Putins Krieg und Kyrills Beitrag

Der Moskauer Patriarch Kyrill zählt mit seiner religiös aufgeladenen Kriegshetze zu den wichtigsten Unterstützern des russischen Präsidenten. Den Verlust jeder Glaubwürdigkeit in der orthodoxen Welt nimmt er dafür in Kauf.

von Kyrill und Putin © Bild: IMAGO images/ZUMA Wire

Wieder Luftalarm, wieder Ausgangssperre in weiten Teilen der Ukraine. Der orthodoxe Bischof Oleksandr Drabynko ist gewohnt, Segen von oben zu spenden, jetzt kommt vom Himmel der Fluch. Seit Kriegsbeginn, seit um vier Uhr früh die ersten Raketen über den Kiewer Bischofssitz des Metropoliten von Perejaslaw- Chmelnyzkyj und Wyschnewe flogen, ist der Bischof entschlossen, in seinem Land, in seiner Stadt zu bleiben: "Die ersten Tage saß ich nur im Haus, schaute auf die weiße Wand und dachte: 'Verdammt, was zum Teufel ist da los?'"

Ein Teufel, den der Metropolit sehr gut kennt. Der 45-Jährige hat in den 1990er-Jahren an der Moskauer Geistlichen Akademie, der wichtigsten Bildungseinrichtung der russisch-orthodoxen Kirche, studiert. "Ich kenne Russland wie meine Westentasche, ich habe es überall bereist - von Kaliningrad bis Kolyma." Aus diesem äußersten Osten Russlands kommen jetzt große Teile der die Ukraine angreifenden Truppenverbände. "Sie werden Orks genannt, aber Orks ruhen im Vergleich zu ihnen", verweist der Metropolit auf den in der Ukraine mittlerweile üblichen Namen für russische Soldaten. Der Begriff stammt aus J. R. R. Tolkiens Fantasy-Roman "Der Herr der Ringe". Orks sind in dieser Fantasiewelt plündernde Banden von willigen Vollstreckern des Bösen. Mit der gleichen Schwarz-Weiß- Logik, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen als die Ukrainer, rechtfertigt Kyrill I. den russischen Angriffskrieg. Laut dem Moskauer Patriarch steht Russland in einem "metaphysischen Kampf" des Guten gegen das Böse aus dem Westen. Der "Nachrichtendienst Östliche Kirchen" (noek.info) berichtete vorige Woche von einem Propagandavideo des Moskauer Patriarchats, das den ukrainischen Streitkräften "Fälle von offenem Satanismus" und "heidnisches Sektierertum" unterstellt.

"Totaler Verrat am Evangelium"

Auf dem Territorium der Ukraine kämpften "jenseitige infernalische Kräfte gegen die Orthodoxie und die russischen Soldaten". Und im Stil eines Militär-Exorzismus geht es weiter: "Der russische Soldat ist heute ein Krieger des Lichts, der für die Bewahrung der Orthodoxie und Russlands als solches kämpft, er ist buchstäblich ein Kämpfer des himmlischen Heeres, in dessen Rücken die Heerscharen der Engel unter der Führung von Erzengel Michael stehen!"

Für den an der Universität Salzburg lehrenden Kirchenhistoriker und Ostkirchenexperten Dietmar Winkler ist die Kriegshetze seitens der russisch-orthodoxen Kirche und die enge Allianz zwischen Präsident Putin und Patriarch Kyrill "ein totaler Verrat am Evangelium und an der Friedensbotschaft Jesu". Wobei Winkler betont, "dass diese Art des Cäsaropapismus bereits vom Anfang des Pontifikats Kyrill an zu bemerken war". Der Begriff setzt sich aus den lateinischen Bezeichnungen für Kaiser und Papst zusammen und steht für ein enges Miteinander von Kirche und Staat. Zuletzt stellten Kyrill und Putin dieses Nahverhältnis wieder beim Ostergottesdienst in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale zur Schau. Am Ende der Messfeier übergaben sie einander Geschenke. Das Kirchenoberhaupt erhielt vom Kreml-Chef ein verziertes Osterei mit der Botschaft, dass dieser Feiertag "in den Menschen die hellsten Gefühle, den Glauben an den Sieg des Lebens, des Guten und der Gerechtigkeit" wecke.

Toxisches Duo zum Eigennutz

Das Treffen, an dem sich Wladimir Putin und Wladimir Gundjaew, wie der Patriarch mit bürgerlichem Namen heißt, zur gemeinsamen Durchsetzung ihres Staats-und Kirchenmodells verschworen haben, dürfte spätestens bei der Inthronisierung Kyrills als Patriarch 2009, wahrscheinlich aber schon davor stattgefunden haben. Vor der Wahl Putins zur dritten Amtszeit als Präsident 2012 hob Kyrill den Kandidaten bereits in den Stand der Heiligkeit, lobte ihn als "Wunder Gottes" und dankte der göttlichen Vorsehung für die Gnade, Putin als moralischen Erneuerer Russlands geschickt zu haben. Der alte, neue Präsident ließ sich für diese Wahlkampfhilfe nicht lumpen: Der Staat finanzierte Hunderte neue Kirchen und initiierte homophobe Gesetze sowie Strafverfolgungsmaßnahmen gegen liberal denkende Russinnen und Russen unter dem Vorwand der Verletzung religiöser Gefühle.

Kreml und Kirche entwickelten sich unter der Macht und dem Segen dieses "toxischen Duos" zu perfekt kommunizierenden Gefäßen. Durchaus zum monetären Nutzen der beiden Spitzenrepräsentanten. Dazu passt, dass Kyrill -so wie Putin und seine Politik-und Oligarchen-Entourage - jetzt mit EU-Sanktionen belegt und seine Vermögenswerte im Ausland eingefroren werden.

Religionsoligarch mit Luxusuhr

Berichte über einen ausschweifenden Lebensstil von Kyrill und seine nicht immer legale Geschäftstüchtigkeit gibt es schon lange: Wird er heute von Kritikern "Religionsoligarch" genannt, machte er in den Jahren nach Zerfall der Sowjetunion als "Tabak-Metropolit" Schlagzeilen, als die Kirche zollfrei Zigaretten importierte und damit Milliarden scheffelte. Gefangen im Widerspruch von Schein und Sein ließ Kyrill einmal auf einem offiziellen Foto eine Schweizer Luxusuhr von seinem Handgelenk wegretuschieren. Doch das Spiegelbild der sündteuren Uhr auf der glatten Tischoberfläche wurde übersehen und entlarvte den sündigen Träger. Paläste im Kaukasus, Villen in der Schweiz oder Skandinavien, Nobelkarossen und Privatjet sowie ein Vermögen von mehreren Milliarden Dollar vervollständigen das Bild eines den Reichtümern dieser Welt verfallenen Kirchenfürsten -inklusive ausgeprägtem Machtinstinkt und Netzwerkgeschick.

Gemeinsame KGB-Vergangenheit

Auch das eine von vielen Gemeinsamkeiten mit seinem politischen Visavis Putin: Beide stammen aus Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, und kamen in den 1970er-Jahren über ihre Mitarbeit beim sowjetischen Geheimdienst KGB zusammen. Seit der Stalin-Zeit galt die Kirche quasi als Filiale des KGB. Auch Kyrills Vorgänger auf dem Moskauer Patriarchensitz, Alexius II., wurde als Geheimdienstagent enttarnt. Wie Putin machte Kyrill schnell Karriere. Mit 30 wurde er Bischof, anschließend Vertreter des Moskauer Patriarchats beim Weltkirchenrat, Erzbischof, Metropolit und als Leiter des Außenamtes zum "Außenminister" der russisch-orthodoxen Kirche -mit einer in dieser Kirche keineswegs selbstverständlichen Sympathie für die katholische Kirche.

In dieser Rolle pflegte der fließend Deutsch sprechende Kyrill -eine weitere Parallele zu Putin -sehr gute Kontakte zu Österreich und seinen kirchlichen Repräsentanten. Mittlerweile unvorstellbar, sahen ihn damals viele in und außerhalb Russlands als einen Hoffnungsträger, der die russisch-orthodoxe Kirche in die Moderne und zu einem konstruktiven Miteinander mit den anderen christlichen Konfessionen führen könnte. 2007 traf Kyrill Papst Benedikt XVI. Das erste russische Fernsehen übertrug eine Szene der Zusammenkunft, in der Benedikt den Russen segnete und Kyrill dem Papst der "katholischen Ketzer" die Hand küsste.

Päpste-Handshake in Havanna

2016 dann der Höhepunkt dieses kirchendiplomatischen Tauwetters: Nach knapp tausend Jahren Eiszeit zwischen den beiden Kirchen kam es auf dem Flughafen von Havanna zum historischen Treffen zwischen Kyrill und Franziskus. Beide begrüßten sich mit Handschlag und Wangenkuss. "Endlich", sagte Franziskus, "es ist klar, dass das der Wille Gottes ist."

Im Gegensatz zu Franziskus sieht Kyrill den göttlichen Willen auch beim russischen Überfall auf die Ukraine am Werk. "Wir sind keine Staatskleriker", habe der Papst dem Patriarchen nach dessen 20-minütigen Plädoyer für den Krieg geantwortet, schilderte Franziskus in einem Interview mit der italienischen Zeitung "Corriere della Sera" sein Videogespräch mit Kyrill. Das Außenamt des Patriarchats reagierte verschnupft. Vor allem die Maßregelung aus Rom, der Patriarch könne "sich nicht zum Ministranten Putins machen", stieß Moskau sauer auf. Ein im Juni geplantes Treffen der beiden in Jerusalem werde seither nicht weiterverfolgt.

"Dass es zu keinem Treffen zwischen Franziskus und Kyrill mehr kommen wird, finde ich richtig", sagt Ostkirchenexperte Winkler, "man sieht, dass die Dialogoffenheit des Papstes und das Zugehen auf den Anderen von Moskau instrumentalisiert und ausgenützt wurde." Winkler war vergangene Woche als Berater bei der Vollversammlung des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen in Rom. Dort habe er mit dem Präsidenten dieses Ökumene-Motors der katholischen Kirche gesprochen. Kardinal Kurt Koch bestätigte Winkler, dass es "unter ihm" keine kirchlichen Gipfeltreffen zwischen Rom und Moskau mehr geben werde.

"Der russische Patriarch hat sich selbst isoliert und völlig seine Glaubwürdigkeit verloren", sagt Winkler und zeigt sich selbstkritisch: "Rückblickend sehen wir von der Ökumene her unseren Dialog mit der russisch-orthodoxen Kirche -ähnlich wie auf der politischen Seite die Zusammenarbeit mit Putin -in einem anderen Licht. So wie die Politik einen 'Wandel durch Handel' verfolgte, setzten wir in der Ökumene auf einen 'Wandel durch Dialog'. Für uns ist klar, dass Russland zu Europa gehört und unser Anliegen war, wie wir die russische Orthodoxie einbinden können -doch jetzt schneiden sie sich de facto selber ab."

Los von Moskau-Bewegung

Bereits 2018 hat sich die orthodoxe Kirche der Ukraine vom Moskauer Patriarchat und Kyrill I. losgesagt. Für viele mit ein Grund, warum Kyrill jetzt diesen Krieg und die damit erhoffte "Heimholung" nicht nur des Landes, sondern auch der Kirche unter Moskauer Hoheit unterstützt. Metropolit Oleksandr Drabynko in Kiew war eine der lautesten Stimmen innerhalb des orthodoxen Konzerts, die sich für die Eigenständigkeit, "Autokephalie" in der Kirchensprache, der ukrainischen Kirche einsetzten. Obwohl damals noch Oberbischof des Moskauer Patriarchats, besuchte er im Gefolge der russischen Invasion der Krim 2014 ukrainische Regierungstruppen, die gegen die prorussischen Separatisten in der Ostukraine kämpften.

Kein anderer Bischof der moskautreuen ukrainischen Orthodoxie zeigte sich sonst bei den eigenen Truppen. "Der Wunsch nach Autokephalie ist so wie in anderen Ländern im Herz der Ukrainer verwurzelt", erklärt der Metropolit seinen Einsatz: "Schauen Sie nach Serbien, schauen Sie nach Bulgarien oder anderswo hin, überall gehört eine unabhängige Kirche zur Seele des Volkes, zur Identität, ist Symbol der Souveränität eines Landes und seiner Menschen."

Wie kann ich Kyrill noch folgen?

An der Wand des Besprechungszimmers im Kiewer Bischofssitz des Metropoliten hängt ein gerahmtes Kirchenfenster. Es zeigt Jesus, die Bibel in der Hand, und die Seite mit seiner Weisung aufgeschlagen: "Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander!" Das Bild ist in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb gehalten. Und so gefärbt ist auch die Ansage von Metropolit Oleksandr: "Im Idealfall ist die Orthodoxie nicht durch nationale Grenzen getrennt, aber in unserer Realität ist es so, dass Moskau die orthodoxe Kirche als ein Werkzeug benutzt, um seinen Einfluss aufrecht und die Ukraine am Gängelband zu halten."

Schon vor dem Krieg war für den Kiewer Metropoliten das Sündenregister des Moskauer Patriarchen lang: Kyrill habe alle Vereinbarungen zur Kirchenautonomie Kiews aus der Vergangenheit gebrochen "wie kann ich da Kyrill noch folgen?" Und mit jedem Kriegstag wird der Graben innerhalb der orthodoxen Kirche tiefer: "Heute gibt es Butscha", verdeutlicht der Metropolit die riesige Kluft zwischen Kiew und Moskau mit jenem Ortsnamen, der für die Monstrosität dieses Krieges steht. Seine Patentochter lebt dort, erzählte ihm, wie Mädchen vergewaltigt wurden. "Es ist alles lebendig, es ist alles in der Seele, wir sprechen hier nicht von etwas Abstraktem", beschreibt er seine Gefühlswelt und die sich daran anschließende Forderung daraus: "Bis wir die Moskowiter loswerden, wird es nichts Menschliches geben."

Zerreißprobe für Kirchen-Spagat

Wobei die kirchlichen Frontlinien alles andere als eindeutig verlaufen: Denn nach wie vor gibt es noch eine sich zum Moskauer Patriarchat bekennende orthodoxe Kirche in der Ukraine. Im schroffen Gegensatz zu seinem Patriarchen in Moskau hat sich der Metropolit dieser Kirche aber vom ersten Tag an gegen Putins Angriffskrieg gestellt. Auf die Frage, ob und wie lange dieser Kirchen-Spagat zwischen Moskau und Kiew möglich sein wird, antwortet Thomas Mark Nemeth: "Ich vermute, dass eine ukrainische Orthodoxie im Verband des Moskauer Patriarchats angesichts des Verhaltens der dortigen Kirchenleitung keine Zukunft hat. Ob und wann sich Hoffnungen auf eine Vereinigung der beiden getrennten Zweige der ukrainischen Orthodoxie aber erfüllen werden, ist unklar -die Bischöfe warten offensichtlich das Geschehen ab." Nemeth ist Professor für Theologie des christlichen Ostens in Wien und Priester der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine. Er bestätigt, dass alle Kirchen und Religionen der Ukraine die russische Aggression verurteilen und sich für die Verteidigung ihres Landes starkmachen. Bestehende Probleme zwischen den Kirchen seien "zwar nicht gelöst, aber in den Hintergrund getreten".

Bomben auf "eigene" Kirchen

Ausgelöst durch den Krieg und die einseitige Unterstützung des Moskauer Patriarchen dafür beobachtet auch Ökumene-Experte Winkler ein Zusammenwachsen der Kirchen in der Ukraine. Das zeige sich nicht zuletzt an 17 gemeinsamen Erklärungen gegen den Krieg. Winkler betont den großen Schock gerade der Gläubigen des Moskauer Patriarchats in der Ukraine, deren Kirchen, aufgehetzt vom "eigenen Patriarachen", von den russischen Angreifern bombardiert wurden. Die Enttäuschung unter diesen Menschen sei riesig, sagt Winkler. So wie in der ökumenischen Bewegung, die aus den Lehren der Weltkriege des vorigen Jahrhunderts mit der Forderung entstanden ist, dass nie mehr Christen gegen Christen kämpfen sollen. Winkler: "Das ist die eigentliche Tragik dabei, dass hier wieder die spirituelle Ebene die geopolitischen Ambitionen einer Staatsführung unterstützt."

Kyrill fehlt die China-Alternative

Im Unterschied zu Putin fehle Kyrill und der russisch-orthodoxen Kirche jedoch die Möglichkeit, sich auf der Suche um neue Partner nach China oder Zentralasien zu wenden, gibt Winkler zu bedenken und wagt die Prognose: "Ein Drittel der Russisch-Orthodoxen sind in der Ukraine - und früher oder später werden sie sich von ihm abwenden. Letztendlich wird der Verlust für Kyrill unglaublich sein." So wie jetzt schon die Verluste in der Ukraine und für seine Menschen. "Diejenigen, die sich Christen nennen, haben sich als Christus-Verkäufer und Christus-Mörder herausgestellt", predigte Metropolit Oleksandr Drabynko in seinem Ostergottesdienst, "und haben unsere blühende Ukraine in einen Kalvarienberg verwandelt, auf dem wir gekreuzigt werden."

Im Unterschied zum Moskauer Patriarchen konnte der Kiewer Metropolit aber die Auferstehungsmesse mit seiner Gemeinde nicht in der Osternacht feiern. Es gab wieder Ausgangssperre, wieder Luftalarm.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 19/2022.