Die Ernährung ist die Säule unseres Seins
Jedem interessierten Menschen in Mitteleuropa müsste angst und bange werden, wenn wir uns den Zukunftsaussichten unserer Spezies zuwenden. Ob es nun um Biodiversität oder das Klima, um Ressourcenvernichtung und Arbeitsbedingungen im globalen Süden geht, um Wasser-, Licht- und Luftverschmutzung und Bodenerosion, um nicht übertragbare Krankheiten, die explodieren und Seuchen, die auch auf unserem Umgang mit der Natur zurückzuführen sind. Die letzten 60 Jahre in den Industrienationen haben nicht nur den Wohlstand befördert, sondern ebenso eine Kaskade von Herausforderungen ausgelöst und provoziert, die das menschliche Leben auf diesem Planeten sehr schnell zu einer misslichen Existenz zwingen kann und wird, wenn wir nicht noch entschieden das Ruder herumreißen.
Lesen Sie hier: Sarah Wiener im Interview über ihr Ankommen in der Brüsseler Politik und ihren Kampf für artgerechtere Putenhaltung in Europa.

Als Köchin, EU-Abgeordnete, Imkerin, Stiftungsgründerin, dessen Zweck es ist, Kindern Kochen beizubringen, dreht sich mein gesamtes Leben um Lebensmittel und Ernährung. Wer gute Lebensmittel liebt, wird dabei schnell auf die Landwirtschaft stoßen und damit die vielschichtigen und komplexen Zusammenhänge zwischen Boden, Pflanzen, Tier und Menschengesundheit. Parallelitäten zwischen Natur und uns selbst werden dabei klar. Man könnte vereinfacht sagen: So wie wir „lebendig“ und vielfältig essen müssen, um gesund zu bleiben, kann nur ein belebter Boden fruchtbar bleiben und seine zahlreichen Aufgaben zu bewerkstelligen, wie Wasserhaltung und Reinigung, Humusaufbau, Nährstoffversorgung aller Pflanzen und nicht zuletzt als Folge davon, die Kohlenstoffeinlagerung.
So schädlich es hinter diesem Hintergrund ist, schwerstverarbeitete Nahrungsmittel mit zahlreichen Zusatzstoffen zu konsumieren, so unsinnig ist es auch, synthetischen Mineraldünger auf Bodenmikroben zu kippen und monokulturellen Hochleistungspflanzen mit Pestizidduschen das Überleben erleichtern zu wollen. Das Ergebnis liegt klar vor uns und wird von niemandem ernsthaft bestritten werden wollen. Auf der einen Seite: Adipositas, Altersdiabetes bei Kindern und zahlreiche nicht übertragbare Krankheiten, wie Darmerkrankungen, ADHS, Parkinson usw... Auf der anderen Seite: Bodenerosion, Verdichtung, der Verlust auf Dürre und Extremregen adäquat reagieren zu können, die Abschaffung von Vielfalt über und unter der Erde und demzufolge auch das Sinken an Humusgehalt, an fruchtbaren Boden.
Mehr Künstlichkeit, mehr Zucker und Salz
Anstatt nun aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen konsequente Schlussfolgerungen zu ziehen, versuchen wir weniger vom Schlechten umzusetzen, damit im Grunde alles so bleiben kann, wie es ist. Das heißt wir wollen gezielter Pestizide spritzen, gezielter synthetischen Dünger einsetzen, Samen und Tiere so manipulieren, dass sie sich unseren Wünschen fügen. Dabei ist „uns“ der falsche Begriff. Denn „wir“ haben nicht darum gebeten, mehr Künstlichkeit, mehr Zucker und Salz in unseren Nahrungsmitteln vorzufinden, wir haben nicht für eine Preisschlacht um drei Cent billigere Milch gefochten und wir haben damals auch gut und gern mit Genuss das ganze Tier gegessen und das auch nicht jeden Tag.

Buch "Gerichte, die die Welt veränderten" von Sarah Wiener
Verlag edition a
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
ISBN: 978-3-99001-279-6
Preis: 24,90 €
Aktuell sind es nicht die Bauern sondern die darin agierenden Wirtschaftszweige, die an der Landwirtschaft verdienen: die Pestizid- und Pharmaindustrie, die Landmaschinenhersteller, die Züchtungskonzerne mit ihren Patenten und Anforderungen, die Raiffeisenbanken, die gerne Kredite für effizienteres Landwirtschaften verteilen und das politische System mit seinem verwebten Lobbyismus, welches den Status quo so lang wie möglich aufrecht erhalten will und sich an sogenannten Experten orientiert, welche oft genug mit viel Angst, Irreführung und Falschaussagen arbeitet.
Die agroindustrielle Landwirtschaft hat in jeder Hinsicht versagt, auch wenn wir für einen Wimpernschlag der Geschichte meinten, wir wären klüger als die Natur und uns am steten Wachstum erfreuen konnten. Solange bis aus dem Wachstum eine Wucherung wurde, dessen Folgen wir mit einem „weiter so“ nicht in den Griff kriegen. Wir dürfen nun nicht den Fehler begehen, das Heil in ökologischen agroindustriellen Strukturen zu suchen, welche sicherlich um ein Vielfaches besser sind als die konventionelle Agroindustrie. 100.000 Hennen in einem Stall einzupferchen ist bestialisch. 3.000 Hennen mit mehr Platz sind zwar eindeutig das bessere Modell, aber wesensgemäß und nachhaltig ist dies auch nicht. Bio als Schlagwort allein wird die Welt nicht retten, denn zwischen dem EU-Biolabel und einem Demeter- oder Biolandlabel sind nochmal drei Kilometer Entfernung. Aufgeklärte Mitbürger müssen sich nur die Anzahl und Inhaltslisten von Zusatzstoffen zwischen konventionell verarbeiteten Nahrungsmitteln und jenen verschiedener Ökoverbände ansehen, um die breite Spanne der Möglichkeiten zu ermessen.
Auch interessant: Massentierhaltung - auch das kann Bio sein
Solange wir das Falsche subventionieren und damit fördern, dürfen wir nicht auf die Vernunft und das Engagement Einzelner hoffen. Wir werden dieses System nicht durch Korrekturen ändern, sondern nur durch eine allumfassende Transformation zum Guten, Nachhaltigen und Vielfältigen hin. Das Wissen ist vorhanden, ebenso zahlreiche Ideen, Vorschläge und Leuchtturmprojekte, die zeigen, wie es gehen kann. Dabei ist wichtig, nicht zu vergessen, dass es die eine Lösung nicht geben wird, sondern je nach Lage, Ort und Anforderungen unterschiedliche Möglichkeiten, die man nicht normieren wird können. Wir müssen die Naturgesetzte respektieren und mit weiten Fruchtfolgen, mit Untersaaten, Zwischenfrüchten, mit Agroforstsystemen und Permakulturen arbeiten, je nachdem wie der Boden, die Topografie und das Klima bestellt sind. Wir können nur so viele Tiere halten, wie wir auf unserem Boden wesensgemäßes Futter für sie haben. Wenn wir nicht konsequent alles was Klima, Biodiversität und Ressourcen, die ebenso unsere eigene Lebensgrundlage ausmachen, schützen und vor weiterer Beschädigung bewahren, werden wir in nächster Zukunft keine Chance mehr auf Korrektur haben.
Was wir brauchen ...
Was wir darüber hinaus brauchen, ist: Landwirt/innen den Umstieg durch monetäre Subventionslenkung Hilfestellung ermöglichen (public good for public money). Unabhängige interdisziplinäre und partnerschaftliche Lehre, Wissenstransfer und Forschung. Weniger Bürokratie und weniger Steine für mehr regionale kleinstrukturierte Experimente. Förderung nach echten Nachhaltigkeitskriterien und nicht nur einzelner Glieder daraus. Die Anerkennung, dass Samen, Sorten und Rassen unser aller Weltenerbe sind und es auf Lebendiges, sowie auf Wasser keine Patente geben darf und kann. Die gesetzliche Verfolgung und Bestrafung nach dem Verursacherprinzip für Konzerne und Privatunternehmen, die Tiere, Menschen und Pflanzen Schaden zufügen und die Biodiversität beeinträchtigen. Das europäische Vorsorgeprinzip konsequent umsetzen. Gleichheit der Waffen zwischen industriellen Lobbyisten und Bürgerbewegungen und NGOs. Und nicht zu guter Letzt: kostenlose Kochkurse für alle, vom Kindergartenkind bis zum Rentner. Wer selbst kocht, dem kann man nichts vormachen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. News.at macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.