Grenze dicht:
Der Schlepper- und Staureport

Aus dem Provisorium der Grenzkontrollen dürfte ein Dauerzustand werden

Obwohl der Stau zwei Millionen Euro am Tag kostet, ist damit das Ende des grenzenlosen Europas eingeläutet. Doch was bringen die Kontrollen überhaupt? Wer verliert, wer profitiert? Die Politakte Grenzschutz

von Cover - Grenze dicht:
Der Schlepper- und Staureport © Bild: Ricardo Herrgott

Lauschig ist es nicht gerade, oben am Walserberg: Asphalt, Beton, Tankstellen, Parkplätze, ein Hotel, ein Bordell, ein Saunaklub und ein Laufhaus bilden ein Panoptikum fern der Beschaulichkeit. Hier, gleich hinter Salzburg, lag bis zu Österreichs EU-Beitritt im Jahr 1995 der größte heimische Grenzübergang. Ein Ort voller Erinnerungen. An erste Urlaube, an Ausflüge über das deutsche Eck nach Tirol oder runter bis Italien. Und davor die letzte Hürde: der fast schon obligatorische Stau am Walserberg. 34 Millionen Reisende in zehn Millionen Fahrzeugen stellte die letzte offizielle Zählung 1994 fest. Der spätere EU-Beitritt wurde für viele erst durch die freie Fahrt über die Grenze spürbar, denn damit endete auch das ewige Warten an Europas damals schon meistfrequentiertem Grenzübergang.

»Is this Germany?«

Wenn Sandra Handke heute hinausblickt, sieht die Verkäuferin an der Tankstelle am Walserberg Tag für Tag dasselbe: stehende Autos. Blechkolonnen, die sich nur langsam vorwärtsschieben. Im Verkehrsfunk hört sie die dazu passenden Zeitangaben. 30 Minuten, 45 Minuten, eine Stunde Wartezeit am Walserberg. "Für das Geschäft an der Tankstelle ist es gut", sagt sie, "es bleiben mehr Leute stehen, machen eine Pause, kaufen ein. Aber für alle, die schnell weitermüssen, ist es schrecklich." Seit den Anfängen der Flüchtlingskrise vor genau zwei Jahren ist dies die neue Realität an der österreichisch-deutschen Grenze. Der Ort, der wie kein anderer als Ausdruck eines offenen Europas galt, gleicht wieder der Stauhölle von damals. Morgens sieht Sandra Handke mitunter den Grund dafür direkt vor ihrer Scheibe vorbeihuschen. Kleine Gruppen von Menschen, von Schleppern auf der Autobahn kurz vor der Grenze ausgesetzt. "Is this Germany?", fragen sie Handke schon mal, und die deutet nur hinaus auf die Autobahn, hin zum Stau.

© Ricardo Herrgott

Eine Stunde im Stau

Über den kann auch Kerim Aldal ein Klagelied anstimmen. Er arbeitet in der Zollabfertigung direkt gegenüber, die sich auf den Frachtverkehr mit der Türkei spezialisiert hat. Um aber überhaupt seine Arbeit am Walserberg antreten zu können, teilt Aldal das Schicksal Tausender Pendler im Grenzgebiet -und das lautet: früher aufstehen. "Ich komme aus Hallein", sagt er, "manchmal ist schon in der Früh so viel Stau. Auf der Autobahn steht dann bis zu uns runter alles. Auch die Schleichwege sind verstopft und ich muss eine Stunde früher von daheim wegfahren."

»Auch die Schleichwege sind verstopft und ich muss eine Stunde früher von daheim wegfahren«

Im Vergleich zum Pendler Aldal wirkt Alfred Ruetz aufgebrachter. Er macht sich gerade den Schlafplatz in der Koje seines Vierzigtonners zurecht. Früher wäre er bis zu seinem Ziel am Chiemsee durchgefahren. Aber früher ist für den Lkw-Fahrer heute nur noch ferne Vergangenheit. Zweimal die Woche transportiert er Altmüll aus dem niederösterreichischen Kematen nach Deutschland. Und meist macht ihm der Stau einen Strich durch die Rechnung und nötigt ihn zum früheren Anhalten. "Ich darf nur eine gewisse Stundenzahl fahren", sagt er, "durch die Grenzwartezeiten geht sich die Route nicht mehr aus, und ich muss jetzt schon Schluss machen."

© Video: News.at

Der Walserberg ist eben nicht irgendein Ort. Er steht am Beginn des großen deutschen Ecks und damit der wichtigsten heimischen Transitroute und der entscheidenden Ost-West-Achse unseres Landes. Berechnungen der Wirtschaftskammer haben ergeben, dass die Frächter allein die Wartezeiten am Walserberg pro Tag 560.000 Euro kosten. Da aber nicht nur dort, sondern an allen drei Autobahngrenzübergängen zu Deutschland kontrolliert wird und Österreich im Gegenzug dasselbe an seiner Grenze zu Ungarn und Slowenien tut (siehe Karte unten), sind die Gesamtkosten noch höher. Die Studie kommt zum Schluss, dass der heimischen Transportwirtschaft durch längere Stehzeiten und höhere Sach-wie Personalkosten jeden Tag ein Schaden von 2,5 Millionen Euro entsteht. Kosten, die irgendwann die Verbraucher treffen werden.

"Mama Merkels Kinder"

Lkw-Fahrer Ruetz macht all das sauer. Er schimpft auf die Kontrollen der Deutschen und zweifelt an deren Sinn: "Zuerst sagt Mama Merkel: 'Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all.' Und dann sperrt s'ihnen die Türe zu." Ruetz ist mit seinem Unmut nicht allein, da der sich regelmäßig bildende Rückstau gerade zur Reisezeit und vor Wochenenden halb Salzburg lahmlegt.

Doch die vor zwei Jahren von Deutschland verhängten Grenzkontrollen dürften zum Dauerzustand werden. Im November soll zwar jene EU-Befugnis auslaufen, die es erlaubt, auch Schengen-Binnengrenzen zu überwachen. Aber sowohl Österreich als auch Deutschland, Frankreich und Dänemark verlangen von der EU-Kommission eine weitere Verlängerung um zwei Jahre. "Europa hat seine Außengrenze nicht im Griff, und genau da liegt das Problem", sagt Innenminister Wolfgang Sobotka im News- Interview (siehe Seite 42). Gegner sehen in den Kontrollen hingegen Placebo-Maßnahmen, die den bevorstehenden Wahlen dies-und jenseits der wieder auferstandenen Grenze geschuldet seien, und verweisen auf die stark rückläufigen Asylzahlen in Österreich und Deutschland.

© Ricardo Herrgott

Doch da wie dort ist auch die Rede vom "subjektiven Sicherheitsgefühl der Bürger" und von objektiven Zahlen, die die Kontrollen rechtfertigen würden. Also weiter im Stau, Stoßstange an Stoßstange den Walserberg hinüber. Auf deutscher Seite stehen mit Maschinenpistolen bewaffnete Bundespolizisten. Sie ordnen Schrittgeschwindigkeit an und setzen auf Sichtkontrollen im rollenden Verkehr, wie ihr Sprecher Rainer Scharf erklärt. Verdächtige Fahrzeuge werden herausgewunken und unter einem Zelt auf der Nebenfahrbahn eingehender kontrolliert. Da es nur zwei Fahrspuren gibt, wird klar, warum durch die geringe Fahrtgeschwindigkeit schnell kilometerlange Staus entstehen. Bedenken, diese Form der Kontrollen brächte nichts, weist Scharf mit einer einzigen Zahl rasch zurück: 4.150. So viele Migranten sind allein zwischen Jänner und Juli von der deutschen Bundespolizei aufgegriffen und nach Österreich zurückgewiesen worden. "Jeder, der nicht dezidiert sagt, dass er verfolgt wird und Schutz sucht, sondern aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommt, wird von uns an die österreichischen Kollegen übergeben", so Scharf.

Abseits der Autobahn

Diese 4.150 nach Österreich zurückgeschobenen Migranten im ersten Halbjahr zeigen zweierlei: Zum einen, dass die heimischen Grenzen entsprechend durchlässig sind und weiter viele Migranten unbemerkt und ungehindert ins Land gelangen. Zum anderen, dass die Dunkelziffer erfolgreicher illegaler Grenzquerungen nach Deutschland noch weit höher sein dürfte. Was einen abseits der Autobahn führt, in Gemeinden wie Großgmain etwa. Den idyllisch am Weißbach gelegenen Ort südlich von Salzburg trennt nur eine Brücke von Bayern. Und keinerlei Hinweis auf Grenzkontrollen durch die deutsche Polizei. Warum also all der Aufwand an der Autobahn, wenn potenzielle Schlepper mit ihren Passagieren bloß auf einen der vielen kleinen Übergänge ausweichen können? "Bei Weitem nicht alle Schleuser sind Profis", sagt Polizeisprecher Scharf, "viele, die wir rausfischen, steigen irgendwo in Italien in ein Auto, zwängen die Migranten rein, geben München ins GPS ein und fahren einfach los." Zudem würde die deutsche Polizei in Zivil auch die kleineren Übergänge zu Österreich überwachen, und es gebe noch andere Wege, die Grenze zu überqueren.

Zentimeter vor dem Tod

Diese Wege führen weiter hinein nach Oberbayern. An den Bahnhof Raubling bei Rosenheim, der früh am Morgen von Polizisten abgeriegelt wird. Gleich soll dort ein Güterzug aus Italien eintreffen. Über Funk wird dessen Durchfahrt in Kufstein gemeldet, und 15 Minuten später quietschen in Raubling die Bremsen. Die Polizisten positionieren sich links und rechts der Waggons, auf denen auch Lkw aufgeladen sind. Der Strom wird abgeschaltet, die Strecke stillgelegt, die Suche nach versteckten Migranten beginnt. Es ist ein neuer, verzweifelter und lebensgefährlicher Weg, auf dem viele der in Italien Gestrandeten versuchen, über den Brenner nach Österreich und weiter nach Bayern zu gelangen. Allein im August barg die deutsche Polizei 80 Migranten aus Zwischenräumen in Aufliegern, die nur ein paar Zentimeter über den Schienen liegen. "Sie verstecken sich noch in Italien auf den Zügen", sagt Scharf, "sind so viele Stunden unterwegs, dehydrieren dabei oft völlig und sind sich der Gefahr, in die sie sich begeben, mitunter gar nicht bewusst."

Ein Zug nach dem anderen wird angehalten, jeder Zentimeter ausgeleuchtet, alle nicht verplombten Lkw werden geöffnet und durchsucht. Die meisten der Aufgegriffenen stammen aus Staaten südlich der Sahara und haben weder in Italien noch in Deutschland besonders große Chancen auf Asyl. Ihr Schicksal und das derer von der Autobahn zeigt, dass der Sommer 2015 mit Tausenden, die täglich die Grenze überquerten, lange zurückliegt. Die Zeit des großen Kontrollverlusts an den Grenzen ist vorbei. Die des nach innen offenen Europas aber ebenso.