Lars Vollmer: "Unser
System ist überfordert"

Spaltung, Erstarrung, Ermüdung: Unsere Gesellschaft scheint den Zenit überschritten zu haben, meint Lars Vollmer. Der deutsche Bestsellerautor, Unternehmer und Honorarprofessor hat sich mit News im Rahmen seines neuen Buches "Gebt Eure Stimme nicht ab!" darüber unterhalten, was seiner Ansicht nach schief läuft momentan.

von Systemfrage - Lars Vollmer: "Unser
System ist überfordert" © Bild: Shutterstock

Herr Vollmer, würden Sie sich selbst als Wutbürger bezeichnen?
Lars Vollmer: Es ist lustig, dass Sie das fragen, denn: Wütend bin ich überhaupt nicht.

Wutbürger definieren sich doch dadurch, dass sie wütend auf die Mächtigen, auf die Regierenden und auf die Presse sind. Aber das bin ich nicht. Ich empfinde sogar echtes Verständnis für die Regierenden. Mir geht es ja gerade darum, dass unsere Gesellschaft so komplex geworden ist, dass einzelne Politiker immer öfter wirkungslos bleiben oder das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken. Ihr Job, das Regieren, wird immer unmöglicher.

Gerade deshalb schimpfe ich nicht wie ein Wutbürger auf die handelnden Menschen. Ich versuche stattdessen, ihre Reflexe und die Mechanismen dahinter zu differenzieren und zu verstehen.

Weshalb leben Sie in Europa? Würden Ihnen die USA nicht besser stehen?
Die erste Antwort ist leicht: Europa ist ganz einfach meine Heimat. Ich fühle mich in diesem Kulturraum wohl, sicher und verwurzelt. Nicht zuletzt weil Europa unglaublich lebenswert ist: landschaftlich, kulturell, kulinarisch. Und gerade weil ich in Europa verwurzelt bin, liegt es mir daran, diese Gesellschaft weiterzudenken.

Die zweite Antwort fällt etwas theoretischer aus: In den USA wird traditionell eher aufs Individuum gesetzt, weniger aufs Kollektiv. Ich beobachte allerdings, dass auch auf der anderen Seite des Teichs der Paternalismus immer weiter wächst. Deshalb hätten wir wahrscheinlich verschiedene Anschauungen – aber beobachten dasselbe Phänomen.

Die Gesellschaftskritik der Unregierbarkeit in Ihrem neuen Buch bezieht sich auf Europa, insbesondere auf Deutschland. Was macht Deutschland besser als andere Länder Europas, was schlechter?
Bei diesem Vergleich möchte ich mich einschränken: Deutsch ist meine Muttersprache und in Deutschland kenne ich mich am besten aus. Ich kann nicht im Detail beurteilen, ob und inwiefern die politischen Subsysteme Frankreichs, Portugals oder Estlands besser oder schlechter funktionieren.

»Die Art des Regierens wird von unseren komplexen Problemen heute über den Haufen gerannt«

Deutschland hat durchaus seine Krisen: Aktuell herrscht eine hohe Unversöhnlichkeit der Meinungen. Sie zentrifugieren immer schneller und entfernen sich dabei immer weiter voneinander. Aber denselben Trend beobachte ich zum Beispiel auch in Spanien, wenn ich mir Talkshows zu politischen Debatten ansehe. Meine Kritik bezieht sich deshalb nicht primär auf ein Land. Sondern auf die Hirtensysteme. Diese Art des Regierens – bei der wenige Hirten vielen Schafen sagen, was das Beste für sie ist – wird von unseren komplexen Problemen heute über den Haufen gerannt. Das hat also nichts mit Deutschland oder Europa allein zu tun.

Und wie sieht es mit dem Vergleich zwischen Deutschland und Österreich aus?
Hier spreche ich natürlich aus der Sicht des Außenstehenden, weil ich kein Österreicher bin. Ich gehe allerdings davon aus, dass es den paternalistischen Mechanismus auch in Österreich gibt. Dass die Bevölkerung also nach dem Staat ruft, ihre Probleme zu lösen, und der Staat zu wissen glaubt, was besser für das Kollektiv und jeden Einzelnen ist. Davor ist Österreich genauso wenig gefeit wie Deutschland. Die Beispiele sind sicher andere, aber die Problematik ist dieselbe.

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Sie ziehen in Ihrem Buch gerne Vergleiche aus der Profi-Fußballwelt heran. Abgesehen von Ihrer offensichtlichen Begeisterung für den Sport: Warum glauben Sie, dass ein Ball und 22 überbezahlte Sportler dazu geeignet sind, komplexe gesellschaftliche Prozesse zu erklären?
Dass Analogien aus dem Profifußball ganze Gesellschaftssysteme erklären – den Anspruch erhebe ich gar nicht. Eine Analogie ist ein Gleichnis, nicht mehr. Ich habe mir schon genau überlegt, warum ich die Fußballanalogie auch in diesem Buch wieder wähle. Sie bildet die aktuelle Situation in Deutschland sehr gut ab. Denn für mich spaltet Deutschland sich nicht mehr nur zwischen „links“ und „rechts“ – sondern zwischen Individualisten und Kollektivisten.

Weil Kollektivisten nur auf die Formationen schauen, erkennen sie jeden Individualismus als Ausbruch, der „eingefangen“ werden müsste, der nicht sein darf. Mit dem Messi-Blick hingegen sehen Sie, dass das einzelne Individuum aus der Formation ausbricht, eben weil es der Formation dienlich sein will! Für diese Situation ist der Fußball einfach eine sehr anschauliche Analogie – sie soll deswegen aber kein Vorbild sein. Sondern einfach ein wertvolles stilistisches Mittel, um Augen zu öffnen. Und darum geht es mir.

Über die Bewusstseinswerdung hinaus: Was muss sich Ihrer Ansicht nach ändern, damit den aufgezeigten Missständen in unserer Gesellschaft entgegengewirkt werden kann?
Ein Entgegenwirken halte ich gar nicht für möglich. Das hieße ja: das Ganze auf den vorherigen Stand zurückbringen. Ich sehe die Lösung eher in einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Und die ist mit Verantwortung verbunden. Wir brauchen mehr individuelle Verantwortung. Diese werden Bürger nur übernehmen, wenn der gesellschaftliche Rahmen einen Kontext bildet, in dem Verantwortung vorteilhaft ist.

Ich wünsche mir also stärker verantwortliche Individuen – und weniger Hirten, die „gnädigerweise“ für sie entscheiden, was gut für sie ist.

Wie beurteilen Sie die Migrationsdebatte vor dem Hintergrund der beklagten maroden Gesellschaft?
Für mich ist die Migrationsdebatte ein sehr anschauliches Symptom des Problems. Sie konnten in Deutschland sehen, wie hilflos die Innenpolitik auf dieses Problem reagierte: Links drosch auf rechts, rechts auf links. Das wirkte wie eine Schulhofklopperei nach dem Schwarz-weiß-Prinzip – eigentlich immer nur mit dem Ziel, am Ende die Umfragewerte ein bisschen hochzutreiben. Was aber nie auf der Agenda stand: das Problem zu differenzieren und zu lösen.

»Unser System ist überfordert, nicht die Menschen«

Damit beziehe ich explizit keine Stellung in der Migrationsdebatte, nur Stellung zur Migrationsdebatte. Es gibt bis heute keine Idee, wie wir a) den Wunsch nach einer humanistischen und weltoffenen Gesellschaft mit b) einem Sozialstaat verknüpfen können. Unser System ist überfordert, nicht die Menschen.

Das ist ein anschauliches Beispiel, wie das Hirtensystem überhaupt nicht zurande kommt mit einem komplexen Problem. Man sucht nach der einen Wahrheit, wo es keine gibt, weil die sklerotischen Systeme mit Ambiguität nicht umgehen können.

An welchem europäischen Land sollte sich Gesamteuropa ein Beispiel nehmen und warum?
Die Länder und Regionen Europas sind viel zu unterschiedlich und differenziert, als dass ich ein einziges Beispiel heranziehen könnte. In Katalonien, wo ich wohne, sind die Verhältnisse und regionalen Besonderheiten so unterschiedlich im Vergleich zu Niedersachsen, wo mein Elternhaus steht. Das kenne ich aus der Wirtschaft: Auch da ist die Suche nach der „Best Practice“ meist sehr unterkomplex.

Bemerkenswert fand ich allerdings, wie Österreich in der Migrationskrise 2015/16 erkennbar versucht hat, eine eigenständige Position zu suchen und nicht nach Frau Merkels oder Herrn Junckers Pfeife zu tanzen. Das ist aller Ehren wert, egal wie Sie sich zu dieser Position stellen wollen. Denn diese Eigenständigkeit ist der Schlüssel zum Fortschritt.

Sie beklagen auch, dass die Bundeswehr brach liegt. Braucht Europa Ihrer Ansicht nach ein starkes Heer?
Ja, die deutsche Bundeswehr wurde tatsächlich kaputtgespart und –verkleinert. In weiten Teilen ist sie nicht mehr einsatzbereit, das schwere Gerät oft kaputt, weil die Wartung mehr kostet, als der geplante Haushalt hergibt. Deutschland versucht, die Bundeswehr planwirtschaftlich zu organisieren. Und das funktioniert nicht bei so komplexen Systemen.

Entsprechend unsinnig finde ich den Ruf nach einer noch größeren, planwirtschaftlich organisierten Struktur. Diese EU-Armee käme einem großen Wirtschaftskonzern gleich. Und da kann ich nur aus meiner Erfahrung sprechen: Je größer das Boot, desto ineffizienter und träger die Fortbewegung. Wir brauchen eher viele kleine Schnellboote statt einen schweren Tanker, um im Bild zu bleiben.

Zumal ich glaube, dass ein Krieg viel wahrscheinlicher wird, wenn eine zentrale Macht entsteht. Ein Volk hat sich noch nie für Krieg entschieden, immer nur einzelne Mächtige.

Die Digitalisierung wird gerne als Job-Killer dämonisiert, die Betroffenheit dürfte dabei mit der Komplexität der Tätigkeit sinken. Wie kann man Ihrer Ansicht nach Leute mit einfachen Tätigkeiten dazu motivieren, kreative Dienstleistungen zu erbringen? Und wie bringt man Leute dazu, dass sie sich von der Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verabschieden, was Sie in Ihrem neuen Buch als erstrebenswert bezeichnen?
Menschen können und müssen Sie nicht motivieren. Es reicht völlig, sie nicht zu demotivieren. Alles andere ist paternalistisch.

»Ich bin ziemlich sicher, dass Digitalisierung kein Job-Killer ist«

Wir müssen die Menschen nicht vor der Digitalisierung „beschützen“. Das ist gerade der Hirtengedanke, dass einzelne „bessere Menschen“ andere Menschen vor einer großen Gefahr bewahren müssten. Zumal ich ziemlich sicher bin, dass die Digitalisierung kein Job-Killer ist.

In der Menschheitsgeschichte gab es schon zig technologische Disruptionen – danach sind immer mehr Jobs entstanden als vorher. Und: Dank der Digitalisierung können Unternehmen sich in Zukunft nicht mehr differenzieren über die Tätigkeiten, die Roboter übernehmen. Denn die Konkurrenz kauft einfach denselben Roboter. Deshalb sind Unternehmen noch mehr darauf angewiesen, neue Ideen zu entwickeln – und Ideenfindung machen Menschen. Es braucht also mehr Menschen in der Wirtschaft.

Wie diese Menschen dann Arbeit und Leben integrieren – auch das möchte ich ihnen gern selbst überlassen. Ich persönlich habe eben kein festes Trennschema. Aber warum sollte ich deshalb jemand anderem eines unterjubeln?

Schauplatz Subsystem: Sie plädieren in Ihrem neuen Buch auch dafür, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk samt Gebühren abgeschafft werden sollte. Wie sieht Ihr Gegenmodell aus? Im gegenwärtigen Angebot privater Einrichtungen kann es wohl eher nicht liegen, oder?
Mein Credo in dieser Frage lautet: Vielfalt schafft Fortschritt. Das war schon immer so und ist keine Vollmer’sche Erkenntnis. Eine Liberalisierung des Rundfunks würde sicher deutlich mehr Schrott erzeugen, als das heute der Fall ist. Und gleichzeitig deutlich mehr Qualität.

Nun kenne ich das österreichische Fernsehprogramm nicht gut. In Deutschland machen wir uns gerne über das „Dschungelcamp“ eines Privatsenders lustig – aber über das „Musikantenstadl“ der öffentlich-rechtlichen Anbieter genauso! Ein Qualitätsgarant ist die Zwangsabgabe also ohnehin nicht.

»Wer heute Schrott senden möchte, kann das tun«

Die Grundidee der Gebühr war nach dem Krieg, in Deutschland totalitäre Tendenzen zu verhindern. Aber das ist obsolet geworden. Wer heute Schrott senden möchte, kann das tun – notfalls eben über das Internet. Davor schützt uns der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht.

Er könnte sich hingegen vielmehr einen Ruf erarbeiten, explizit unabhängige Inhalte zu senden. Und dann wäre ich auch durchaus bereit, für einen guten Streifen zu bezahlen – wie bei Amazon Prime oder Netflix. Nur eben ohne Zwang.

© André Bakker

Zur Person: Lars Vollmer, Jahrgang 1971, promovierter Ingenieur und Honorarprofessor der Leibniz Universität Hannover, ist Unternehmer, Bestsellerautor und Begründer von intrinsify, dem größten offenen Thinktank für die neue Arbeitswelt im deutschsprachigen Raum. Vollmer spielt Jazzpiano, trinkt gerne Weltklasse-Kaffee und lebt in Barcelona.

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