Walserberg,
bitte warten

Innenminister Horst Seehofer macht ernst und will künftig Migranten nach Österreich zurückschieben. Wie Deutschland schon jetzt an der Grenze kontrolliert und was das heißt, sah sich News am deutschen Eck im Herbst an.

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Lauschig ist es nicht gerade, oben am Walserberg: Asphalt, Beton, Tankstellen, Parkplätze, ein Hotel, ein Bordell, ein Saunaklub und ein Laufhaus bilden ein Panoptikum fern der Beschaulichkeit. Hier, gleich hinter Salzburg, lag bis zu Österreichs EU-Beitritt im Jahr 1995 der größte heimische Grenzübergang. Ein Ort voller Erinnerungen. An erste Urlaube, an Ausflüge über das deutsche Eck nach Tirol oder runter bis Italien. Und davor die letzte Hürde: der fast schon obligatorische Stau am Walserberg. 34 Millionen Reisende in zehn Millionen Fahrzeugen stellte die letzte offizielle Zählung 1994 fest. Der spätere EU-Beitritt wurde für viele erst durch die freie Fahrt über die Grenze spürbar, denn damit endete auch das ewige Warten an Europas damals schon meistfrequentiertem Grenzübergang.

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Wenn Sandra Handke heute hinausblickt, sieht die Verkäuferin an der Tankstelle am Walserberg Tag für Tag dasselbe: stehende Autos. Blechkolonnen, die sich nur langsam vorwärtsschieben. Im Verkehrsfunk hört sie die dazu passenden Zeitangaben. 30 Minuten, 45 Minuten, eine Stunde Wartezeit am Walserberg. "Für das Geschäft an der Tankstelle ist es gut", sagt sie, "es bleiben mehr Leute stehen, machen eine Pause, kaufen ein. Aber für alle, die schnell weitermüssen, ist es schrecklich." Seit den Anfängen der Flüchtlingskrise vor genau zwei Jahren ist dies die neue Realität an der österreichisch-deutschen Grenze. Der Ort, der wie kein anderer als Ausdruck eines offenen Europas galt, gleicht wieder der Stauhölle von damals. Morgens sieht Sandra Handke mitunter den Grund dafür direkt vor ihrer Scheibe vorbeihuschen. Kleine Gruppen von Menschen, von Schleppern auf der Autobahn kurz vor der Grenze ausgesetzt. "Is this Germany?", fragen sie Handke schon mal, und die deutet nur hinaus auf die Autobahn, hin zum Stau.

Eine Stunde im Stau

Über den kann auch Kerim Aldal ein Klagelied anstimmen. Er arbeitet in der Zollabfertigung direkt gegenüber, die sich auf den Frachtverkehr mit der Türkei spezialisiert hat. Um aber überhaupt seine Arbeit am Walserberg antreten zu können, teilt Aldal das Schicksal Tausender Pendler im Grenzgebiet – und das lautet: früher aufstehen. "Ich komme aus Hallein", sagt er, "manchmal ist schon in der Früh so viel Stau. Auf der Autobahn steht dann bis zu uns runter alles. Auch die Schleichwege sind verstopft und ich muss eine Stunde früher von daheim wegfahren."

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Im Vergleich zum Pendler Aldal wirkt Alfred Ruetz aufgebrachter. Er macht sich gerade den Schlafplatz in der Koje seines Vierzigtonners zurecht. Früher wäre er bis zu seinem Ziel am Chiemsee durchgefahren. Aber früher ist für den Lkw-Fahrer heute nur noch ferne Vergangenheit. Zweimal die Woche transportiert er Altmüll aus dem niederösterreichischen Kematen nach Deutschland. Und meist macht ihm der Stau einen Strich durch die Rechnung und nötigt ihn zum früheren Anhalten. "Ich darf nur eine gewisse Stundenzahl fahren", sagt er, "durch die Grenzwartezeiten geht sich die Route nicht mehr aus, und ich muss jetzt schon Schluss machen.“

2,5 Millionen Euro Schaden am Tag

Der Walserberg ist eben nicht irgendein Ort. Er steht am Beginn des großen deutschen Ecks und damit der wichtigsten heimischen Transitroute und der entscheidenden Ost-West-Achse unseres Landes. Berechnungen der Wirtschaftskammer haben ergeben, dass die Frächter allein die Wartezeiten am Walserberg pro Tag 560.000 Euro kosten. Da aber nicht nur dort, sondern an allen drei Autobahngrenzübergängen zu Deutschland kontrolliert wird und Österreich im Gegenzug dasselbe an seiner Grenze zu Ungarn und Slowenien tut, sind die Gesamtkosten noch höher. Die Studie kommt zum Schluss, dass der heimischen Transportwirtschaft durch längere Stehzeiten und höhere Sach- wie Personalkosten jeden Tag ein Schaden von 2,5 Millionen Euro entsteht. Kosten, die irgendwann die Verbraucher treffen werden.

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Lkw-Fahrer Ruetz macht all das sauer. Er schimpft auf die Kontrollen der Deutschen und zweifelt an deren Sinn: "Zuerst sagt Mama Merkel: 'Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all.' Und dann sperrt s'ihnen die Türe zu." Ruetz ist mit seinem Unmut nicht allein, da der sich regelmäßig bildende Rückstau gerade zur Reisezeit und vor Wochenenden halb Salzburg lahmlegt.

Was sich jetzt ändert

Was die Kontrollen wirklich bringen, entzweit die Gemüter. Viel ist vom "subjektiven Sicherheitsgefühl der Bürger“ die Rede und von objektiven Zahlen, die die Kontrollen rechtfertigen würden. Also weiter im Stau, Stoßstange an Stoßstange den Walserberg hinüber. Auf deutscher Seite stehen mit Maschinenpistolen bewaffnete Bundespolizisten. Sie ordnen Schrittgeschwindigkeit an und setzen auf Sichtkontrollen im rollenden Verkehr, wie ihr Sprecher Rainer Scharf erklärt. Verdächtige Fahrzeuge werden herausgewunken und unter einem Zelt auf der Nebenfahrbahn eingehender kontrolliert. Da es nur zwei Fahrspuren gibt, wird klar, warum durch die geringe Fahrtgeschwindigkeit schnell kilometerlange Staus entstehen. Bedenken, diese Form der Kontrollen brächte nichts, weist Scharf mit einer einzigen Zahl rasch zurück: 4.150. So viele Migranten sind zwischen Jänner und Juli 2017 von der deutschen Bundespolizei aufgegriffen und nach Österreich zurückgewiesen worden. "Jeder, der nicht dezidiert sagt, dass er verfolgt wird und Schutz sucht, sondern aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommt, wird von uns an die österreichischen Kollegen übergeben", so Scharf. Nach der Einigung im Asylstreit zwischen Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Innenminister Horst Seehofer soll es künftig auch möglich sein, jene Migranten zurückzuschieben, welche zuvor schon in einem anderen EU-Land registriert wurden. Angedacht sind so genannte Transitzentren gleich hinter der Grenze, von wo die Rückschiebung in Länder erfolgt, mit denen Deutschland bilaterale Abkommen schon hat beziehungsweise diese anstrebt. Nur: mit Italien gibt es kein solches bilaterales Abkommen. Und unter dem neuen rechten Innenminister Matteo Salvini wird auch kaum eines zu bekommen sein. Bei den über Italien nach Österreich und von hier weiter nach Deutschland ziehenden Migranten greift dann Punkt 3 des Merkel-Seehofer-Abkommens: die Zurückweisung an der Grenze nach Österreich.

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Schlepper auf Schleichwegen

Diese 4.150 nach Österreich zurückgeschobenen Migranten im ersten Halbjahr 2017 zeigen zweierlei: Zum einen, dass die heimischen Grenzen entsprechend durchlässig sind und weiter Migranten unbemerkt und ungehindert ins Land gelangen. Zum anderen, dass die Dunkelziffer erfolgreicher illegaler Grenzquerungen nach Deutschland noch weit höher sein dürfte. Was einen abseits der Autobahn führt, in Gemeinden wie Großgmain etwa. Den idyllisch am Weißbach gelegenen Ort südlich von Salzburg trennt nur eine Brücke von Bayern. Und keinerlei Hinweis auf Grenzkontrollen durch die deutsche Polizei. Warum also all der Aufwand an der Autobahn, wenn potenzielle Schlepper mit ihren Passagieren bloß auf einen der vielen kleinen Übergänge ausweichen können? "Bei Weitem nicht alle Schleuser sind Profis", sagt Polizeisprecher Scharf, "viele, die wir rausfischen, steigen irgendwo in Italien in ein Auto, zwängen die Migranten rein, geben München ins GPS ein und fahren einfach los." Zudem würde die deutsche Polizei in Zivil auch die kleineren Übergänge zu Österreich überwachen, und es gebe noch andere Wege, die Grenze zu überqueren.

Zentimeter vor dem Tod

Diese Wege führen weiter hinein nach Oberbayern. An den Bahnhof Raubling bei Rosenheim, der früh am Morgen von Polizisten abgeriegelt wird. Gleich soll dort ein Güterzug aus Italien eintreffen. Über Funk wird dessen Durchfahrt in Kufstein gemeldet, und 15 Minuten später quietschen in Raubling die Bremsen. Die Polizisten positionieren sich links und rechts der Waggons, auf denen auch Lkw aufgeladen sind. Der Strom wird abgeschaltet, die Strecke stillgelegt, die Suche nach versteckten Migranten beginnt. Es ist ein neuer, verzweifelter und lebensgefährlicher Weg, auf dem viele der in Italien Gestrandeten versuchen, über den Brenner nach Österreich und weiter nach Bayern zu gelangen. Allein im August 2017 barg die deutsche Polizei 80 Migranten aus Zwischenräumen in Aufliegern, die nur ein paar Zentimeter über den Schienen liegen. "Sie verstecken sich noch in Italien auf den Zügen", sagt Scharf, "sind so viele Stunden unterwegs, dehydrieren dabei oft völlig und sind sich der Gefahr, in die sie sich begeben, mitunter gar nicht bewusst."

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Ein Zug nach dem anderen wird angehalten, jeder Zentimeter ausgeleuchtet, alle nicht verplombten Lkw werden geöffnet und durchsucht. Die meisten der Aufgegriffenen stammen aus Staaten südlich der Sahara und haben weder in Italien noch in Deutschland besonders große Chancen auf Asyl. Ihr Schicksal und das derer von der Autobahn zeigt, dass der Sommer 2015 mit Tausenden, die täglich die Grenze überquerten, lange zurückliegt. Die Zeit des großen Kontrollverlusts an den Grenzen ist vorbei. Die des nach innen offenen Europas aber ebenso.

Der ursprüngliche Report ist in der Printausgabe von News erschienen (Nr. 36/2017).