Türkis-Blau: Das
verflixte zweite Jahr

Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache zelebrieren den ersten Jahrestag von Türkis-Blau. In Umfragen zieht die Regierung davon. Doch wo lauern Probleme für ÖVP und FPÖ? Wo Thomas Stelzer (OÖ) und Siegfried Nagl (Graz) die rote Linie für Bündnisse mit der FPÖ sehen.

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Politik - Türkis-Blau: Das
verflixte zweite Jahr

Besondere Ereignisse wollen zelebriert sein. Vor allem dann, wenn man in Sachen Inszenierung ohnedies einen Ruf zu verteidigen hat. Und da die ÖVP ja schon die Partei­übernahme durch Sebastian Kurz im Juli 2017 und den „Wahlkampfauftakt“ – nach Monaten bereits laufender türkiser Kampagne – perfekt gestylt hat, ist natürlich auch der kommende 18. Dezember im Kalender der Parteimanager dick eingeringelt und es wird entsprechende Geheimniskrämerei betrieben. An diesem Tag nämlich ist es genau ein Jahr her, dass Sebastian Kurz als Bundeskanzler der Republik Österreich angelobt wurde. Und seither dem Land eine ganze Reihe – zumindest nach türkis-blauer Definition – „größter Reformen aller Zeiten“ angedeihen hat lassen. Kinderbonus, geringere AMS-Beträge für niedrigere Einkommen, Pensionserhöhung sollen den Wählerinnen und Wählern das Gefühl geben, dass sich Türkis und Blau für sie den Haxen ausreißen.

Obendrauf kündigt die Regierung für die nächsten Tage nichts weniger als einen „Masterplan Pflegesicherheit“ an, weil man weiß, dass dieses Thema allen Sorgen macht – Betroffenen wie Finanziers – und eigentlich nur durch einen wirklich großen Wurf nachhaltig zu lösen ist, was nach so kurzer Amtszeit doch überraschend wäre. Und dennoch reißt die Kritik seit Antritt des Kabinetts Kurz nicht ab: Diese Regierung sei vielmehr eine Service-Einrichtung für Wirtschaft und Industrie (Stichwort: Großspender im Wahlkampf) und eine der sozialen Schieflage, denn: Vom Kinderbonus profitieren eher Besserverdiener. Die Familienbeihilfe für den Nachwuchs jener meist osteuropäischen Frauen, die jetzt die 24-Stunden-Pflege der Österreicher stemmen, wird gekürzt. Bei der Reform der Mindestsicherung zahlen kinderreiche Familien und Zuwanderer drauf und für alle bleibt der Zugriff auf Eigentumswohnung und Ersparnisse.

Beim Standortgesetz werden Umweltschutz und Mitsprache der NGOs zurückgestutzt. Die Opposition lässt man auflaufen, ignoriert oder provoziert sie, indem man den Parlamentarismus aufweicht. Dazu kommen Fehltritte der FPÖ: BVT-Affäre, ein rassistisches Video zur E-Card, interne Mails über unbotmäßige Medien.

Doch wen stört das? Jedenfalls die Donnerstagsdemonstranten, die wie zu Wolfgang Schüssels Zeiten durch Wien ziehen. Und jedenfalls nicht die eigenen Wähler. In jüngsten Umfragen kämen Türkis und Blau gemeinsam auf 59 Prozent der Stimmen – wenn nächsten Sonntag Wahlen wären. Bei der Nationalratswahl 2017 waren es 57 Prozent Zustimmung. Nutznießerin des Zugewinns ist eindeutig die ÖVP. Sie liegt in den jüngsten Erhebungen bei 33 bis 35 Prozent (31,5 waren es bei der Wahl), die FPÖ stagniert bei 24 bis 26 Prozent (das wäre gleich viel wie 2017). „Interessanterweise steigt auch das Vertrauen in die Demokratie, die Sehnsucht nach starken Führungspersonen, die sich nicht um Parlament und Sozialpartner kümmern, wird bedient – was auch etwas über die Demokratiereife der Menschen sagt“, erklärt die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle.

Durchwachsene Stimmung

Und dennoch ist die Feierstimmung nicht nur prickelnd. In der FPÖ hat man die Umfragen im Blick und fürchtet, dass man bei Wahlen von der ÖVP noch weiter abgeräumt wird. In der ÖVP mehren sich die Stimmen jener, die finden, das immer wieder aufpoppende blaue Rabaukentum, mit dem die Wähler bei der Stange gehalten werden sollen, schade dem Ruf der Partei. Dass Österreich auf Wunsch der Blauen beim UN-Migrationspakt ausschert, besorgt die international und pro-europäisch denkenden ÖVPler, die harten Töne gegen Flüchtlinge das christlich-soziale Lager.

Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer bestätigt, dass es Unruhe unter langgedienten Funktionären und sogar Parteiaustritte gibt (siehe S. 22): „Das haben wir in allen Phasen. Wir sind Gott sei Dank eine sehr breite Partei, da gibt es auch unterschiedliche Sichtweisen und starke Persönlichkeiten, die bei manchen sachpolitischen Entscheidungen sagen, das kann ich nicht mittragen. Es gibt nicht den allein seligmachenden Weg.“

Stelzer selbst hat in Oberösterreich ebenfalls ein Arbeitsübereinkommen mit der FPÖ abgeschlossen, allerdings sitzen aufgrund des Proporzsystems auch SPÖ und Grüne in der Landesregierung. Schwarz-Blau in Oberösterreich ist in der Halbzeit der sechsjährigen Amtsperiode angekommen. Die Aufregung über diesen Pakt mit den Blauen, nach Jahren von Schwarz-Grün, hat sich weitgehend beruhigt, wie auch jene über das „Null-Defizit“, das Stelzer und sein Stellvertreter Manfred Haimbuchner 2018 erstmals verordnet hatten. Vor einem Jahr ging der Protest quer durch das Land, als in allen Budgetbereichen gekürzt wurde, Förderungen ausblieben und die Kinderbetreuung am Nachmittag wieder kostenpflichtig wurde.

Schwarz-blaue Retropolitik wurde Stelzer damals vorgeworfen – Frauen zurück an den Herd. „Lob tut immer wohler, das ist klar“, sagt Stelzer heute dazu, „aber ich glaube, dass die Entscheidung vertretbar war. Und wir haben im Land so viele Beschäftigte wie noch nie, beiderlei Geschlechts.“ Das Kinderbetreuungsbudget werde laut Voranschlag 2019 – in dem man wieder eine Null-Neuverschuldung anpeilt – jedenfalls wachsen, um den Betreuungsbedarf bei den Kleinkindern abzudecken. Ebenso soll es Zuwächse für Soziales, Gesundheit und Kultur geben.

Gesellschaftspolitisch rückwärtsgewandt, das sehen die Kritiker von Schwarz/Türkis-Blau als ideologisches Unterfutter dieser Regierungskonstellation. Gefestigt wird dieser Eindruck, wenn ÖVP-Frauenministerin Juliane Bogner-Strauß die Förderungen für Frauenprojekte kürzt.

Stelzer sieht die gemeinsame ideologische Basis von ÖVP-FPÖ-Bündnissen naturgemäß woanders: „Die nach vorne gewandte und international ausgerichtete Entwicklung des Wirtschaftsstandorts mit vielen Maßnahmen: Infrastruktur, Verfahrensbeschleunigung, Arbeitszeit. Die Herausforderung für beide Regierungen wird es sein, den Standort zu festigen.“ Und auf die Frage, ob Kürzungen bei der Mindestsicherung oder die Abschaffung der Notstandshilfe nicht viel mehr Existenzängste bei den Betroffenen schüren, meint er: „Jede Diskussion oder Neuerung löst immer auch Verunsicherung aus, das habe ich gelernt und darauf muss man aufpassen. Das darf einen aber nicht davor zurückschrecken lassen, dass man sich drüber traut.“

© Ricardo Herrgott Siegfried Nagl ist seit 2003 Bürgermeister von Graz. Seit 2017 regiert er mit der FPÖ

Soziale Kälte

„Ich bin ja nicht der Meinung, dass die Message Control der Regierung so perfekt funktioniert, wie alle sagen“, meint der Politikberater Thomas Hofer. Gerade bei den Sozialthemen mache sich die Regierung ihre Probleme eher selbst und nicht die Opposition. Die Reform der Sozialversicherungsanstalt mit der Schließung der Unfallversicherungsanstalt AUVA und ihrer Spitäler zu verquicken, wie es Sozialministerin Beate Hartinger-Klein getan hat, sei ein solcher Fehler. Oder: „Den 12-Stunden-Arbeitstag darf ich als Regierung nie so nennen. Das zeigt, wo die Regierung verwundbar ist.“ Die schwarz-blaue Regierung unter Wolfgang Schüssel sei genau am Image der sozialen Kälte gescheitert und genau das wolle die ÖVP nun vermeiden. „Schüssel ist eine Pensionsreform angegangen, die bis heute nachwirkt. Das macht diese Regierung bewusst nicht, weil Kurz nicht ins sozial kalte Eck gestellt werden will.“ Wenn also Reformen in diesem Bereich, dann werden sie immer über die Migrationsschiene gespielt. Und die ÖVP interpretiert Gerechtigkeit in ihrem Sinn: nämlich Gerechtigkeit für Leistungsträger, die mit ihren Steuern das System mitfinanzieren.

Stadt, Land, Bund

„Leben und leben lassen“, sei die Devise zwischen Türkis und Blau, meint Hofer. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache vergleicht auf Facebook Weihnachtsmärkte mit muslimischen Zeltstädten oder attackiert ORF-Anchor Armin Wolf. Solche Dinge würden ihm ebenso wenig „passieren“, wie das rassistische „Ali“-Video, das von der FPÖ ins Netz gestellt wurde, ist Politikwissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle überzeugt. „Das ist eine Strategie, denn die FPÖ-Anhänger wollen Unterhaltung im Netz. Und je mehr sich die Medien darüber empören, desto besser funktioniert es.“ Die ÖVP reagiert darauf nur in wirklich schweren Fällen. „Dafür setzt sie eigene Kontrapunkte, wie die Distanzierung von Viktor Orbán oder die Einladung von George Soros ins Kanzleramt. Da schießt dann wiederum die FPÖ nicht quer“, erklärt Hofer den koalitionären Stillhaltemodus.

Dennoch stellen sich viele die Frage, ob die ÖVP nicht zu nachsichtig gegenüber Rechtsaußen-Ausritten ihres Koalitionspartners ist. Wann da wohl die rote Linie überschritten ist?

Siegfried Nagl ist Langzeitbürgermeister in Graz und laut Eigendefinition „der wohl bunteste Bürgermeister Österreichs“. Er war nämlich schon mit allen Parteien in einer Koalition. Mit der SPÖ. Mit den Grünen. Sogar mit der KPÖ, „weil es sich mehrheitlich nicht anders ausgegangen ist. Und seit eineinhalb Jahren regiert er Graz mit der FPÖ. Jede Partei habe ihre Ideen und ihre Spuren hinterlassen, sagt er. „Mit den Grünen ist sogar besonders viel weitergegangen bei Reformen.“ Und dennoch habe er an einem Vormittag mit ihnen gebrochen, sagt er, weil diese sich zwar ans Koalitionsprogramm gehalten hätten, „aber gegen alle neuen Projekte, die ich vorgehabt habe, waren“.

Wie er das heute mit der FPÖ, bei allem Vertrauen, das derzeit zwischen ihm und Mario Eustacchio herrsche, halten würde? Derzeit will man „gemeinsam das Tempo in der Stadt erhöhen“, reagiert auf das starke Wachstum der Landeshauptstadt mit dem Bau ganzer neuer Stadtviertel. Aber: „Wenn es einfach nicht mehr geht, immer wieder Gegensätze da sind, dann zieh ich die Reißleine und das wird es vielleicht auch gegenüber der FPÖ geben; oder umgekehrt. Wenn du kein gemeinsames Bild von der Zukunft hast, lass ma es lieber.“ Oder, anderes Beispiel: „Ich hab mit Radikalisierung links und rechts ein Problem. Und wenn es zu radikal wird, bin ich nicht mehr dabei, denn ich bin ein Vertreter der Mitte.“ Jetzt aber sieht er das in Bund und Stadt noch anders: „Ich verstehe ja nicht, welche Schreckgespenster an die Wand gemalt werden, nur weil sie im Bund so eine Koalition haben. Jede Fraktion bringt Wertvolles ein.“

Graz ist eine „Menschenrechtsstadt“, das betont Nagl im Gespräch immer wieder. Naheliegend, dass man da rasch beim restriktiven Kurs der Bundesregierung gegenüber Zuwanderern landet. Wie viele Mädchen in Grazer Volksschulen ein Kopftuch tragen? „In den Volksschulen kaum eines, weil diese ja erst von den älteren Mädchen getragen werden.“ Ob die FPÖ mit dem Kopftuchverbot dort Symbolpolitik betreibe? „Ja“, sagt er, und er sei gegen ein isoliertes Verbot. „Ob das gut ist, weiß ich nicht, weil es viele Musliminnen, die das aus religiösen Gründen tragen, auch verletzen mag. Auf der anderen Seite finde ich es gut, wenn wir das Thema Frauenrechte hochhalten.“ Nagl erneuert seine Forderung nach einem Werteunterricht an den Schulen, in dem über alle Religionen gesprochen wird. „Religionsunterricht, in den du freiwillig gehst, kann stattfinden, aber es gehört ein genereller Ethikunterricht her.“

Offene Fragen

In Fragen der Zuwanderung, meint Nagl, finde die Abstimmung mit der Bevölkerung an der Wahlurne statt. „Und da haben ÖVP und FPÖ eine klare Mehrheit bekommen und jene, die mit offenen Armen alle hereinlassen wollen, sind abgestraft worden.“ Allerdings: „Über die Spannweite vom Erkennen von Ängsten und dem Bedienen von Ängsten können wir wahrscheinlich diskutieren. Es gibt einen Grund, warum diese Regierung gewählt wurde: Weil sie Ängste erkannt haben. Ob man die dann immer bedienen muss, ist eine andere Frage.“

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 48/2018