Kinderbetreuung: Die eklatanten Versäumnisse des Staates

Der Ausbau der Kinderbetreuung ist eine wichtige Voraussetzung für Österreichs wirtschaftliche Entwicklung. Viele Firmen richten eigene Kindergärten und Tagesstätten ein. Aber der Staat muss nachziehen.

von Kinderbetreuung © Bild: iStockphoto

Martina Huemer-Fistelbergers ältester Sohn war knapp eins, als sie im Herbst 2015 wieder in ihren Beruf einsteigen wollte. Der Schauplatz: Kirchham in Oberösterreich, 2.238 Einwohner, traditionelle Strukturen. Viele Mütter bleiben mit ihren Kindern zu Hause. Wenn Betreuungsbedarf besteht, springen die Großmütter ein.

Aber Huemer-Fistelberger wollte richtig arbeiten, nicht nur ein bisschen, wenn zufällig gerade ein ehrenamtlicher Babysitter Zeit hat. Im Familienbetrieb, den ihr Vater vor 30 Jahren gegründet hat, ist sie für Projektmanagement und Controlling zuständig. Die Firma SFK ist ein hoch technologisierter Tischlereibetrieb, der auf die Herstellung von Prototypen spezialisiert ist. Auf der Homepage ist ihr Leitspruch nachzulesen: "Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vornherein ausgeschlossen erschien."

Der Satz, der Albert Einstein zugeschrieben wird, beschreibt nicht nur die Entwicklung der anspruchsvollen Geräte und Möbel, die SFK herstellt. Er passt auch ganz gut zu Martina Huemer-Fistelbergers Lösung des Kinderbetreuungsproblems. Sie tat nämlich das, was mangels öffentlicher Angebote immer mehr Firmen in Österreich tun: Sie gründete eine eigene Betriebskindertagesstätte.

Betriebstagesmutter

In eigens adaptierten Räumlichkeiten auf dem Firmengelände werden aktuell vier Kinder unter drei Jahren von einer Tagesmutter betreut. Im Sommer, wenn der Hort wochenlang geschlossen hat, kommen auch Schulkinder dazu. Die Mitarbeiter, die das Service in Anspruch nehmen, zahlen einkommensabhängige Beiträge. Auf bis zu 50 Prozent der Kosten aber bleibt die Firma SFK sitzen. "Dafür haben wir keine Riesenfirmenautos", sagt Martina Huemer-Fistelberger. "Es ist eine Einstellungsfrage. Man muss halt entscheiden, wofür man das Geld ausgibt und was einem wichtig ist."

Das Beispiel des oberösterreichischen Familienunternehmens erlaubt einen Blick in die Zukunft. Der Fachkräftemangel greift um sich, nicht nur im Technologiebereich. Arbeitgeber müssen um ihre Mitarbeiter werben. Frauen werden am Arbeitsmarkt dringend gebraucht.

In einem "Standard"-Interview stellte AMS-Chef Johannes Kopf jüngst fest: "Wir werden ganz viele Branchen sehen, die sich unglaublich bemühen müssen, Arbeitskräfte zu finden. Da geht es um Abwerben, Konkurrenz zwischen den Branchen, Arbeitszeit, Vereinbarkeit, Kinderbetreuung."

Fachkräftemangel

In Österreich wird die Frage der Kinderbetreuung oft noch mit Blick in die Vergangenheit diskutiert. Rabenmutter, wer sein Kind zu früh in die Krabbelstube steckt. Die gute Mutter bleibt die ersten Jahre mit dem Kind zu Hause. Dabei geht es in Wahrheit schon längst nicht mehr um Ideologie-und Geschmacksfragen, sondern um harte, wirtschaftliche Fakten.

Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Ernst & Young aus dem Jahr 2019 haben 83 Prozent von Österreichs Firmen Schwierigkeiten, geeignete Mitarbeiter zu finden. Und vier von zehn Unternehmen verlieren demnach Umsätze aufgrund des Fachkräftemangels

Ein weiteres hartes Faktum: Österreich hinkt beim Ausbau der Betreuungsplätze für unter Dreijährige den Barcelona-Zielen der EU deutlich hinterher. Demnach hätten bereits 2010 einem Drittel der Kinder, also 33 Prozent, ein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt werden sollen. Aktuell liegt die Quote in Österreich bei 29,9 Prozent, und da sind Tagesmütter und Teilzeitbetreuungsangebote schon eingerechnet. Auffällig sind die regionalen Unterschiede. Während Wien die Quote bei Weitem übererfüllt (44,2 Prozent), stehen Oberösterreich (20,2 Prozent) und die Steiermark (22,3 Prozent) besonders schlecht da. In Wien ist auch der Anteil institutioneller Betreuung, also der Krippenund Kindergärtenplätze, anteilig sehr hoch. In der Steiermark werden laut jüngstem Familienbericht der Bundesregierung nur 17,8 Prozent der unter dreijährigen Kinder in Kinderkrippen betreut, 4,5 Prozent bei Tagesmüttern.

Dort, genau in Graz, befindet sich das Hauptquartier des Technologiekonzerns AVL List. Vor neun Jahren eröffnete es einen Betriebskindergarten und eine -kinderkrippe, "auf die wir sehr stolz sind", sagt Markus Tomaschitz, Personalchef und Konzernsprecher des Unternehmens. Der Betriebskindergarten der AVL List hat einen MINT-Schwerpunkt, vermittelt also schon den Jüngsten Grundlagen der Naturwissenschaften und der Technik. Auf 100 Kinder kommen 27 Pädagoginnen und Pädagogen.

Warum das alles? Mitarbeiterbindung, sagt Tomaschitz. Denn der Fachkräftemangel mache vor keiner Firma halt, schon gar nicht vor einer, die MINT-Absolventen sucht. Die öffentlichen Angebote seien zumindest damals, als AVL List seinen Kindergarten eröffnete, zu schlecht gewesen. "Wir haben unter anderem Mitarbeiter aus Skandinavien, aber auch aus den Niederlanden oder aus Amerika. Dort ist es normal, dass die Kinder relativ früh Kinderbetreuungseinrichtungen in Anspruch nehmen. Darauf mussten und wollten wir reagieren, um auch für internationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter attraktiv zu sein. Denn in Österreich finden wir unsere Arbeitskräfte für spezifische Profile schon lange nicht mehr."

"Säule der Zufriedenheit"

Der weitere Ausbau der Kleinkinderbetreuung in Österreich sei für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes "enorm wichtig", glaubt Tomaschitz. "Es hat erstens einen volkswirtschaftlichen Sinn, denn je früher Sie Kinder in den Bildungsprozess integrieren, desto mehr können Sie die 'Geburtslotterie', also die unterschiedlichen Umstände, unter denen Kinder in Österreich aufwachsen, ausgleichen. Und aus betrieblicher Sicht ist es wichtig, weil die Mitarbeiter schon lange nicht mehr nur ein gutes Gehalt, einen sicheren Arbeitsplatz und angenehme Führungskräfte fordern. Es geht auch um viele neue Themen wie flexible Arbeitszeiten, Homeoffice-Möglichkeiten -und eben auch Kinderbetreuungseinrichtungen. Das ist eine ganz wesentliche, tragende Säule für die Zufriedenheit der Mitarbeiter am Arbeitsplatz."

Viele größere Betriebe verfügen inzwischen über eigene Kindergärten. Dennoch sieht Tomaschitz die öffentliche Hand in der Verantwortung. "Wenn Österreich kein Hochsteuerland wäre, würde ich sagen, wir können das auch selber machen, unter der Voraussetzung, dass wir unsere Pädagoginnen und Pädagogen bzw. Betreuerinnen und Betreuer nicht mehr nach dem Industrie-KV bezahlen müssen, sondern zu üblichen Konditionen. Aber wenn die Steuern schon so hoch sind, muss auch die entsprechende Versorgung da sein. Und zur Versorgung gehört auch die Elementarpädagogik, mit der man nicht früh genug beginnen kann."

Viele sehen das mittlerweile so. SPÖ, Grüne, Neos und die Sozialpartner sind sogar für einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, der, sagt Neos-Bildungssprecherin Martina Künsberg-Sarre, Sicherheit schaffen soll, dass "Familie und Beruf in allen Familien für beide Elternteile vereinbar sind". Sie erwarte sich von der Regierung und den Ländern, "dass sie einen ambitionierten Pakt für die Kindergärten mit dem klaren Ziel schließen, dass der Kindergarten endlich zur ersten echten Bildungseinrichtung wird. Inklusive einer ordentlichen Steigerung der finanziellen Mittel". Derzeit verhandeln Bund und Länder 15a-Vereinbarung für die Kindergärten neu, die geltende Vereinbarung läuft im Sommer aus. Die Bundesregierung hat bereits mehr Geld versprochen. Aber wie viel ist genug? Und wie will man das Angebot ausbauen, wenn doch jetzt schon Personal fehlt?

Qualität oder Quantität

AVL-List-Sprecher Markus Tomaschitz ist dafür, österreichweit einheitlich größere Kindergartenund -krippengruppen zuzulassen. "Natürlich können wir sagen: je höher die Betreuungsquote desto besser. Ich glaube aber, um die Ziele zu erreichen, müssten wir vielleicht großzügiger sein und den Schlüssel ein wenig nach oben setzen. Damit wir überhaupt eine Chance haben, den Rechtsanspruch durchzusetzen."

Eine umstrittene Meinung. Neos-Abgeordnete Künsberg-Sarre fordert im Gegenteil eine Qualitätsoffensive. Und auch das Netzwerk Elementare Bildung (NEBÖ) versucht, auf bestehende Missstände im Elementarbildungsbereich aufmerksam zu machen.

"Aus rein betriebswirtschaftlicher Perspektive betrachtet verstehe ich, wie man zu so einer Aussage kommen. So ehrlich muss man sein", sagt Eva Kickingereder vom NEBÖ. "Aber die ordentliche Versorgung der Kinder ist schon mit den bisherigen Gruppengrößen ein Wahnsinn. Wie soll das mit größeren Gruppen funktionieren? Es geht dann wirklich nur mehr um Beaufsichtigung." Das NEBÖ fordert österreichweit einheitliche Mindeststandards für Gruppengröße und den Fachkraft-Kind-Schlüssel. Derzeit gelten in jedem Bundesland andere Regeln.

Das schon seit Jahren virulente Personalproblem sei nur mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu beheben, glaubt Kickingereder. "Wir haben genug Personen in der Ausbildung. Aber es steigen nicht genug in das berufliche Feld ein, und es gibt eine wahnsinnig hohe Drop-out-Rate. Mit einer Reduzierung der Gruppengrößen, mehr Vor-und Nachbereitungszeit und einer fairen und bundesweit einheitlichen Entlohnung könnte sich das ändern."

Hohe Kosten

Will man also beide Forderungen, jene nach Ausbau und jene nach Verbesserung der Qualität, erfüllen, wird es teuer. Das Wirtschaftsforschungsinstitut ECO Austria hat berechnet, dass ein Ausbau der Kinderbetreuung auf Wiener Niveau (in puncto Öffnungszeiten) und dänisches Niveau (was das Betreuungsangebot für unter Dreijährige betrifft) zusätzlich 1,6 Milliarden Euro kosten würde. Und da ist noch keine Rede von kleineren Gruppengrößen.

Martina Huemer-Fistelberger, die Gründerin der Betriebstagesstätte in Oberösterreich und Mutter dreier Söhne, sieht das Problem als gesamtgesellschaftliche Herausforderung. "Die Katze beißt sich in den Schwanz. Wenn die Kinderbetreuung nicht gut ausgebaut ist, sind die Frauen unflexibler. Da gehört gesellschaftlich viel getan." Ein Ausbau der Kinderbetreuung sei die wesentliche Basis, die zu legen sei. "Und dann müssen sich auch die Männer mehr engagieren. Wenn dann nämlich doch immer die Frauen zu Hause bleiben, wenn ein Kind krank ist, wird das nichts."

Sie selbst lebt das vor. Ihr Mann ist in Elternteilzeit und betreut die Kinder zwei Nachmittage lang. "Aber es war ein Kampf, das in seiner Firma durchzubringen."