Sarah Wiener: "Ich bin
eine Grenzgängerin"

Die grüne EU-Abgeordnete Sarah Wiener über ihr Ankommen in der Brüsseler Politik und ihren Kampf für artgerechtere Putenhaltung in Europa.

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eine Grenzgängerin" © Bild: News/Herrgott

Vor einigen Wochen mussten Ihre Restaurants und Ihr Catering-Service Insolvenz anmelden. Wie geht es Ihnen jetzt?
Gut. Das Leben besteht aus Abschiednehmen und Loslassen. Corona hat sehr vielen Leuten vieles abverlangt und wird es weiterhin tun. Ich denke, dass die Entscheidung für uns richtig war. Das Gute war, dass meine Mitarbeiter eines der Restaurants übernommen haben, das wird sicher Erfolg haben. Das andere musste komplett schließen. Ich habe getrauert. Ich blicke nach vorn. Ich halte mich meistens mit Niederlagen nicht besonders lange auf.

Sie sind nicht die Einzige, die unter der Corona-Krise wirtschaftlich zu leiden hat. Haben Sie einen Ratschlag, wie man solche Rückschläge verarbeiten kann?
Das ist nicht mein erster Rückschlag und nicht die erste Pleite, die ich hingelegt habe. Aber der Spaß am Unternehmertum besteht ja darin, etwas zu unternehmen. Und dann darf man auch keine Angst davor haben, zu scheitern oder dass etwas nicht klappt. Ich sehe das gar nicht so negativ, wie alle sagen. Ich sehe es auch nicht als Makel. Ich finde, es gehört zum Leben dazu, dass manches funktioniert und anderes nicht. Am Ende darf man seinen roten Faden nicht aus den Augen verlieren. Ich finde, ich wäre gescheitert, wenn ich meine Werte für finanzielle Vorzüge aufgegeben hätte oder mich nicht mehr politisch engagieren möchte. Wenn ich frustriert wäre und die Energie verlieren würde. Das wäre eine größere Demütigung, als wegen Corona meine Restaurants zusperren zu müssen.

Wie passt eine schillernde, bunte Figur wie Sie eigentlich in das Grau der Brüsseler Bürokratie?
Das frage ich mich auch. Aber offensichtlich geht es ja ganz gut.

»Es war ein Geschenk des Zufalls, in die Politik zu gehen«

War es ein Kulturschock?
Ja. Das war natürlich ein Kulturschock. Ein anderes Land, eine andere Sprache, andere Berufsgruppen, fremde Menschen, eine Stadt -obwohl ich gerade freiwillig, mit Bedacht und mit Lust aufs Land gezogen war. Das stand alles so nicht auf meiner Agenda. Aber was sehr wohl auf meiner Agenda stand, war, mich mehr für eine Ernährungswende und eine nachhaltige Landwirtschaft einzusetzen. Das habe ich auch schon vorher gemacht. Insofern war es dann trotz alledem ein Geschenk des Zufalls, in die Politik zu gehen und anders für meine Anliegen zu kämpfen als davor. Es läuft jetzt ein bisschen anders, und es ist extrem mühsam und kraftzehrend, weil ich ja Politik erst lernen muss.

Worin besteht der größte Unterschied?
Es ist eine Sache, nur zu sagen: "Ich bin dagegen, es ist alles Mist, wir müssen etwas ändern." Jetzt muss ich sagen: "Wie können wir es ändern?" Leider ist es so, dass ich den Eindruck habe, dass die Gesellschaft auf meiner Seite steht und sagt, wir müssen etwas ändern. Und dann gehst du ins Parlament und merkst, da sind Tausende von Lobbyisten, die einfach nur das Interesse haben, ihre Pfründe und den Status quo weiter zu schützen und zu verteidigen.

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Man braucht also viel Ausdauer, viel Geduld und muss sehr konsequent an seinen Anliegen festhalten?
Selbst das reicht nicht. Man braucht die Mehrheit. Nicht nur die Mehrheit im Parlament, sondern die Mehrheit unter den Mitgliedsstaaten, und man braucht die Kommission und die Experten, die dann den Gesetzesvorschlag machen. Es ist sehr, sehr komplex und es reden sehr viele mit. Und trotzdem wissen wir ja alle, dass etwas passieren muss. Wenn es schwammig bleibt, sagen alle: "Ja, eh, wir müssen was für die Biodiversität und für die Natur machen." Aber wenn es dann konkret wird, wenn man sagt: "Seien wir mutig, transformieren wir uns zu etwas Besserem, etwas Nachhaltigem und Zukunftsfähigem", sagen doch so gut wie alle Konservativen und auch viele Liberale und manche von den Sozialisten Nö.

Sind Sie desillusioniert?
Nein, ich bin ja nicht die Erste, die das erlebt. Im Prinzip weiß das ja jeder und man kann es sich auch ausrechnen.

Stimmt was an unserem politischen System nicht?
Ich weiß kein besseres als die Demokratie. Was ich begrüßen würde, wäre Waffengleichheit. In ökologische Forschung fließen nur ein bis zwei Prozent des gesamten Forschungsbudgets. Die Chemieindustrie in Brüssel legt jedes Jahr zehn Millionen für Lobbying auf den Tisch. Ich würde mir gleiche Chancen für NGOs, unabhängige Wissenschaftler und unabhängige Studien wünschen. Wenn die Aufmerksamkeit und die Ressourcen fairer verteilt wären, hätten wir morgen eine andere Wirtschaft und eine andere Landwirtschaft.

Sie beschäftigen sich derzeit intensiv mit dem Thema Putenhaltung. Warum?
An der Pute sieht man sehr gut, was alles falsch läuft. Sie ist das drittmeistgeschlachtete Nutztier in der ganzen EU. Jedes Jahr unvorstellbare 190 Millionen Puten. Es gibt in der ganzen EU kaum Mindeststandards in der Putenhaltung -und in Österreich haben wir die höchsten. Die sollten wir für die ganze EU fordern, weil sie bis dato die besten sind. Es gibt nur zwei Zuchtbetriebe weltweit, die überhaupt Puten züchten, und davon werden alle beliefert. Die Pute ist völlig überzüchtet. Alle denken, Putenbrust ist toll und gesund. Als Köchin muss ich Ihnen sagen, es gibt kaum etwas Faderes, Trockeneres und Geschmackloseres als Putenbrust aus der Massentierhaltung. Dadurch, dass jeder nur die Putenbrust möchte, werden die Tiere entsprechend gezüchtet. Das hat dann zur Folge, dass diese armen Puten deformiert aufwachsen, Fußprobleme haben, auch Gelenkprobleme. Vor einigen Jahren noch sind viele Puten tot zusammengebrochen, nicht wegen Herz-Kreislauf, sondern weil das Skelett eingebrochen ist. Die Brust ist schneller gewachsen als das Skelett. Ein Wahnsinn.

»Es gibt bessere Haltungsformen als konventionelle Putenhaltung, auch in Österreich«

Was muss passieren?
Zumindest müssen wir die in Österreich geltenden Mindeststandards europaweit implementieren. Es gibt bessere Haltungsformen als konventionelle Putenhaltung, auch in Österreich. Wenn man zum Beispiel sieht wie Biowaldputen leben. Aber wir können uns hoffentlich darauf einigen, dass Europa einheitliche Vorgaben für die Putenhaltung braucht, die besser sind als anderswo.

Konsumenten sollten also darauf achten, österreichisches Putenfleisch zu kaufen?
Zum einen sollten wir wieder das ganze Tier essen. Sarah sagt euch: Die Keule ist viel saftiger. Und das Zweite ist, natürlich ist es eine Win-win-Situation, wenn wir das eigene Land stärken -aber die Standards in Österreich sind tatsächlich besser. Ich selbst esse nur Biofleisch und betreibe mit Partnern auch eine eigene Schlachterei. Luft nach oben ist immer.

Haben Sie das Gefühl, dass die Grünen und grüne Ideen unter der Corona-Krise besonders leiden, weil alle Aufmerksamkeit auf die Pandemiebekämpfung gerichtet ist?
Alle sind mit Corona beschäftigt, was verständlich ist, aber das macht ja die Klimakrise, soziale Probleme, Tierschutzprobleme oder das Problem fruchtbarer Böden in der Landwirtschaft nicht nichtig. Ganz im Gegenteil. In zehn Tagen wird über die gemeinsame Agrarpolitik in Europa abgestimmt, die wichtigste Abstimmung für die nächsten zehn Jahre in Europa, und es wird kaum thematisiert.

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Warum wird die EU in den Mitgliedsstaaten so wenig wahrgenommen?
Vieles lässt sich nicht gut erzählen. Und viele Journalisten interessieren sich auch mehr für ihre eigene Blase. Da geht es dann um Wien und am besten um den dritten Bezirk, oder was der oder der im Rathaus gesagt hat Brüssel ist weiter weg. Vieles ist komplex und nicht so schnell zu erzählen. Aber was jeder versteht: Aus Brüssel kommen die Subventionen. Großteils wird im Bereich der Landwirtschaft halt leider das Falsche subventioniert, nämlich Fläche und nicht das Gute, Nachhaltige. Damit werden bestimmte Systeme zementiert, wo kleinere Betriebe einen Wettbewerbsnachteil haben. Großen Betrieben wird viel gegeben, also werden sie noch größer. Seit 30 Jahren verschwinden die Bauern. Da, wo ich lebe, gab es 1990 noch eine Million Bauern, jetzt sind es nur mehr 130.000. Es ist unfassbar, was da an Vielfalt, an Wissen und Erfahrung verloren geht. Und daran ist auch die europäische Agrarpolitik schuld. Es gibt viele hoch spannende Themen, die oft in den Medien zu wenig vorkommen.

Sind Sie selbst ein Teil der Brüsseler Blase geworden?
Was ist die Brüsseler Blase?

»Ich bin ein Grenzgänger. Und ich will das auch nicht ändern«

Eine kleine Welt, die sich selbst genug zu sein scheint.
Ich bin ein Grenzgänger. Und ich will das auch nicht ändern. Schon qua meiner DNA. Natürlich werde ich von dem einen oder anderen Politiker misstrauisch beäugt, weil ich die Rituale nicht kenne, weil ich eine andere Sprache und eine andere Vorgehensweise habe, weil ich Fragen stelle, wo andere sagen, so macht man das nicht. Ich bin ja nicht Politikerin geworden, um nur eine gute Politikerin zu sein. Ich möchte etwas bewegen. Ich habe einen ganz klaren Auftrag und ganz enge Themen, die mich beschäftigen. Ich sehe mich als Verlängerung von vielen aus der Gesellschaft, die sagen: "Geh hin, kämpfe, du bist dafür gewählt worden."

Mit einem gewissen Misstrauen gegenüber dem Politikerberuf?
Ich finde, man tut dem Beruf oft unrecht. Von außen schaut das nach einer ganz schönen Deformation aus. Aber es ist klar: Einerseits sollst du so kommunizieren, dass du niemandem wehtust, du solltest keine Emotionen haben, du solltest sachlich bleiben, du musst diplomatisch sein, du willst dich aber auch abheben. Wenn du aber wirklich etwas sagst, das anders ist, kriegst du sofort eine Watschen. Du solltest so kommunizieren, dass es die Leute verstehen, bist aber permanent mit irgendwelchen Texten beschäftigt, die kein Schwein versteht. Das macht ja auch etwas mit den Menschen, ob sie wollen oder nicht. Die allermeisten sind ja aus Idealismus Politikerin oder Politiker geworden. Und entweder du adaptierst dich und lernst die Sprache und die Rituale, oder du wirst als aktiver Politiker nicht viel Erfolg haben.

Sie mussten auch lernen?
Ich lerne noch.

Geht es nicht anders?
Wenn du Erfolg haben willst in der Politik und nicht nur Aktivistin sein willst, gibt es verschiedene Wege. Es gibt sehr viele verschiedene Typen von Politikern. Die Verhandler, die Charismatiker, die eifrigen und tapferen Zuarbeiter, die Sachpolitiker, die Nach-außen-Verbinder und die Nach-innen-Verbinder

Was sind Sie für ein Typ?
Das überlasse ich Ihnen.

Offenbar zum Teil eine Nach-innen-Verbinderin. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat verraten, dass sie von Ihnen mit frischem Brot versorgt wird. Fahren Sie jede Woche mit Essenskörben nach Brüssel?
So schlimm ist es jetzt auch nicht. Aber gute Lebensmittel sind der rote Faden durch mein Leben. Ich tue meine Zuneigung durch Lebensmittel kund, ich kann es nicht ertragen, wenn jemand Hunger hat, ich kann es nicht ertragen, wenn jemand schlecht essen muss. Das ist der Boden, auf dem ich stehe. Aber es ist nicht so, dass ich nur kochend durchs Parlament gehe. Das ist einfach die private Sarah. Ich bin nicht dazu da, zu kochen, ich bin da zu da, meinen Themen Gehör zu verschaffen, durchzusetzen, was geht, oder, wenn gar nichts geht, das Schlimmste zu verhindern. Und anderen klarzumachen: Leutln, so, wie ihr das haben wollt, geht's nicht.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (43/2020) erschienen!