sonst werden Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausgehebelt, wie es vor einigen Jahren undenkbar gewesen wäre.

»Es kann nicht sein, dass, wenn ein Kind rotzt, gleich die ganze Schule oder der Kindergarten schließt«

Könnte Wien sagen: "Wir lassen Schulen offen"?
Es kann nicht sein, dass, wenn ein Kind rotzt, gleich die ganze Schule oder der Kindergarten schließt. Ich halte nichts von Heilsversprechen und nichts von Angstrhethorik, wie das die Bundesregierung abwechselnd praktiziert. Wir in Wien agieren wissensbasiert. Vielleicht weniger spektakulär, weniger PR, weniger Pressekonferenzen - dafür mit mehr Ergebnissen.

Aber es gibt keine Pläne im Fall von Schulschließungen?
Wir waren ohnehin die Ersten, die auch Laptops für die Kinder organisiert haben und nicht nur darüber gesprochen haben. Prinzipiell merken wir natürlich, dass, auch wenn die Eltern engagiert sind, sie im Regelfall gar keine Zeit haben, weil sie selbst berufstätig sind. Schule ist schwer zu ersetzen, man hat die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer in dieser Zeit besonders zu schätzen gelernt. Man lernt ja in der Schule vieles, das man im Laufe des Lebens wieder vergisst, aber man lernt vor allem soziale Interaktion, und das ist für die meisten Menschen noch wichtiger. Wir haben in Wien einen sozialpsychologischen Krisenstab gebildet und merken, welche gruppendynamischen, sozialen Phänomene die Coronakrise mit sich bringt. Das war bei den älteren Menschen spürbar, aber auch im Zusammenleben der jüngeren Generation.

Viele jungen Menschen treffen sich am Donaukanal. Da wird den Wienern sogar vorgeworfen, es gebe einen Corona-Hotspot. Ist der Donaukanal ein notwendiger Ort, um soziale Interaktion zu ermöglichen?
Wenn die Nachtgastronomie geschlossen hat, junge Menschen sich aber trotzdem treffen wollen, muss sich das irgendwo ereignen. Zudem treffen sich dort nicht nur Jugendliche aus Wien, da sind auch viele aus anderen Bundesländern unterwegs, und das ist ja auch gut so. Da Wien anzuprangern, erscheint mir merkwürdig, ist aber die generelle Linie der Bundesregierung: dieses Wien-Bashing. Wir stehen dazu, dass wir uns mit den jungen Menschen beschäftigen. Zu twittern, "Reißt euch zusammen", ist ein bissel wenig. Im Übrigen: Wenn die Bundesregierung meint, es wäre notwendig, Corona-bedingt einzugreifen, müsste sie eben die entsprechenden Gesetze erlassen und die Polizei, die dem Innenminister untersteht, müsste entsprechend agieren.

Noch einmal an die Schulen: Vor allem in älteren Gebäuden sind die Platzverhältnisse beschränkt. In anderen Ländern werden Kinosäle gemietet, um die Raumsituation zu entschärfen.
Insgesamt ist die Situation an den Schulen eine sehr gute. Aber das ist auch ein Grund, warum ich großen Wert darauf lege, dass wir den nächsten Schritt im Bildungssystem tun. Wir waren in Wien die Ersten - und sind immer noch die Einzigen -, die den kostenfreien Kindergarten eingeführt haben. Nun startet die kostenfreie Ganztagsschule an 70 Standorten. Dort gibt es durch die Verschränkung von Unterricht und Freizeit auch die Möglichkeit, die Raumsituation zu entschärfen.

Kostenfreiheit ist schön, aber es gibt nicht überall solche Ganztagsschulen. Wäre es nicht besser, zuerst deren Ausbau zu forcieren?
Wir wollen pro Jahr zehn weitere Schulen. Das ist eine Kostenfrage, aber nicht nur: Man muss auch die Lehrerinnen und Lehrer dazu motivieren.

Es sind auch nicht alle Eltern dafür
Richtig, und ich will ja nichts zwangsweise machen. Aber ich bin sicher, wenn es funktioniert, wird das Vorbildwirkung haben. Es wird ja einen Grund haben, warum viele, die viel Geld haben, ihre Kinder in Internate und private Ganztagsschulen schicken und immer verhindern wollen, dass das für andere Schichten möglich ist.

Die SPÖ steht in den Wahlumfragen sehr gut da. Die ÖVP prophezeit Ihnen eine absolute Mehrheit.
Und sich selbst sieht sie nur noch geringfügig über dem letzten Ergebnis. Die ÖVP ist ja mittlerweile froh, wenn sie über zehn Prozent kommt. (Lacht.)

Bei zehn Prozent für die ÖVP wären Sie aber auch froh.
Ich glaub aber nicht alles, was gesagt wird.

Macht es die Mobilisierung für die SPÖ schwieriger, wenn das Wahlziel schon erreicht scheint?
Mein Ziel war immer, dass wir das sehr gute Ergebnis meines Amtsvorgängers Michael Häupl von 2015 -39,5 Prozent -erreichen. In den Umfragen, die mir vorliegen, sind wir davon noch entfernt.

»"Mit dieser türkisen Schnöseltruppe keine Koalition" - und was haben wir jetzt auf Bundesebene? Also, ich bin da sehr alarmiert.«

Die SPÖ malt das "Gespenst" einer türkis-grün-pinken Koalition an die Wand. Nur glaubt das kaum jemand
Ich halte das für eine durchaus realistische Variante. Dass andere Parteien das in Abrede stellen, um die SPÖ-Wähler zu demotivieren, ist ja klar. Aber es gab ja Äußerungen im Vorfeld, die Gegenteiliges beweisen. Den Neos etwa war es wichtig, einen SPÖ-Bürgermeister zu verhindern. Und ich kann mich noch gut an die Aussage eines doch sehr wichtigen Grünen am Wahlabend erinnern: "Mit dieser türkisen Schnöseltruppe keine Koalition" - und was haben wir jetzt auf Bundesebene? Also, ich bin da sehr alarmiert.

ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel sagt, er kommt nur, wenn er mitregiert. Darf er sich Hoffnung machen?
Wir kennen das ja in Wien. Ich will nur daran erinnern, dass auch Strache dreimal Wiener Bürgermeister werden wollte und dann sofort wieder in die Bundespolitik entschwunden ist. Ich würde es richtig finden, dass sich die Personen um ein politisches Amt in Wien bewerben, die dann auch die Absicht haben, in der Wiener Kommunalpolitik tätig zu sein. Außerdem, wenn man nur kommen möchte, wenn man in der Stadtregierung ist: Man ist auch als "nicht amtsführender Stadtrat", also auch dann, wenn man nicht in einer Koalition dabei ist, Teil der Stadtregierung.

Was Blümel wohl nicht gemeint hat, als er gesagt hat, man könne in Wien mit Nichtstun mehr verdienen als in den Bundesländern.
(Lacht) Ich weiß nicht, ob das seine Perspektive sein wird. Aktuellen Umfragen zufolge hätte die ÖVP sogar mehr als einen nicht amtsführenden Stadtrat.

Die ÖVP würde Ihnen als Feindbild abhandenkommen, wenn Sie mit ihr in eine Koalition gehen.
Ich habe keine Feindbilder, auch nicht den Bund. Ich merke nur, dass wir in Wien immer als Feindbild herangezogen werden. Das ärgert mich, weil wir in der Coronakrise sehr loyal der Bundesregierung gegenüber waren. Es wäre uns viel aufgefallen, was man hätte anders machen können oder wo die Bundesregierung eindeutig Fehler gemacht hat. Wir haben das nicht gesagt, weil ich meine, in einer schwierigen Situation soll man nicht die Bevölkerung durch Hickhack irritieren. Umso enttäuschter war ich, dass ab dem Zeitpunkt, wo eine Entspannung in Sicht war, Teile der Bundesregierung sofort wieder dieses Wien-Bashing betrieben haben. Eigentlich müsste die Regierung Interesse daran haben, Wien zu unterstützen. Damit stärkt sie ja Österreich insgesamt. Dass wir ständig als Prügelknabe herhalten müssen, verstehe ich nicht. Ich eigne mich auch nicht als Opfer. Wenn Wien angegriffen wird, muss ich die Bevölkerung verteidigen.

Ein Wahlkampfthema der ÖVP ist der Bezirk Favoriten, wo es Unruhen zwischen Kurden und türkischen Ultranationalisten gab.
In jeder Großstadt gibt es eine andere Situation als in kleineren Gemeinden. Aber in dem Zusammenhang ist mir eines nicht ganz klar: Wenn die Integrationsministerin davon spricht, dass hier die Integrationspolitik gescheitert ist, wohin wendet sich diese Kritik - an ihren Amtsvorgänger?(Sebastian Kurz, Anm.) Wien ist das einzige Bundesland, das keine Außengrenze hat, wir sind weder für die Zuwanderungsnoch für die Asylpolitik zuständig. Das ist Sache des Bundes. Da fragt man sich immer, warum jemand auf die Idee kommt, Wien zu kritisieren. Ich würde mir einen inhaltlichen Diskurs wünschen, nicht dass man Feindbilder aufbaut, um Parteipolitik zu machen.

»Man tut dem zehnten Bezirk unrecht«

In Dänemark gibt es Pläne, die Leute aus problematischen Stadtvierteln abzusiedeln und neu zu verteilen.
Bei solchen Demos wie in Favoriten hat das Innenministerium ja selber festgestellt, es waren Menschen aus 23 Nationen beteiligt. Das waren nicht alles Favoritner, da kommen Menschen aus ganz Österreich. Auch zur Demo der Coronaleugner in Berlin sind die Teilnehmer aus ganz Deutschland angekarrt worden, leider waren auch österreichische Rechtsextreme dabei. Also: Man tut dem zehnten Bezirk unrecht. Und man muss bedenken: Die Bevölkerung sind hundert Prozent. Man kann die innerhalb der Stadt anders verteilen. Aber es bleiben doch immer dieselben hundert Prozent. Ich bin auch für eine soziale und funktionale Durchmischung der Stadt. Aber man muss wissen, welche Möglichkeiten man in der Politik hat und welche nicht.

Im Wiener Gemeinderat haben SPÖ, Grüne und Neos die Aufnahme von Flüchtlingskindern aus Moria beschlossen. Kommen die überhaupt, wenn sich der Bund querlegt? Nein. Also eine Alibiaktion?
Nein, es wurde immer verlangt, dass der Landtag Stellung nimmt, um Druck auf die Bundesregierung auszuüben.

Die Grünen stimmen in Wien für die Aufnahme, auf Bundesebene tragen sie das Gegenteil mit. Sind sie in Wien auch so pflegeleicht?
Ich habe nicht den Eindruck, dass die Grünen in Wien pflegeleicht sind. Wir haben den Grünen auf Augenhöhe die Möglichkeit gegeben, mit uns gemeinsam Vorstellungen umzusetzen. Dass sie gravierende Themen auf Bundesebene nicht durchsetzen, müssen sie sich dort mit dem Koalitionspartner ausmachen. Für mich persönlich ist da einiges nicht nachvollziehbar.

Man hatte zuletzt den Eindruck, Sie seien von den Grünen ein bissel genervt.
Ich hab den Eindruck, je näher der Wahltermin rückt, desto nervöser werden manche Parteien. Ich halte nicht viel von Aktionismus. Grundsätzliche Fragen wie eine autofreie Innenstadt muss man seriös vorbereiten.

In Paris gewinnt man Wahlen, wenn man den Autoverkehr eindämmt.
Paris ist für mich kein Vorbild. Paris hat von uns gelernt. Ich lebe in der Realität, und nicht in Wunschvorstellungen. Ich habe nichts davon, wenn ich sage, es gibt eine autofreie Innenstadt, und am Ende ist das Modell, das umgesetzt werden sollte, gar keine autofreie Innenstadt.

»Wir brauchen uns nicht erklären zu lassen, was Verkehrsberuhigung ist.«

Ist die SPÖ doch ein bissel eine Autofahrerpartei, weil das in den Flächenbezirken besser ankommt?
Nein. Lange, bevor es die Grünen überhaupt gegeben hat, haben wir schon die ersten Fußgängerzonen eingeführt. Wir brauchen uns nicht erklären zu lassen, was Verkehrsberuhigung ist.

Sie sind ein ganzes Interview lang ohne den Hinweis ausgekommen, dass Wien zur lebenswertesten Stadt gekürt wurde.
Das hat sich inzwischen herumgesprochen. Sie sagen nie, dass Wien zur unfreundlichsten Stadt gekürt wird.

Sind Sie ein Grantler?
Nein, gar nicht. Ich bin ein sehr optimistischer Mensch. Das gilt auch für die Wienerinnen und Wiener. Vielleicht liegt es auch daran, dass manche Besucher unseren Schmäh nicht verstehen. (Lacht.)

Oder ist die Rolle des Grantlers in der Stadtregierung eh schon mit Peter Hacker besetzt?
(Lacht.) Nein, das ist ein sehr humorvoller, kompetenter und wirkungsvoller Politiker.

Was wird das Ergebnis der Wien-Wahl für Pamela Rendi-Wagner heißen?
Sie wird das Ergebnis sicher mit großem Interesse verfolgen. Wir haben ein ausgesprochen gutes Einvernehmen. Sie war auch bei Wahlauftakt dabei.

Wer außer Hans Peter Doskozil führt die Obfrau-Debatte?
Ich sehe keine Notwendigkeit für eine solche Debatte. Die Vorsitzende ist mit großer Zustimmung beim Parteitag gewählt worden, sie wollte noch eine weitere Zustimmung von den Mitgliedern, die ich nicht einmal für nötig erachtet hätte, und hat großes Vertrauen bekommen. Daher kein Grund zur Debatte.

Verstehen Sie immer, was Doskozil antreibt?
Ich bin mit ihm persönlich befreundet und schätze ihn sehr. Wenn wir mal anderer Meinung sind, klären wir das vertrauensvoll unter vier Augen.

Dieses Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (37/2020) erschienen!