Mauerträume
und Stehsätze

30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs reden wir wieder über Mauern. Locker und flockig, als wäre es die natürlichste Sache der Welt

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und Stehsätze
© Bild: News/ Matt Observe

Erst waren es nur ein paar wenige, später knapp 5.000. Das Auto, ihr wertvollstes (zumindest) materielles Gut, hatten sie irgendwo abgestellt, bevor sie losrannten - viele von ihnen mit kleinen Kindern an den angstverschwitzten Händen. Die enge Gasse hinauf über das kaputte Kopfsteinpflaster, einmal ums Eck in den schattigen Waldweg hinein und direkt auf den meterhohen Zaun zu. Eine Kabelrolle diente im besten Fall als Aufstiegshilfe. Hände wurden gereicht. Auf der anderen Seite des Zauns angekommen, waren sie in Sicherheit - und später auch in Freiheit. Am Abend des 30. September 1989 fielen auf dem Balkon im Palais Lobkowitz, dem Sitz der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, jene erlösenden Worte, die noch heute Gänsehaut auslösen: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise " Noch in der Nacht setzen sich die ersten Züge mit DDR-Bürgern Richtung Westen in Bewegung. In die Freiheit. In ein Leben mit Perspektive. In ein besseres Leben. "Ich habe sie beneidet", sagt eine Pragerin, die damals auf der anderen, der "falschen" Seite des Zauns stand. Am Wochenende wird in der Deutschen Botschaft in Prag dieses Ereignis mit einem "Fest der Freiheit" gefeiert. 30 Jahre sind seit jenen denkwürdigen Tagen im Herbst 1989 vergangen. Natürlich gibt es fundamentale Unterschiede zwischen den Fluchtbewegungen 1989 und der großen Fluchtwelle 2015. Die DDR hat ihre Grenzen nicht geschützt, um eine Kontrolle darüber zu behalten, wer ins Land einreist. Die Mauer, der Schießbefehl, die Bespitzelungen und die Beschränkung der Reisefreiheit dienten dem Ziel, zu verhindern, dass die Bürger davonlaufen. 30 Jahre später reden wir wieder über Mauern in Europa -oft locker und flockig, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, und über jene, die bitte schön draußen bleiben sollen. Das stimmt nachdenklich. Und an dieser Stelle sei der kleine Geschichtsexkurs auch schon beendet

Zurück in die Realität, zurück in den aktuellen Wahlkampf, der -zumindest in der Zielgeraden - wieder Erinnerungen an den Wahlkampf 2017 weckt. Das klassische Dauerbrennerthema Flucht und Migration wird auch diesmal wieder viele Stimmen bringen. "Da braut sich was zusammen", prophezeit Sebastian Kurz via "Bild"-Zeitung und schiebt sicherheitshalber den Satz aller Sätze hinterher: "Wir müssen die Einwanderung in den Sozialstaat stoppen." Und auch Herbert Kickl ahnt mit Blick auf Griechenland Schlimmes, will einen Grenzzaun um Teile von Österreich bauen, statt sich mit einer "allumfassenden Klimahysterie" lange aufzuhalten.

Es braucht Kontrollen an den EU-Außengrenzen, da sind sich alle einig. Über das Wie offenbar weniger. Und das Wann noch weniger. Praktikable Lösungen sind auch im vierten Jahr nach der großen Flüchtlingswelle nicht in Sicht -das Mantra "Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen" läuft dafür weiterhin in der Dauerschleife. Und mittendrin wird (mal wieder) eine Debatte um eine Verteilung von Flüchtlingen vom Zaun gebrochen. Was freilich noch immer fehlt: eine substanzielle Lösung im Sinne konkreter Handlungsschritte. Stattdessen werden weiterhin altbekannte Stehsätze strapaziert. Auch das erinnert an den Wahlkampf 2017. Ein Déjà-vu pur.

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