Paul Lendvai: "Viktor Orbán
ist eine One-Man-Show"

Viktor Orbán gilt als einer der gefährlichsten Politiker in der Europäischen Union. Mit seinem populistischen Kurs bekämpft er die europäische Solidarität, obwohl Ungarn einer der Hauptnutznießer der EU-Transfers ist. Wie passt das zusammen? Wie tickt Viktor Orbán? News.at hat sich mit dem renommierten Osteuropa-Experten Paul Lendvai dazu unterhalten.

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Europapolitik - Paul Lendvai: "Viktor Orbán
ist eine One-Man-Show"
© Béla Mezey
Paul Lendvai, international angesehener Publizist, Autor und Osteuropa-Experte, schrieb viele Jahre als Korrespondent für die Londoner Financial Times und angesehene österreichische, Schweizer und deutsche Blätter. Er war Chefredakteur der Osteuropa-Redaktion des ORF und Intendant von Radio Österreich international. Heute ist er Leiter des Europa-Studios des ORF und Kolumnist des Standard. Seine bisher 17 Bücher sind Bestseller und wurden in zehn Sprachen übersetzt. Sein Wirken wurde mit vielen Auszeichnungen geehrt, unter anderem mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen der Republik und dem Bruno-Kreisky-Preis 2020 für sein publizistisches Gesamtwerk, der im Frühjahr 2021 verliehen wird.

Was hat Sie dazu veranlasst, Ihr Buch "Orbáns Ungarn" zu überarbeiten? Was hat sich in Ungarn seit 2016 verändert?
In den letzten fünf Jahren ist sehr viel passiert: Innerhalb Ungarns sind neue Dimensionen der Korruption und Kleptokratie im Umfeld des Ministerpräsidenten Orbán und seiner Freunde entstanden. Aber auch die Verschärfung der Beziehungen zur Europäischen Union hat zugenommen. Neben einer beispiellosen Hetzkampagne gegen den ungarisch-amerikanischen Milliardär George Soros kommt dann noch hinzu, dass Orbán versucht hat, über den Visegrad-Bund und über seine Beziehung zu Putin und Russland international an Bedeutung zu gewinnen.

Kurzum: Viktor Orbán ist einfach noch bekannter geworden, bei jeder Tagung und in jedem wissenschaftlichen Aufsatz über autoritäre Tendenzen wird er neben russischen oder chinesischen Herrschern erwähnt. All das hat mich zum Verfassen einer weiteren Auflage überzeugt.

Wenn in wenigen Jahren so viel passiert ist: Ist eine weitere Steigerung dessen vorstellbar?
Das ist durchaus möglich, das hängt vom Zustand der Europäischen Union ab. Und auch davon, wie die Europäische Volkspartei weiter mit der Orbán-Partei Fidesz umgehen wird. Wird die Partei ausgeschlossen oder bleibt sie Mitglied? Und sollte sie ausgeschlossen werden, wird sie sich den rechtsgerichteten Populisten in Frankreich und Italien anschließen? Die Entscheidung hängt auch davon ab, wie weit die Lage sich in Westeuropa ändert, auch in Deutschland nach Merkel.
Es gab allerdings auch einen großen Rückschlag für autoritäre Regierungen und somit auch für Orbán. Das war die Wahlniederlage von Trump. Orbán war der erste und einzige in der Europäischen Union 2016, der sich für Trump ausgesprochen hat.

»Es gibt in Wahrheit auch kein Mittel gegen das System Orbán«

Ministerpräsident Orbán blockiert, schiebt trotz EuGH-Urteil weiter Asylsuchende ab, kündigt Alleingänge bei Corona-Impfstoffen an – wird es nicht einmal Zeit, dass die EU auf den Tisch haut? Warum zögert die Union schon so lange?
Weil die EU gespalten ist. Es gibt in Wahrheit auch kein Mittel gegen das System Orbán, außer dass man die finanzielle Schraube anzieht. Das hat man jetzt zwar beschlossen, aber in einer Art und Weise, dass Vieles offengelassen wird und auch erst nach den Wahlen in Ungarn 2023 heranreifen dürfte.

Die Autoren und Inspiratoren der Europäischen Union hatten ursprünglich nicht damit gerechnet, dass autoritäre Tendenzen in wichtigen neuen Mitgliedsstaaten entstehen werden. Es gibt letztlich auch keine Mittel, einen Staat auszuschließen, man kann lediglich eine Mitgliedschaft suspendieren. Was aber Ungarn wirklich schmerzen würde, wäre eine Streichung der drei bis fünf Prozent des Bruttosozialproduktes, die in Form von Hilfsmitteln aus Brüssel ins Land kommen.

Würde es rein theoretisch überhaupt Sinn machen, Ungarn aus der EU auszuschließen? Das würde doch dem europäischen Gedanken widersprechen…
Das ist eine sehr schwierige Frage, weil die große Mehrheit der Ungarn proeuropäisch eingestellt ist und sich klar für die EU ausspricht. Es geht ja eigentlich auch nicht um Ungarn, sondern um die Regierung Ungarns. Es geht darum abzusichern, und das ist das eigentliche Problem, dass in einem Land solche Verhältnisse herrschen müssen, dass eine Regierung auch abgewählt werden kann. Man soll nie das Land oder ein Volk bestrafen.

Es ist allerdings auch ein Konstruktionsfehler der EU, dass es sehr wenig Handhabe gibt, Dinge in Ordnung zu bringen, wenn ein Staat einmal EU-Mitglied ist. Das gilt im Übrigen ja nicht nur für Ungarn, es gibt auch leider einige andere Staaten wie zum Beispiel Slowenien, wo Ministerpräsident Janez Jansa mit der Hilfe Ungarns auf dem Weg Orbáns ist. Aber auch Bulgarien, das nachweislich korrupteste Land der EU, und der der polnische Abbau der Rechtsstaatlichkeit helfen Ungarn, um nicht als Einzelfall dazustehen. Dennoch kann Orbán leider als Schrittmacher dieser Entwicklung bezeichnet werden.

EVP-Chef Weber versucht ja mit aller Vehemenz, die Fidesz aus der Europäischen Volkspartei zu schmeißen. Glauben Sie, dass das gelingen kann? Wovon hängt das ab?
Das wird weitgehend von den Entscheidungen in der CDU/CSU abhängen.

Also auch von der Nachfolge der deutschen Bundeskanzlerin Merkel?
Es besteht grundsätzlich die Befürchtung und damit weiterhin die falsche Gleichung, Ungarn durch einen Ausschluss aus der EVP ins extreme rechte Lager zu treiben. In der EVP gibt es aber eine starke Tendenz für einen Ausschluss. Das wäre also ein Opportunismus, der niemandem nützt, und entlarvt eigentlich die europäische Volkspartei.

Jedenfalls schaut es nicht so aus, dass man mit Ungarn abrechnen wird. Nicht zuletzt deshalb, weil man sich inmitten der Pandemie und der Wirtschaftskrise nicht mit einer weiteren unangenehmen Frage beschäftigen will.

Die Pandemie verzögert also die Ungarn-Problematik der EU auf unbestimmte Zeit?
Sie entschärft sie momentan, ja.

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© Kremsmayr & Scheriau

Jetzt ist es ja so, dass Ungarn unter Orbán seine Demokratie nicht aufgehoben hat, ihm die Wahl zuletzt mehr als 49 Prozent der Stimmen gebracht hat und keine Unregelmäßigkeiten im Wahlvorgang zu beobachten waren. Wenn das System Orbán so schrecklich sein soll, wieso wählt ihn dann fast jeder zweite Ungar?
Natürlich gibt es eine starke Schicht, die Orbán unterstützt. Die Ärmsten wählen ihn, weil sie verschiedene Hilfsmittel vom Staat erhalten. Sie kennen das System dahinter nicht, weil die ganze Medienlandschaft von dieser Partei dominiert wird. In einem Dorf oder einer kleinen Siedlung hört man in erster Linie immer noch Radio oder sieht fern, und alle Rundfunksender sind unter der Kontrolle der Regierung oder der mit Orbán befreundeten Oligarchen. Auch die örtlichen Zeitungen am Land sind alle in den Händen eines riesigen Konzerns, der von Vertrauensleuten Orbáns geleitet wird.

Außerdem gibt es die Auslandsungarn, die zwar das Wahlrecht haben, das wird bei Wahlen aber von Kommissionen kontrolliert, die ausschließlich aus Fidesz-Leuten bestehen. Auch das Wahlsystem hat man zugunsten der Partei geändert, wodurch die Wahlen „frei“ aber nicht fair waren. Es ist ein ausgeklügeltes System im Hintergrund aufgebaut worden, um diese Mehrheit für Orbán zu sichern. Sicherlich auch zum Wahlsieg beigetragen hat der wirtschaftliche Aufschwung Ungarns in den letzten Jahren und nicht zuletzt die Hilfsmittel aus Brüssel.

Man hat das Gefühl, der Widerstand gegen Orbán kommt in erster Linie aus dem Ausland. Gibt es den auch in Ungarn selbst?
Die lokalen Wahlen 2019 haben gezeigt, dass die Opposition Gewinne in den großen Städten Ungarns einfahren konnte. Der Widerstand in Ungarn selbst ist höher geworden und es dürfte für Orbán nicht mehr so einfach sein, eine Mehrheit im ganzen Land zu bekommen. Das Wahlsystem, die Hegemonie der Medien und die Kontrolle der Gerichte begünstigen seine Partei jedoch nach wie vor. Die Frage bleibt also, ob die Opposition bei den nächsten Wahlen 2023 wieder gemeinsam und gestärkt auftreten kann, da habe ich allerdings meine Zweifel daran.

Man darf nicht vergessen, dass das Orbán-System eine Mischform ist und keine Diktatur wie in Russland oder China. Es gibt noch immer freien Grenzverkehr und die Möglichkeit, Demonstrationen zu organisieren, aber es ist eine müde Gesellschaft, vergleichbar mit dem Kádár-Regime. Die Zivilgesellschaft ist in Ungarn nicht so stark ausgeprägt wie in Polen, aber auch das kann sich noch ändern.

»Orbán ist eine One-Man-Show«

Ist Orbán ein Lenker oder weiß er, von wem er sich beraten lassen muss?
Viktor Orbán ist eine One-Man-Show. Er hat keine engsten Berater und er drängt potenzielle Rivalen oder Personen in seinem Umkreis, die gefährlich werden könnten, ins Abseits. Er „vernichtet“ Leute also nicht, sondern sorgt rechtzeitig für deren Ablöse. Orbán ist auch erst 57 Jahre alt und und will noch lange an der Macht bleiben. Seine Machtposition ist unerreicht in der europäischen Union: Er ist Chef der Parlamentsfraktion, Chef der Partei und Ministerpräsident ohne Rivalen. Nicht zuletzt sind die engsten Freunde Orbáns der Staatspräsident der Republik, János Áder, und der Parlamentsvorsitzende László Kövér.

Auch andere lange Weggefährten bekleiden hohe Ämter, wie beispielsweise der jetzige oberste Staatsanwalt Peter Polt. Deshalb kann man auch vom Westen her keine Untersuchungen einleiten in Ungarn. Die Untersuchungen werden von den nationalen Organen geführt, weil Ungarn kein Mitglied der europäischen Staatsanwaltschaft ist. Das alles spielt eine Rolle, um das System zu sichern.

Lassen sich aus Ihrer Sicht Parallelen zwischen Orbán und Kurz ziehen?
Überhaupt nicht. Kurz ist ein Kommunikationstalent in einer Demokratie, aber er hat nicht diese Macht und auch nicht diese Art. Maximal lassen sich dahingehend Parallelen ziehen, dass auch er erfolgreich in der Politik tätig ist, mehr aber nicht.

Was glauben Sie, was nach Orbán kommen wird?
Dieses System steht oder fällt mit Orbán, keine Frage. Was nach ihm kommt, lässt sich noch nicht beantworten. In erster Linie gilt es für die Opposition, diese Regierung mit friedlichen Mitteln zu stürzen.

»Ungarn darf mit seiner Regierung nicht als isoliertes Land betrachtet werden, sondern als Störfaktor der EU«

In dem Fall stellt sich die Frage umso eher, weil es offenbar überhaupt keine Alternative gibt, oder?
Persönlich nicht, aber normalerweise gibt es in Staaten auch nicht immer starke Männer oder Frauen. Das ist ein Ausnahmefall. In einer Demokratie kann man auch damit leben, dass es eine Autorität gibt. Aber wenn man eine Ein-Mann-Führung derart ausbaut, ist es natürlich schwierig.

Es bleibt jedenfalls sehr wichtig, dass man Osteuropa im Allgemeinen und Ungarn im Besonderen auch in Zeiten der Pandemie und in einer Wirtschaftskrise nicht abschreibt. Man muss die Aufmerksamkeit diesen Ländern gegenüber beibehalten, weil es kein demokratisches Europa mit dunklen Flecken geben kann, wo es keine Demokratie gibt oder wo ein autoritäres System entsteht. Ungarn darf mit seiner Regierung nicht als isoliertes Land betrachtet werden, sondern als Störfaktor in der EU. Diese Entwicklung ist auch für alle anderen EU-Staaten gefährlich.

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