Annalena Baerbock - Auf dem Sprung ins Kanzlerinnenamt

Die politische interessierte Welt staunt über die Kanzlerkandidatin der deutschen Grünen, Annalena Baerbock. Die 40-Jährige vereint Teamgeist mit Machtbewusstsein, führt in Umfragen und bildet einen Gegenpol zum restlichen Altherren-Starterfeld

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Politik - Annalena Baerbock - Auf dem Sprung ins Kanzlerinnenamt

Schon in dem Moment, in dem Annalena Baerbock und Robert Habeck vor die Kamera treten, um bekanntzugeben, wer von ihnen Kanzlerkandidat der Grünen wird, ist klar, wie das Rennen ausgegangen ist. Während Habeck sichtlich bewegt, fast fahrig zu sprechen beginnt, steht sie milde lächelnd im Hintergrund. Ruhige Körperhaltung. Die Hände gefaltet. Bereit für den großen Moment. Endlich kündigt Habeck sie als Kanzlerkandidatin an. Baerbock klopft ihm im Vorbeigehen leicht auf die Schulter, eine freundschaftliche Geste, aber auch ein bisschen herablassend, und stellt sich hinter das Rednerpult. Die Beine ein Stück weit auseinander. Stabile Position. So wie beim Trampolinspringen, einem Sport, den Baerbock jahrelang erfolgreich ausgeübt hat. "Guten Tag auch von meiner Seite."

So sieht es also aus, wenn Geschichte gemacht wird.

Die deutschen Grünen haben einen Lauf, wie man im Sport sagen würde. Zum ersten Mal in der Geschichte tritt die Öko- Partei mit der realistischen Aussicht auf den Kanzlerposten an. An der Spitze der Bewegung steht mit Annalena Baerbock eine junge Frau, die sich binnen weniger Jahre an die Spitze der Partei gearbeitet hat. Die studierte Völkerrechtlerin, die mit Mann und zwei Kindern in Potsdam lebt, gilt als pragmatisch, fleißig, detailversessen. Und als Vertreterin eines neuen Stils in der Politik. In ihrer Antrittsrede klang das so: "Zukunft ist nichts, was einfach so passiert, wir haben es in der Hand, und deswegen stehe ich heute hier." Oder: "Was alles nicht geht, haben wir in den letzten Jahren genug gehört. Aber es zählt jetzt, was alles geht." Oder: "Nicht gegeneinander arbeiten, sondern miteinander." Als bewegend, aber inhaltsleer bewerteten Kritiker die Rede. Aber in Zeiten, in denen die Kollateralschäden toxischer Männlichkeit allerorts in der politischen Landschaft zu bestaunen sind -Stichwort Laschet vs. Söder oder, ein Blick nach Österreich, Doskozil vs. sich selbst - verhilft dieses Konzept zu schwindelerregenden Umfragewerten. Bei 28 Prozent sah der "Sonntagstrend" des Meinungsforschungsinstituts Kantar die deutschen Grünen nach der Nominierung Baerbocks. Auf Platz eins, noch vor der Union aus CDU/CSU. Bei einer Kanzler-Direktwahl würden demnach 30 Prozent Baerbock wählen, 20 Prozent SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und nur 18 Prozent den angeschlagenen CDU-Chef Armin Laschet.

Internationale Vorbilder

Kanzlerin mit 40, ohne Regierungserfahrung und mit zwei unter zehnjährigen Kindern, ist das denkbar? Baerbock selbst verweist in diesem Zusammenhang gerne auf internationale Vorbilder. Jacinda Ardern, die neuseeländische Premierministerin, und der kanadische Premier Justin Trudeau würden die Vereinbarkeit von Beruf und (Kleinkinder-)Familie gut hinbekommen. Und Barack Obama sei ohne Regierungserfahrung Präsident geworden. Alle drei, Ardern, Trudeau und Obama, wollen oder wollten auch für einen neuen politischen Stil stehen. Einen dritten Weg, abseits von (Rechts-)Populismus und grauem Apparatschiktum.

Und so staunt die politisch interessierte Welt dieser Tage wieder einmal über ein Wunderkind, einen Neuling, eine Neulingin in diesem Fall, die gekommen ist, um alles anders zu machen: Baerbock gibt sich pragmatisch und machtbewusst, trotzdem als Teamplayerin. Nahbar. Sachlich. Sie verspreche, analysierte der "Stern","den kleinsten stilistischen Bruch mit der Ära Merkel". Scheinbar mühelos überflügelte sie das jahrelange grüne Zugpferd Robert Habeck bei der Kanzlerkandidatenfrage und nahm den parteiinternen Sieg ohne Triumphgeheul, aber mit klarer Ansage. Sie habe sich immer wieder geprüft, sagt sie öfter, und sei zu dem Schluss gekommen, dass sie die Spitzenrolle ausfüllen könne und wolle. Kraft kraft Selbstreflexion, nicht -überhöhung. Mit beiden Beinen fest auf dem Boden, aber bereit, zu springen.

Beim Trampolinspringen, erklärte sie dem deutschen Starjournalisten Reinhold Beckmann vor einigen Monaten in einer Fernsehdokumentation, sei das so: "Man muss beim Trampolin total mutig sein. Bei jedem neuen Sprung, den man lernt, weiß man nicht, ob man auf dem Kopf oder auf den Füßen oder wo auch immer landet."

Ob sie im Kanzleramt landet? Nicht ausgeschlossen.

Lebensrealität

Auch Österreichs Politszene beobachtet den deutschen Shootingstar gespannt. Sie vermöge nicht, zu beurteilen, ob Baerbock ein neuer Politikertyp sei, meint die PR-Beraterin und frühere grüne Kommunikationschefin Karin Strobl, "aber ich sehe innerhalb einer jüngeren Generation schon einen Typ Politikerin oder Politiker, der in der Kommunikation sehr stark die Lebensrealitäten der Menschen abbilden. Da geht es weniger um klassische Politspreche, sondern darum, zu erklären, wie man das Leben seiner Wählerinnen besser machen kann. Und ich finde, das gelingt Baerbock sehr gut."

Von Vergleichen mit Jacinda Ardern, die ein Land mit nur knapp fünf Millionen Einwohnern regiert, oder Justin Trudeau, "der meiner Meinung nach kein politisches Schwergewicht ist", hält Strobl wenig. "Wenn ich in ihrem Kommunikationsteam wäre, würde ich diese Vergleiche nicht so sehr heraushängen lassen, auch wenn es Parallelen bei Empathie und Menschlichkeit gibt." Sie sehe Gemeinsamkeiten mit Österreichs grüner Justizministerin Alma Zadic: "Ich habe mir einige ihrer Reden noch einmal angehört. Und da hat sie ähnlich agiert wie Baerbock. Sie hat aus ihrer eigenen Perspektive erzählt, davon, wie sie als Flüchtlingskind nach Österreich gekommen ist und hier als junge Frau gelebt hat, und damit ein Narrativ sehr gut in politische Sprache übersetzt." Es werde interessant sein, zu sehen, meint die Kommunikationsexpertin, wie Baerbock, einmal in der Regierungspolitik angekommen, ihre Sprache verändern werde. "Auch Zadic muss jetzt sehr viel knochentrockene Materie kommunizieren. Als Ministerin bedient man sich keiner blumigen Sprache mehr, weil es nicht immer dem Amt entspricht."

Der Politikberater Lothar Lockl war als Wahlkampfleiter Alexander Van der Bellens selbst einmal Teil eines politischen Wunders, das Maßstäbe setzte. Klare Ansagen und konstruktiver Stil, dafür stand vor Jahren die VdB-Kampagne, das will heute Baerbock in Deutschland verkörpern. "Das Ende der Ära Merkel ist ein epochaler Umbruch", meint Lockl. "Nach 16 Jahren Kanzlerschaft entsteht gerade eine Wechselstimmung, und da passt Baerbock perfekt hinein. Sie ist noch nicht lange in der Spitzenpolitik, hat einen rasanten Aufstieg hinter sich und ein sehr jugendlich-erfrischendes Auftreten. Sie verbindet Machtwillen mit Optimismus und steht für einen neuen politischen Stil. Und sie hat es geschafft, die Führungsfrage intern zu lösen. Bei der Union wird immer wieder die Frage auftauchen, ob nicht doch Söder der bessere Kandidat gewesen wäre."

Bisher wirkt die Achse Baerbock-Habeck harmonisch, auch wenn ein Interview, das Habeck kurz nach Baerbocks Präsentation der "Zeit" gab, vor Enttäuschung förmlich troff. Ein gutes Miteinander der Parteispitzen ist Voraussetzung dafür, dass die Grünen ihre guten Umfrageergebnisse in den Herbst retten können. "Geschlossenheit in einer Wahlbewegung ist für Wählerinnen und Wählern extrem wichtig", sagt Lockl. "Baerbock wirkt souverän, sie hat sich sehr gut vorbereitet. Auch die Grünen haben sich gut vorbereitet, wenn man das Außenbild mit jenem der CDU/CSU vergleicht. Aber es ist noch eine lange Zeit bis zur Wahl. Sie muss die Lust, die sie jetzt ausstrahlt, behalten."

Deutschlands Kurz

In Österreich denkt man bei dem Slogan "neuer Stil" an eine andere Bewegung, die vor vier Jahren antrat, um Partei und Land zu reformieren: Sebastian Kurz' türkise Volkspartei. Der ÖVP-nahe Berater Daniel Kapp sagt: "Ein nüchterner Blick auf das Phänomen Annalena Baerbock zeigt, dass sie eine durchaus machtbewusste und zumindest innerhalb ihrer Partei damit durchaus erfolgreiche Politikerin ist. Sie ist in ihrem Machtbewusstsein wahrscheinlich gar nicht so viel anders als Sebastian Kurz, aufgeladen eben mit grünen Themen, die Konjunktur haben im Gesamtkontext der Thunberg-Bewegung." Anfangs als Habecks Anhängsel wahrgenommen, habe sie es rasch geschafft, "ihn, und da mag es Habeck ein bisschen gehen wie Mitterlehner, kaltzustellen und sich als Kanzlerkandidatin zu positionieren".

Eine Generation jüngerer Politiker, die das Establishment seit einigen Jahren aufmischt?"Ja, so würde ich das sehen. Sebastian Kurz ist hier der Protagonist, und wenn man so will, ist Annalena Baerbock Sebastian Kurz in Grün. Söder dagegen erscheint als Altpolitiker, der versucht, auf Sebastian Kurz zu machen. Laschet ist, fürchte ich, ein bisschen der Michael Spindelegger der CDU, sehr ordentlich und solide, mit wenig Strahlkraft. Baerbock dagegen stellt wie Kurz authentisch ein Phänomen ihrer Generation dar. Ein neuer Politikertypus, frischer, agiler und frei von der Anmutung des Parteiapparatschiks. Wenn ihr die linke und öko-orthodoxe Parteibasis keinen Strich durch die Rechnung macht, hat sie gute Chancen, sich in der Mitte zu positionieren und eine zentrale Rolle bei der nächsten Regierungsbildung zu spielen."

Nervenstärke

Der ganze große sportliche Erfolg, erzählt Baerbock öfter, sei "an den Nerven" gescheitert. Dieses Problem dürfte sich nicht mehr haben. Als Talkmeisterin Anne Will sie zuletzt mit harten Fragen ("Sind sie es nur geworden, weil sie eine Frau sind?") aus der Reserve locken wollte, parierte Baerbock freundlich lächelnd, aber bestimmt und ohne in irgendeine Falle zu gehen -ein Glanz auftritt. Wann kommt der Punkt, an dem man ihr diese Professionalität zum Vorwurf machen wird? Wann wird Baerbock als zu glatt, zu mittig, zu angepasst wahrgenommen? Wie lange schafft sie es, positive Stimmung zu verbreiten und zugleich heiklen Themen auszuweichen? Die Fallhöhe ist hoch, das Potenzial auch. Fix ist: Merkel-Dämmerung? Baerbock-Anbruch.

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