"Wofür stehen
sie noch?"

Er ist Deutschlands Politik-Popstar und Parade-Linker: Nun rechnet Gregor Gysi mit den Sozialdemokraten ab. Er seziert die Krise der Linken in Europa, sagt, was er an Angela Merkel schätzt und welche Schwächen er bei Sebastian Kurz ortet

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Gregor Gysi - "Wofür stehen
sie noch?"

News: Europas Sozialdemokraten suchen ihren Weg -in Deutschland, nicht ganz freiwillig, in der Wiederauflage der Großen Koalition. In Österreich, ebenso unfreiwillig, in der Opposition. Was ist einer Genesung zuträglicher?

Gregor Gysi: Bei den Österreichern bin ich mir nicht ganz sicher. Die SPD hatte aber recht, als sie anfänglich in die Opposition wollte, um sich dort wiederaufzubauen. Dann der Umfaller -aus "staatspolitischer Räson". Seit dem Ersten Weltkrieg genügt es, der SPD zu sagen, sie seien vaterlandslose Gesellen, und schon machen sie alles mit, nur um diesen Ruf nicht zu haben. Nun gehen sie bewusst einen Weg, von dem sie jetzt schon wissen, dass er sie weiter ruinieren wird. Das ist das Gegenteil von Genesung.

Warum sind linke Parteien europaweit in der Krise?

Es gibt mehrere Gründe. Der erste liegt länger zurück im Scheitern des Staatssozialismus. Das hat auch jenen Parteien geschadet, die sich immer davon distanziert haben. Zweitens fordert die Linke immer mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Ausgleich, Frieden -alles okay, nur erklärt sie nie, wie sie dafür sorgen wird, dass auch die Wirtschaft funktioniert. Da sagen sich viele Arbeiter: Alles schön und gut, nur was habe ich davon, wenn dann meine Firma zusperrt oder abwandert? Drittens ist die Welt für viele zu kompliziert geworden. War die soziale Frage bisher eine nationale Frage, so sind Konzerne längst global, mit Standorten auf der ganzen Welt. Durch die Digitalisierung ist es möglich, Lebensumstände zu vergleichen. Und nun kommen überall rechtspopulistische Parteien, die sagen, zurück zur Nation. Donald Trumps "America first" ist Vorbild beim Versuch, die Welt um 60 Jahre zurückzudrehen. Dass das verlockend klingt, verstehe ich gut, war doch tatsächlich alles einfacher und übersichtlicher. Klappen wird es trotzdem nicht.

»Um links zu sein, muss man nicht selbst arm sein«

Reinen Linksparteien wie der Ihren geht es hingegen recht gut. Woran liegt das?

Daran, dass die Sozialdemokraten selbst die Agenda der Neoliberalen zu exekutieren begannen und nun teuer dafür bezahlen. Denn wofür stehen sie etwa in Deutschland noch? Für den größten Niedriglohnsektor Europas, für millionenfache prekäre Beschäftigung.

Links reden, rechts leben: also von Offenheit und Pluralität sprechen, dann aber die eigenen Kinder in die Privatschule schicken. Keine Heuchelei der Linken?

Um links zu sein, muss man nicht selbst arm sein. Man muss gegen Armut sein. Es gibt Arme, die sind links, und andere, die sind rechts. Und es gibt Besserverdienende, zu denen gehöre ich, die nicht von Armut umgeben sein wollen. Aber ich gebe Ihnen Recht, das eine zu sagen und das andere zu tun, macht einen Linken unglaubwürdig. Es ist auch eine Illusion, zu glauben, private Einrichtungen seien automatisch besser. Ein anderer Fall ist es etwa in den USA, wo staatliche Institutionen zum Teil wirklich miserabel sind. Da ist es oft kaum zumutbar, das eigene Kind in eine grottenschlechte Schule zu geben. Gerade daher kämpft man ja als linker Politiker dort für bessere Schulen.

Und was ist mit Schulen mit hohem Ausländeranteil?

Ich bin gegen Ghettoisierung. Es ist falsch, 60 Kinder mit Migrationshintergrund und zehn ohne in einen Schulverband zu geben. Für meine Tochter war es kein Problem, dass in ihrer Klasse drei Mädchen mit Migrationshintergrund waren. Wenn es aber weit mehr als die Hälfte ist, wäre es schwerer geworden.

»Merkt ihr nicht, dass ihr falsch denkt, andere Arme zu bekämpfen?«

Gerade Arbeiter fühlen sich in der Flüchtlingsfrage von den Linken verraten. Denen wird gegeben, für uns bleibt weniger, ist das Credo. Was lief da falsch?

Das ist ein Irrtum. Ich geriet mal in eine Veranstaltung vor rechtem Publikum. Ich schlug denen einen Kompromiss vor. Nehmen wir an, ab morgen hätten wir keine Ausländer mehr im Land und lassen weg, dass dann unser Wirtschafts-, Sozial-und Steuersystem zusammenbräche, und sagen, uns bliebe eine Milliarde mehr. Dann meine Frage: Wie kommt ihr drauf, dass ihr auch nur einen Euro davon abbekämet? Merkt ihr nicht, dass ihr falsch denkt, andere Arme zu bekämpfen? Auf die Flüchtlinge bezogen, frage ich die Leute: Hattet ihr zuvor mehr Sozialhilfe? Ist sie euch jetzt gekürzt worden? Nein. Wenn ihr nicht den falschen Reichtum begrenzt, werdet ihr nie mehr haben. Wir denken in die falsche Richtung. Warum verdienen wir mit Waffenexporten bei jedem Krieg mit, der uns dann Flüchtlinge bringt? Warum wäre die Landwirtschaft in der Lage, zweimal so viele Menschen auf dem Planeten zu ernähren, während gleichzeitig jedes Jahr Millionen an Hunger sterben? Die Antworten darauf haben wir Linken. Entweder wir liefern sie, oder wir kuscheln mit Rechtspopulisten.

Ist der neue linke Star Jeremy Corbyn in Großbritannien ein echter Linker?

Durchaus. Nur wissen wir noch nicht, was er vom Programm umsetzt, sollte er regieren.

Corbyns Leitspruch "For the many, not the few"(Für die vielen, nicht die wenigen) ist auch anderen in Europa Vorbild, was selten funktioniert. Warum nicht?

Das liegt an der Glaubwürdigkeit vieler dieser Parteien und dem, was sie in der Regierung taten. Hinzu kommt der Wunsch, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Die Konzerne haben die soziale Frage globalisiert und die Staaten zu wenig dagegengehalten.

Wäre nicht genau das die Aufgabe linker Parteien in der Regierung gewesen?

Richtig, und sie haben versagt. Das waren bei uns Gerhard Schröder und Joschka Fischer, und nicht etwa Angela Merkel.

Wie stark ist sie noch?

Frau Merkel kann drei Dinge gut: Sie ist ganz erstaunlich wenig eitel. Sie ist materiell überhaupt nicht interessiert. Und sie kann zufällig sehr sympathisch lächeln. Ihre Schwäche ist, dass sie nicht weiß, wohin mit Deutschland und Europa, sie verwaltet das alles nur. Geht die SPD nun in die Regierung, beteiligt sie sich an der Verwaltung, denn von ihr kommen ja auch keine Ideen.

»Diese Generation der jungen Politiker ist so auf sich konzentriert, dass das eines Tages zusammenbrechen wird«

Was halten Sie im Gegenzug von Sebastian Kurz?

Ein-Mann-Parteien sind zurzeit in Europa ja beliebt. Siehe Macron in Frankreich. Ich glaube nicht, dass das langfristig erfolgreich ist, aber einmal kannst du damit eine Wahl gewinnen. Das Schlimme ist, wenn diese Person aus irgendeinem Grund unglaubwürdig wird, ist die ganze Partei erledigt. Meine Partei war eine ganze Weile auch ziemlich von mir dominiert, aber ich war immer umgeben von Leuten, die mir ständig widersprochen haben. Darüber habe ich mich natürlich auch geärgert, aber ich habe sie nie ausgewechselt. Andere bauen um sich herum lieber nur Zustimmung auf.

Eine Charakterschwäche?

Vor allem eine intellektuelle Schwäche. Du möchtest einfach Diskussionen nicht führen. Lieber bildest du dir einmal eine Meinung, und die muss gelten. In Diskussionen könntest du ja eigenes Irren einräumen müssen. Als Alphatier hältst du das schwer aus.

Und Sie sind kein Alphatier?

Doch, aber mit Selbstbewusstsein. Bei vielen anderen ist das eher schwach, auch wenn sie das Gegenteil ausstrahlen. Diese Generation der jungen Politiker ist so auf sich konzentriert, dass das eines Tages zusammenbrechen wird.

Zur Person: Gregor Gysi

In Ostberlin geboren, wurde er Anwalt und verteidigte DDR-Dissidenten. Nach der Wende war er Mitbegründer der SED-Nachfolgepartei PDS, die später als Die Linke in Gesamtdeutschland antrat. Gysi war zuletzt Oppositionsführer, Die Linke errang bei der Wahl 2017 9,2 Prozent. Im Jänner wurde er 70, gilt als Popstar der Politik und ist Präsident der Europäischen Linken.

Dieses Interview ist in News Nr. 05/2018 erschienen

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