"Der abgebaute Lueger wäre viel anwesender"

Darf man den Holocaust mit etwas vergleichen? Wie geht man gegen Judenhasser vor? Soll man Kultur "canceln"? Der israelische Soziologe Natan Sznaider antwortet

von Kultur - "Der abgebaute Lueger wäre viel anwesender" © Bild: Ricardo Herrgott

Was das für eine Geschichte ist, emotionalisierend, ungeheuerlich schon in den Eckdaten! Da ging der 1954 geborene Natan Sznaider, Sohn polnischstämmiger staatenloser Überlebender der Shoa, die es Gott weiß wie nach Mannheim geschafft hatten, im Alter von 20 Jahren aus dem sicheren Deutschland ins bedrohte Israel. Er arbeitete dort in Kibbuzim, studierte in Tel Aviv und New York und wurde einer der namhaften Soziologen unserer Zeit. Seit 1996 hält er in Tel Aviv den Lehrstuhl "Soziologie des Holocaust", und jetzt ist er als einer von acht für den begehrten Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Und zwar mit einem Werk, das die deutsche Identität nach Auschwitz mitten in ihre Gewissheiten trifft. Es heißt "Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus",* und schon der Titel erzeugt ein vages Gefühl des Unheils: "Holocaust und ..." kann nicht sein. Denn die Shoa hat im deutschen Bewusstsein, das in dieser Hinsicht wesentlich entwickelter ist als das österreichische, mit nichts verglichen zu werden.

Der Fall Mbebe

Der Fall, von dem Sznaider ausgeht, hat Deutschland vor zwei Jahren erschüttert: Der kamerunische Politologe Achille Mbebe sollte die Eröffnungsrede des Theaterfestivals Ruhrtriennale halten, worüber sich ein riesiger Skandal entlud. Mbebe mit seiner Parallelführung von Apartheid und Shoa einen Verharmloser zu nennen, sei noch die freundliche Variante. Setze er doch die Palästinenserpolitik Israels mit dem Wüten der Nazis gleich, stelle gar die Existenz des Landes in Frage. Dass die Ruhrtriennale letztlich abgesagt wurde, darf man unter den sehr überblickbaren Verdiensten der Pandemie subsumieren.

Die ultimative Position darf man von dem klugen, selbstironischen Gelehrten weder im Buch noch im Interview erhoffen. "Verstehen Sie mein Buch als einen Fächer, den man aufklappt und verschiedene Facetten sieht. Aber wenn man ihn zuklappt und die verschiedenen Seiten nicht mehr zu sehen sind, wird er zu einem Hammer, mit dem man jemanden über den Kopf schlagen kann. Drum will ich ihn ja lieber aufklappen", sagt Sznaider.

Dabei befand man sich, als sich der Mbebe-Skandal losbrach, noch in der kommoden Situation, die Debatte ins ferne Palästina ausgelagert zu wissen. Und jetzt? Sind bis vor sehr kurzer Zeit Neonazis mit gelben Sternen und der plakatierten Ungeheuerlichkeit "Impfen macht frei" durch deutschsprachige Städte marodiert. Was tun? Die Gummiwurst, den Wasserwerfer in Betrieb setzen, ein Reflex, der zivilisierte Menschen in den vergangenen Jahren leicht anwandeln konnte? Hopsnehmen? Wegschließen?

© Ricardo Herrgott/News

"Ich bin nicht dafür, solche Menschen hopszunehmen und wegzuschließen. Ich finde ihr Tun geschmacklos, dumm, unter aller Kritik, man muss es aber auch soziologisch verstehen. Was bewegt Menschen, sich mit den Opfern der Geschichte derart zu identifizieren? Als jemand, der in Medien zentral arbeitet, wissen Sie selbst, dass Sprechverbote in unserer demokratischen Gesellschaft nicht durchzusetzen sind. Das Internet ist nicht zu kontrollieren, und wenn es kontrolliert wird, möchten Sie in so einer Gesellschaft nicht leben. Nein, wir müssen dagegenhalten, argumentieren, dem Streit nicht durch Zensur oder andere restriktive Maßnahmen aus dem Weg gehen, sondern hoffen, dass am Ende die besseren Argumente gewinnen."

Wolf Biermann, gleichfalls von Überlebenden der Shoa abstammend, hat kürzlich im News-Gespräch Stalin als den größten Judenmörder der Geschichte bezeichnet. Das Echo auf die Interviewfrage samt Einforderung des ultimativen Bescheids meldet sich mit schöner Ironie. "Darf man das sagen? Soll man das sagen? Biermann hat es gesagt, was soll es also? Ist dieser Blick vielleicht durch eigenes Erleben gefärbt wie der des afrikanischen Intellektuellen Mbembe, der die Verbrechen des weißen Mannes in den Kolonien als die schlimmsten der Geschichte qualifiziert? Sicher ist, dass Stalin einer der größten Menschheitsverbrecher war, auch über einen längeren Zeitraum als die Nationalsozialisten."

Kein verbales Verbotsgesetz?

Man darf also alles sagen? "Ich will mich nicht für Sprechverbote erklären, keine Sprechakte unter Strafe stellen. Das ist meinem liberalen und pluralistischen Ansatz zuwider." Soll also das Wiederbetätigungsgesetz im Bereich der verbalen Delikte ausgesetzt werden? Lange Pause. "Glaub schon." Kürzere Pause. "Ja."

Aber hat nicht der prinzipielle Konsens vor allem in Deutschland, dass man dort in den kurzen 1.000 Jahren das Recht auf fundamentale Israel-Kritik verwirkt habe, zu einer Art Klarheit geführt, von der man in Österreich nur träumen durfte?"Israel ist ein souveräner Staat, der mit Kritik umgehen kann. Dass man sich das Recht verwirkt hätte, so weit will ich nicht gehen. Es ist klar, dass auch Deutschland europäischer geworden ist und sich aus der eigenen Vergangenheit lösen möchte. Dass es mehr und mehr migratorische Prozesse gibt mit Menschen, die an den Tisch kommen und mitreden wollen und nicht nur geduldet, sondern auch Teil des Diskurses sind. Als souveräner Israeli breche ich deshalb nicht gleich in Schweiß aus."

Immigrierter Judenhass

Nun bedrängen uns aber, als reichten die noch lebenden Nazi-Leichname und ihre Enkel nicht, auch neue Formen des Antisemitismus: Von links drängen, als Israel-Kritiker maskiert, die Zeitgeistfratzen der BDS-Bewegung, die das Land über Sanktionen auslöschen wollen. Nicht zu reden von importierten, immigrierten Judenhassern, deren Parolen auf Demonstrationen man sich nicht ohne Verstoß gegen das Wiederbetätigungsgesetz übersetzen lassen könnte.

"Hier haben wir ein richtiges Problem", räumt der Professor ein. "Der Diskurs ist ungeheuer hart und scharf geworden, bis zur Vernichtungsphantasie mit Atombomben und der Wiedereröffnung von Auschwitz. Der Tabubruch hat ja eine erotische Anziehung. Wenn man so etwas sagt, erstarren alle, das gefällt einem. Man darf es im Netz, und wenn man es dort darf, darf man es auch auf den Demonstrationen."

© Ricardo Herrgott/News

Und was tun? Den Herkules-Flieger in Permanenzbetrieb Schwechat-Kabul-Schwechat versetzen, wie die FPÖ empfiehlt? Mme Le Pen vertrauen, die sich den Juden als letzte Verbündete gegen den Untergang durch arabischen Terror angedient hat?"Gott schütze uns vor unseren Freunden! Das sind doch demagogische Satzbausteine. Was man machen muss, ist das Finden eines Dialogs zwischen sich gegenseitig ausschließenden Denkstrukturen. Auf der einen Seite kann der Zionismus als Emanzipationsbewegung gesehen werden, sogar als antikolonialistischer Kampf der Juden, die in Europa intern kolonisiert waren und sich befreit haben. Aber für diejenigen, die diese West-Ost-Bewegung von vorne sehen, kommen hier europäische weiße Eroberer mit einem Kolonisationsund Unterdrückungsmodell. Man muss sich den Widersprüchen stellen, das ist die einzige Möglichkeit. Menschen mit arabischem Hintergrund kann man nicht automatisch zu Israel-Freunden machen. Aber man kann ihnen klarmachen, dass auch ihre Meinung nur eine partikulare ist. Also eine Erziehung zu Reflexion und Ambivalenz. Das ist meine Absicht."

Das Herzl-Lueger-Denkmal

Man ahnt es schon: Der Professor mit dem großen, gelassenen Appell zur Freiheit des Denkens kann kein Freund der unseligen Cancel Culture sein, die heute mit moralischem Anspruch Denkmäler ins Meer stürzt, an Werken der Literatur stümpert und keinen Othello mit schwarzer Maske dulden will. "Ich bin überhaupt nicht für Cancel Culture und auch nicht für Denkmalstürze. Das ist mir zu stalinistisch. Dafür ist man Schauspieler, dass Nichtjuden Juden spielen können. Wenn Al Pacino den Shylock spielt, dann ist das nicht Jewfacing! Wir erleben jetzt die extreme Variante der Identitätspolitik, die sowohl von ganz links als auch vom ganz rechts kommt. Ich bin, wie gesagt, liberaler Pluralist."

Und unser eigener Zertrümmerungskandidat, der Problemkoloss am Ring?"Ich möchte mich nicht in Wiener innere Angelegenheiten mischen und respektiere die Leute, die mit dem Lueger-Denkmal etwas machen wollen. Und etwas muss man damit machen. Aber auf keinen Fall abbauen, vergraben oder in die Donau werfen!" Schon, weil es beim Volumen des Monuments zu gefährlichen Zwischenfällen in der Schifffahrt kommen kann?"Richtig. Sie sollen es ruhig stehenlassen, denn das abgebaute Denkmal würde sehr viel anwesender sein als das Denkmal jetzt. Er würde ungeheuer präsent sein! Wenn ich in einer Denkmalkommission wäre, würde ich Lueger stehenlassen und drumherum eine kleine Ausstellung über ihn machen, in der festgestellt wird, dass man gleichzeitig Modernisierer und scharfer Antisemit sein kann, da gibt es keinen Widerspruch. Vielleicht könnte man ihm noch ein kleines Theodor-Herzl-Denkmal gegenüberstellen, wo der Lueger dann draufschauen kann."

Wer dann als Erster die Augen niederschlägt, wird interessant.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 18/2022.

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