Warum uns das Gewissen
Österreichs warnt

Er hat Jahrzehnte österreichischer Politik miterlebt und geprägt: Nun wird Altbundespräsident Heinz Fischer 80 und ist noch immer hellhörig für gefährliche Tendenzen. Er will kein Mahner sein, doch er redet Regierenden und den Menschen im Land ins Gewissen – und bleibt stets Optimist

von Politik - Warum uns das Gewissen
Österreichs warnt © Bild: Ricardo Herrgott

Sie waren 65 Ihrer fast 80 Lebensjahre politisch aktiv und immer ein Mann des Ausgleichs. Heute herrscht in der Politik ein viel rauerer Ton. Warum ist das so?
Ja, der Ton ist rauer geworden, das Bemühen um Konsens deutlich schwächer. Jene, die derzeit an der Regierung sind, meinen: „Wir haben zu hundert Prozent recht, die anderen haben zu null Prozent recht.“ Daher gibt es auch nicht viel zu verhandeln. Vor ein paar Tagen drehe ich den Fernseher auf und sehe den Innenminister im Parlament auf der Regierungsbank, bei einer Sondersitzung zur BVT-Affäre. Der Minister ist dem Nationalrat verantwortlich, soll Rede und Antwort stehen und sagt wörtlich: „Ich habe recht, und Sie haben unrecht.“ Da hab ich mir gedacht: Da fehlt etwas. Nämlich das Gefühl, dass wir in einer pluralistischen und liberalen Demokratie leben, wo diese Einstellung eines Ministers gegenüber einem Parlamentarier extrem deplatziert ist.

Wo führt das hin?
Natürlich gibt es viele, die in die Vergangenheit blicken und sagen: Das ist eine gefährliche Entwicklung. Wir haben schon einmal erlebt, dass die Gegensätze immer größer werden und dann die Entwicklung ­unkontrollierbar wird. Aber ich bin Optimist und hoffe, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Die alte Koalition hat offenbar zu lange gedauert und auch Fehler gemacht, sodass jetzt das Pendel in die andere Richtung ausschlägt, nämlich alle Tugenden einer großen ­Koalition und einer Sozialpartnerschaft über Bord zu werfen. Ich hoffe, dass sich das nicht ins Extreme steigert, sondern sich zeitgerecht die Vernunft durchsetzt.

Die Ablehnung zwischen SPÖ und ÖVP ist über die Jahre gewachsen, mittlerweile scheinen Proponenten fast schon hasserfüllt.
Ich glaube nicht, dass das politische Klima in den 1950er- und 1960er-Jahren viel zarter war, aber es waren die historischen Erfahrungen aus dem Bürgerkrieg 1934 präsenter als heute. Im Lichte der Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Krieges hat man zusammengefunden und gesagt: Wir müssen die Vergangenheit überwinden und neu anfangen. Die schrecklichen Fehler von damals dürfen sich nicht wiederholen. Es gab daher das Bewusstsein, wie wichtig Pluralismus ist und dass die Sozialpartnerschaft kein Selbstzweck und kein Selbstbedienungsladen ist. Dieses Wissen ist bei einer Generation, die erst Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, nicht so ausgeprägt, dass es Niederschlag im politischen Alltag findet. Jedenfalls wird es vom Streben nach möglichst viel Macht überlagert.

An welchem Punkt hat der Dauerkonflikt zwischen SPÖ und ÖVP begonnen?
Als die erste Große Koalition 1966, nach 21 Jahren, zu Ende gegangen ist, hat es in der SPÖ, vor allem bei Bruno Kreisky, die große Sorge gegeben, dass wir dort wieder anfangen, wo wir in der Zwischenkriegszeit aufgehört haben. Aber die ÖVP hat das gespürt und viel getan, um den Eindruck zu vermeiden, sie käme wieder auf die „Dollfußstraße“. Sie hat viele Gesten gesetzt, dass sie die SPÖ nicht ausgrenzen oder aus dem politischen Spektrum eliminieren will. Kreisky seinerseits hat das, als er 1970 Kanzler wurde, aufgenommen und viele Fäden zur ÖVP und zu Leuten aus der Wirtschaft geknüpft. Durch den Aufstieg Jörg Haiders in den 80er- und 90er-Jahren und die Art, wie er Politik gemacht hat, hat sich das politische Klima in Österreich verschärft, weil man gesehen hat, dass diese aggres­sive, sehr populistische Politik erfolgreich war. Manche ÖVPler sagen, dass die Übernahme der Creditanstalt Ende der 1990er-Jahre ein Schockerlebnis war, eine Kriegserklärung. Viele in der SPÖ sagen, dass dann die Koalition von Schüssel und Haider ein nächster Schritt zur Entfremdung war.

© Ricardo Herrgott Auch zwei Jahre nach Ende seiner Präsidentenzeit wird Fischer erkannt, gegrüßt und zu Selfies gebeten. Er hat das gern

Heute ist in der ÖVP eine Generation am Ruder, die die „Sozen“, wie sie sie nennt, geradezu verachtet.
Ich persönlich kann mich nicht beschweren, aber ich höre von vielen Freunden, dass sie aggressive Gefühle und das große Machtbewusstsein der anderen Seite deutlich spüren. Bei Personalentscheidungen wie im Verfassungsgerichtshof oder der Nationalbank hat man früher auch bei Alleinregierungen darauf geachtet, dass bestimmte ungeschriebene ­Regeln beibehalten werden. Wenn Sie mich heute nach ­einer ungeschriebenen Regel zwischen den Regierungsparteien einerseits und der SPÖ andererseits fragen – ich kenne keine, die da noch gültig ist.

Hätte die SPÖ die türkis-blaue Regierung verhindern können, wenn sie es nach der Wahl billiger gegeben hätte?
Was heißt „billiger“? Eine Neuauflage der letzten Koalition hätte vorausgesetzt, dass es auf beiden Seiten den festen Willen gegeben hätte, zu sagen: Was immer zuletzt passiert ist, wie immer die Bremsmechanismen konstruiert waren, um dem damaligen Kanzler keine Erfolge zu gönnen – wir wollen diese Zusammenarbeit runderneuert fortsetzen. Doch dieser Wunsch war, nach meinem subjektiven Urteil, bei der SPÖ relativ schwach ausgeprägt, weil man dem Spitzenkandidaten der ÖVP misstraut hat, und bei der ÖVP überhaupt nicht vorhanden, weil man eben eine Wende in der Politik und die ganze Macht wollte.

Sie haben die FPÖ in der Regierung zweimal scheitern gesehen, in den 1980er- und in den 2000er-Jahren. Wie tut sie sich aktuell?
Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Wenn ein Mann sagt, Franz Jägerstätter, der zur Zeit Hitlers den Dienst mit der ­Waffe in der Deutschen Wehrmacht verweigert hat und dafür in den Tod gegangen ist, gehört nicht gewürdigt, sondern verurteilt, was soll man dazu sagen? Ich habe Jägerstätters Witwe kennengelernt und mit ihr über den riesigen Schmerz, den ihr seine Gewissensentscheidung verursacht hat, gesprochen. Man kann ­ Jägerstätter gar nicht hoch genug ehren und würdigen – und dann das …

Die Bundesregierung hatte Herrn Keyl, auf den Sie sich beziehen, für das Bundesverwaltungsgericht nominiert. War das eine bewusste Provokation?
Ich glaube nicht, dass es eine Provokation war, weil diese ­Regierung ja Anerkennung im In- und Ausland finden will. Als Provokation wäre das extrem dumm, das kann man nicht ­annehmen. Aber die Nominierung ist ein Faktum. So, wie auch ein bestimmtes Liederbuch ein Faktum war, das in einer Burschenschaft kursiert ist. So sind eben manche – nicht alle – in der FPÖ. Zur ­österreichischen Geschichte gehört die Tatsache, dass sich die nationale Strömung, die es auch in anderen Ländern gegeben hat, in einer Weise entwickelt hat, dass sie zu einer Stütze des Nationalsozialismus wurde. Diese historische Tatsache hat zwar nur mehr geringe, aber immer noch vorhandene Nachwirkungen. Und derzeit gibt es in Europa national-populistischen Aufwind.

Die Wahl 2017 wurde mit dem Flüchtlingsthema gewonnen. Das Thema wird von der Regierung weiter vorangetrieben. Manche fühlen sich dadurch an die dunklen Zeiten der Geschichte erinnert. Zu Recht – oder ist das eine unverhältnismäßige Zuspitzung?
Das ist eine wichtige, aber auch heikle Frage. Österreich ist nach wie vor eine funktionierende Demokratie, ein Staat, eingebettet in andere europäische Demokratien, mit einer florierenden Wirtschaft. Auf der anderen Seite stimme ich denen zu, die sagen: Man muss wachsam sein. Und Minderheiten zum Sündenbock zu machen, ist ein gefährliches Spiel. Flüchtlinge zum Gegenstand von Aggressionen zu machen, weil sich das in wirksame Wahlwerbemunition umfunktionieren lässt, darf man nicht durchgehen lassen. Das heißt noch lange nicht, dass man die heutige Zeit mit jener vor 80 Jahren vergleicht. Aber es heißt Lehren ziehen aus der Tatsache, dass Menschen gute und schlechte Eigenschaften haben und es wichtig ist, die schlechten nicht zu bedienen und sie nicht zum Instrument der Politik zu machen.

Würden Sie die ÖVP heute noch als christlich-sozial bezeichnen?
Hm … (denkt nach). Darüber gibt es ja innerhalb der ÖVP selbst heftige Diskussionen, und ich will mich da nicht einmischen. Aber die Grundwerte des Christentums besagen doch, dass man schwachen oder auf der Flucht und in Not befindlichen Menschen in einer menschlichen Weise begegnen und helfen muss. Ich weiß nicht, wie der Herr Kardinal das einschätzt und andere, die befugt sind, da ein Urteil abzugeben. Mein Verständnis vom Christentum ist, dass es zu den Grundprinzipien gehört, auf der Seite der Schwächeren zu stehen und nicht die Lebensbedingungen von Flüchtlingen gezielt immer schwieriger zu gestalten, damit kein Pull-Effekt entsteht.

Sie waren lange Nationalratspräsident. Wie gefällt Ihnen denn heute der Umgang der Regierung mit dem Parlament?
Die Oppositionsparteien sind stark und selbstbewusst genug, um sich zu wehren und aufzuzeigen, was richtig und falsch ist. Aber zwei Beispiele haben mich sehr nachdenklich gemacht. Das schon erwähnte des Innenministers und die Art, wie das Gesetz über die 60-Stunden-Woche verabschiedet wurde. Das war kein gutes Stück parlamentarischer Arbeit, meiner bescheidenen, privaten Meinung nach. Wenn man auf ein Begutachtungsverfahren verzichtet, einen Fristsetzungsantrag einbringt, zusätzlich im letzten Augenblick noch einen Abänderungsantrag einbringt und dann auch noch das Inkrafttreten des Gesetzes vorverlegt, dann zeigt das in Summe, dass man eigentlich unsicher ist und Angst vor kritischen Beiträgen oder Änderungsvorschlägen hat. Grundsätzlich ist es immer eine Tendenz von Regierungen, einem allfälligen Widerstand aus dem Parlament möglichst stromlinienförmig auszuweichen. Das haben auch frühere Regierungen getan. Aber wichtige und kontroverse Materien wie Strafrechtsreform, Universitätsreform, Arbeitsverfassungsgesetz, Zivildienstreform etc. wurden gründlich und monatelang beraten. „Speed kills“ ist das Gegenteil von parlamentarischer Kultur.

© Ricardo Herrgott „Deine Freundin aus Afghanistan ist genauso ein Kind wie du“

Eine populistisch-nationalistische Politik schlägt auch auf die europäische Ebene durch. Die Bundesregierung hat vielleicht deshalb die Subsidiarität zu einem Thema der Ratspräsidentschaft gemacht. Ist das ein Fortschritt oder ein Rückschritt?
Worüber wir uns hier unterhalten, ist sicher kein spezifisch österreichisches Phänomen. Es gibt in der europäischen Entwicklung derzeit eine gewisse Schwerpunktverschiebung nach rechts. Geschichte bewegt sich nicht linear, sondern in einem dialektischen Prozess, wo unterschiedliche Grundströmungen in der Gesellschaft abwechselnd vorherrschen. Sorgen macht das, wenn es so weit geht wie in Ungarn oder Polen und die EU in ein Dilemma kommt: Ignoriert sie das und wird ihren Grundprinzipien untreu, oder greift sie die Problematik auf und nimmt in Kauf, dass die Geschlossenheit und reibungslose Zusammenarbeit beschädigt wird. Und was die Subsidiarität betrifft, habe ich nichts dagegen, wenn man sagt, es gibt Dinge, die man nicht auf europäischer Ebene lösen muss. Ich fürchte nur, dass das Wort vor allem von jenen verwendet wird, die für den Rückbau der Europäischen Union eintreten. Die zurück wollen zu einem „Europa der Vaterländer“, wie es De Gaulle formuliert hat, und dafür das Kennwort „Subsidiaritätsprinzip“ verwenden.

Kann die EU daran zerbrechen?
Die Frage des Zerbrechens wird am häufigsten in Bezug auf die Demokratie gestellt. Da bin ich Optimist. Ich bin überzeugt, dass das demokratische Prinzip stärker ist als das autoritär-totalitäre Prinzip. Der Mensch hat eine gewisse Sehnsucht nach Autorität, aber mindestens genauso viel Sehnsucht nach Freiheit. Darum gibt es in der historischen Entwicklung auch ein permanentes Gegenspiel von Autoritäts- und Freiheitstendenzen. Wenn ich mir aber das 20. Jahrhundert ansehe, sind alle Diktaturen, die in dieser Zeit in Europa existiert haben, zerbrochen. Im Kampf Demokratie gegen Diktatur hat die Demokratie eine sehr positive Bilanz. Aber zu sagen, sie sei unzerstörbar, ist falsch. Ein bisschen ähnlich ist es mit der EU. Sie ist nicht unzerstörbar. Dass die Europäer ihre gemeinsamen Ziele und Werte auch gemeinsam vertreten, dieser Gedanke ist stark, aber er muss immer wieder aufs Neue lebendig erhalten werden gegen national-populistische Tendenzen, die nicht nur nicht ausgestorben sind, sondern momentan tenden­ziell stärker werden. Populismus und Nationalismus sind halt eine ziemlich gefährliche Mischung.

Zu Ihrer Partei, der SPÖ. Bei der Nationalratswahl hat die ÖVP den Zeitgeist geschickter erfasst, und die SPÖ war aufgrund innerer Konflikte nicht auf der Höhe.
Die SPÖ hat den Vorteil, aber auch den Nachteil, stärker grundsatzgebunden und vielleicht auch geschichtsgebunden zu agieren als die ÖVP.

Die türkise ÖVP?
Ja, genau, die haben sich unter den Fittichen der „alten ÖVP“ entwickelt, dann die alte Parteiführung gestürzt und vollziehen jetzt den rechtskonservativen Konsens mit der FPÖ. Es ist viel zu früh, zu beurteilen, was da letzten Endes herauskommen wird.

Nicht zuletzt an dieser türkisen ÖVP ist der Noch-SPÖ-Chef Christian Kern gescheitert. Hand aufs Herz: Verstehen Sie die Volte, die er jetzt Richtung EU-Parlament geschlagen hat?
Ich habe mir mit Christian Kern einen Termin für ein ­Mittagessen ausgemacht, und wir werden uns vertrauensvoll austauschen. Vor diesem Zeitpunkt habe ich kein Mitteilungsbedürfnis außer der Feststellung, dass ich ihn sehr schätze.

Sie waren, bevor Sie Bundespräsident geworden sind, 41 Jahre lang in jeder Parteivorstandssitzung der SPÖ. In dieser Zeit hat die SPÖ, wie es immer heißt, viele Arbeiter an die FPÖ verloren. Wann hat sie diesen Zug verpasst?
Ich glaube, das Bild mit dem verpassten Zug passt nicht. Es hat sich das Klima im Land in vielfacher Hinsicht verändert, und wenn man sagt, die SPÖ hat die Arbeiter verloren, muss man auch bedenken: Der Begriff Arbeiter wird heute völlig anders definiert als früher. Der Blue-Collar-Worker ist, glaube ich, immer noch ein Sozialdemokrat. Aber die Zusammensetzung des unselbstständigen Teils der berufstätigen Bevölkerung hat sich von Grund auf verändert. Man kann nicht ­sagen, der Kreisky, der Klima oder der Gusenbauer hat den Zug verpasst, sondern es ist eine neue Entwicklung eingetreten. Die klassischen Massenparteien, die in Österreich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden sind und die auch die demokratischen Phasen des 20. Jahrhunderts geprägt und gestaltet haben, sind schwächer geworden.

Und für den sozialen Fortschritt ist die SPÖ nicht bedankt worden?
Der Gewöhnungseffekt an das Positive ist eine Realität, außerdem ist der soziale Fortschritt zuletzt weitgehend zum Stillstand gekommen. Aber das Gefühl, der Lift fährt dauernd aufwärts, ist nicht mehr vorhanden und muss eher der Angst vor einer ungewissen Zukunft Platz machen. Das Dritte ist: Es ist eine Realität, dass die Menschen sich von Ablehnung und Abgrenzung gegenüber Fremden anstecken lassen, sodass man es sich sogar leisten kann, junge, integrationswillige und in Ausbildung befindliche Lehrlinge, die man dringend benötigt, abzuschieben.

Die SPÖ hat sich lange mit einem Migrationspapier gefrettet, das nun vorliegt. Rückt sie nach rechts?
Mit dem Migrationspapier wird versucht, eine schwierige Aufgabe zu lösen. Denn eines ist ja wahr: Auch die SPÖ weiß, dass die Haltung – alle, die wollen, können zu uns kommen – nicht durchhaltbar ist. Daher muss man faire Regelungen schaffen. Da werden manche sagen, die unterscheiden sich aber von Positionen, die ihr vor drei Jahren eingenommen habt. Die Antwort ist: Es hat sich auch die Problemlage in Europa verändert. Aber es geht um die Grundhaltung gegenüber Migranten, und nicht nur jeder Sozialdemokrat, sondern jeder Europäer, der das Grundprinzip einer ­unteilbaren Menschenwürde ernst nimmt, ist meines Erachtens verpflichtet, Feindseligkeit und populistisches Agieren gegen Flüchtlinge abzulehnen. Es geht z. B. darum, unsere Kinder so zu erziehen, dass man sagt: „Deine Freundin aus Afghanistan oder der Lehrling aus Syrien ist genauso ein Kind und ein Mensch wie du, wird von seiner Mama genauso lieb gehabt und ist ein genauso wertvoller Mensch.“ Die Menschenwürde der Flüchtlinge ist hochzuhalten. Das ist für mich der Rubikon.

Ist es das politische Erbe von Jörg Haider, dass man mit diesem Thema Wahlkampf macht?
Wahr ist, dass Jörg Haider als Erster erfasst hat, wie „wertvoll“ das Thema Flüchtlinge und Gastarbeiter für eine national-populistische Propaganda ist. So ist es ihm gelungen, das Grundempfinden der Menschen gegenüber Flüchtlingen distanzierter zu machen, als es zu Zeit der ungarischen Revolution oder zur Zeit des Prager Frühlings war. Das ist wohl das traurige Erbe des Jörg Haider.

Heute sind Sie für das Gedenkjahr 1938 zuständig. Ein Ereignis des Gedenkjahres war die Rede von Michael Köhlmeier, in der er gesagt hat: „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan.“ Werden uns unsere Enkel eigentlich fragen, was wir 2018 und in den Folgejahren getan haben?
Ich bin ganz sicher, dass unsere Kinder und Enkelkinder uns fragen werden, was wir vor 20, vor 30, vor 40 Jahren getan ­haben und was wir unterlassen haben. Da ich selber Enkelkinder habe, ist mir das jeden Tag bewusst, und ich fürchte, dass viele von uns zugeben werden müssen, aus Bequemlichkeit und wider besseres Wissen oft genug weggeschaut zu haben und verhinderbares Leid von Männern, Frauen und Kindern in Kauf genommen zu haben. Und unsere Kinder und Enkelkinder werden vielleicht auch folgende Frage stellen: Habt ihr denn nicht begriffen und erkannt, dass Menschen sich immer wieder in der ­Geschichte verführen ließen, bestimmte Gruppen oder Minderheiten, die „anders“ waren als die jeweilige Mehrheit, zu Feindbildern zu machen, sie als nicht gleichberechtigt und gleichwertig zu betrachten, ­ihnen alles Mögliche in die Schuhe zu schieben und sie im wahrsten Sinne des uralten Wortes zu „Sündenböcken“ zu machen? Denn diejenigen ­unserer Vorfahren, die selber Flüchtlinge waren, sind längst nicht mehr unter uns, und von denen, die unter uns sind, ­begreifen viele nicht, was es heißt, Flüchtling zu sein. Genau das werden die Themen sein, nach denen unsere Enkel fragen werden und wo manche Antworten nicht sehr schön und nicht sehr glaubwürdig ausfallen werden.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der Printausgabe 38 2018