Von Hummeln und Scharfschützen

Elf Kleinparteien wollen ins Hohe Haus. Aber was wollen sie noch?

Roland Düringers Liste Gilt hält nichts von Parteipolitik und experimentiert mit dem Konzept der offenen Demokratie. Ein erstes Bürgerparlament sollte das wichtigste sachpolitische Thema für Österreich identifizieren

von Politik - Von Hummeln und Scharfschützen © Bild: Matt Observe

Ein sonniger Samstagvormittag, und in der Lobby eines Hotels unweit des Wiener Hauptbahnhofs herrscht die übliche morgendliche Abreisebetriebsamkeit. In einem Seminarraum hinter einer Glastür geht es gerade erst los. Sechs Tische, an denen je fünf Personen sitzen. Sechs Flipcharts. Eine Moderatorin. Es tagt ein von Roland Düringers "Partie" Gilt einberufenes Bürgerparlament. Dabei handle es sich um ein "Show Piece", räumt der Zukunftsforscher oder auch, laut Visitenkarte, "Chief Futurist" Hubertus Hofkirchner ein - ein Pilotprojekt. Aber es soll demonstrieren, was die Düringer-Liste vorhat, falls sie es ins Parlament schaffen sollte.

Die 30 Männer und Frauen, die einen Wochenendtag opfern, um bei Saft und Kaffee die direkte Demokratie in Österreich weiterzubringen, wurden aus Newsletter-Beziehern und sonstigen Gilt-Sympathisanten nach repräsentativen Kriterien ausgewählt. Männer und Frauen, Arbeiter und Angestellte. Reichere, Ärmere. Der Jüngste 21, der Älteste 63. Sie sollen heute ermitteln, welche die für Österreich drängendste Frage ist, mit der sich Gilt politisch zuerst befassen soll.

Zur Auswahl stehen 28 Themengebiete, die den Themen der Ausschüsse im Parlament entsprechen. Finanzen zum Beispiel, Soziales, Gesundheit, Integration u. v. m. In einem ersten Schritt dürfen Mitglieder des Bürgerparlaments damit in Verbindung stehende Fragen zur Diskussion stellen. Dann wird es tierisch. Wer nicht selbst ein Thema vorgeschlagen hat, darf sich als "Hummel" oder als "Schmetterling" von Flipchart zu Flipchart bewegen und herumschwirren (= Hummel), also mitdiskutieren, oder "sich an den Rand stellen und einfach nur schön sein" (= Schmetterling), erklärt Moderatorin Sonja Radatz.

Weltweites Novum

Kurze Pause. Der Mann, der das alles konzipiert hat, ist Hubertus Hofkirchner, sein Fachgebiet ist die offene Demokratie und das große Vorbild Australien, wo Bürgerparlamente bereits immer wieder komplexe politische Fragestellungen gelöst hätten, erklärt er. Was Gilt in Österreich vorhat, nämlich ins Parlament zu kommen, sei aber ein weltweites Novum.

Wie das genau funktionieren soll? Sobald der Wahlerfolg geschafft ist, wird ein erstes, aus 183 Bürgerinnen und Bürgern bestehendes Bürgerparlament einberufen, das konkrete Vorschläge ausarbeitet, die dann über die Gilt-Mandatare ins Parlament eingebracht werden. Ab Jänner, stellt sich Hofkirchner vor, arbeiten mehrere Bürgerparlamente an mehreren Themen, "und ab Mai wird das Parlament mit Vorschlägen zugepflastert".

Die Zusammensetzung und Vorbereitung dieser Bürgerparlamente ist ein komplexer Prozess, der vor allem auf den Aspekt der Vorhersage setzt. In einem ersten Schritt können sich alle Interessenten an einem Online-"Prognosemarkt" beteiligen. An der inhaltlichen Vorbereitung des Pilotprojekts waren etwa 1.000 interessierte Bürgerinnen und Bürger beteiligt. Auf Basis der dabei gewonnenen Daten wurden die Teilnehmer des Bürgerparlaments ausgelost: Wer im Vorverfahren beweist, dass er Entwicklungen gut antizipieren kann, erhöht seine Chancen. Die Onlinediskussionen dienen den Bürgerparlamentariern dann auch als Briefing.

Die Hummeln und Schmetterlinge haben ihre Arbeit getan. Jetzt wird es konkret. Jeder Teilnehmer hat fünf Punkte - lila Sticker - zur Verfügung, die er auf Themen setzen kann, die ihm besonders wichtig sind. Moderatorin Radatz fasst das Ergebnis anschließend zusammen. Als sie verkündet, dass Frauenpolitik null Punkte bekommen hat, hört man betretenes Kichern. Sie sagt: "Es ist Ihre Wahl, es muss Ihnen nicht peinlich sein." In die top fünf schaffen es Bildungspolitik (21 Punkte), Finanzen (15), Integration (15), Soziales (14) und Arbeitsmarkt (zehn).

Große Verbitterung

Noch eine kurze Pause. Politik, wie man sie bisher verstand -das sogenannte Establishment -, ist hier nicht gut angeschrieben, die Verbitterung über den Fall Günther Lassi groß. Der Liste-Gilt-Spitzenkandidat hatte sich zurückgezogen, nachdem er öffentlich dafür kritisiert worden war, einen antisemitischen Text auf seiner Homepage verlinkt zu haben. Hofkirchner spricht von "Scharfschützen", die Lassi "abgeschossen" hätten. Das Feindbild sind die "NLP-ausgebildeten Teflonpolitiker und die Trolle aus der Blase", denen die mutigen Gilt-Kandidaten, ganz normale Menschen, schutzlos ausgeliefert seien.

Ein neuerlicher Fall Lassi ist nicht auszuschließen, gibt Walter Naderer, einst Team-Stronach-Politiker, zu. Er war es, der aus über 1.000 schriftlichen Bewerbungen 360 auswählte, die zum persönlichen Gespräch geladen wurden. "Uns war wichtig, dass sie sich nicht zu stark für ein einzelnes Thema engagieren, etwa Mindestsicherung oder Tierschutz. Und sie sollten die Grundlagen des strukturierten Rechtsstaats anerkennen, also nicht das System ablehnen." Dazu kam eine Internetrecherche, die aber wohl nicht jeden möglicherweise problematischen oder strittigen Aspekt, Hofkirchner nennt es "Schrullen", zutage fördern kann. Es handelt sich sowieso alles um ein großes Missverständnis. Die Liste-Gilt-Kandidaten wollen gar nicht Politiker sein, sondern "Botschafter, die Botschaften des Bürgerparlaments ins Parlament tragen".

Verdrossene Wutwähler

Die Idee, mit direkter Demokratie zu experimentieren, sei nicht neu, sagt der Politberater Thomas Hofer. "Ich glaube nicht, dass das ein zugkräftiges Argument ist. 2008 war das politische System noch starrer, da hätte es vielleicht noch mehr bewirkt, jetzt gibt es mehrere Bewegungen und Quereinsteiger." Dennoch traut er der Liste Gilt immerhin "ein Ergebnis in einem relevanten Prozentbereich" zu - wenn auch nicht den Einzug ins Parlament.

"Düringer spricht eine gewisse Schicht von verdrossenen, frustrierten Wutwählern an, die mit keinem Angebot zufrieden sind. Am Ende des Tages geht es den meisten aber darum, einen Unterschied zu machen. Wenn es keine Umfragen gibt, die einer Gruppierung Chancen einräumen, fällt sie wahrscheinlich dem Fallbeileffekt anheim." Bedeutet: Viele mögliche Wähler nehmen Abstand, weil sie glauben, dass es ohnehin nichts bringt, die Partei zu wählen. Bleiben einige wenige echte Protestwähler, die entweder ungültig wählen oder sich auf die zahlreichen Klein-und Kleinstparteien, die bei dieser Wahl antreten, verteilen. "Ein Motiv, die Liste von Ex-FPÖler Karl Schnell zu wählen, könnte etwa sein, dass man damit die FPÖ ärgern will."

Die Teilnehmer des Bürgerparlaments haben mittlerweile einen Dreiervorschlag erstellt und sich auf das wichtigste Thema für Österreich geeinigt: Bildungspolitik. Dazu werden sie in weiterer Folge konkrete Vorschläge ausarbeiten. Ihr gehe es mit der Teilnahme am Bürgerparlament vor allem darum, mehr Interesse an Politik zu wecken, sagt die Wiener AHS-Lehrerin Iris Friedrich. Rebecca Aplitscher, psychosoziale Trainerin, ebenfalls aus Wien, möchte die Möglichkeit nützen, "zum ersten Mal wirklich bürgernah Politik zu machen".

Der oberösterreichische Kraftfahrer Christian Ebner sagt: "Ich weiß nicht, ob das Projekt Zukunft hat, ich weiß nicht einmal, ob ich die Liste Gilt wählen würde. Aber ich finde es interessant."