Wie Putins Gas-Speicher Waffen wurden

Die EU hat kaum mehr Reserven. Recherchen zeigen: Bereits vor diesem Winter ließ Gazprom gigantische Gasspeicher leer laufen. Einer davon steht in Österreich. Ist die zeitliche Nähe zum Krieg Zufall?

von Wie Putins Gas-Speicher Waffen wurden © Bild: (C)2022 Ricardo Herrgott/News

Genau so stellt man sich einen Vollbluttechniker, einen Ingenieur der alten Schule vor. Wobei: Alt ist Stefan Lehner nicht. Nur erfahren. Und im Gespräch mit ihm kann man spüren, wie sehr den Maschinenbauer auch nach 22 Jahren hier Turbinen, Kompressoren und Druckminderer faszinieren. Weltpolitik, Russland, der Krieg in der Ukraine interessieren ihn höchstens privat. Öffentlich äußern will er sich dazu schon gar nicht. Wenn er einen aber über das Gelände seines beruflichen Einflussbereichs lotst, dann kommt er richtig ins Schwärmen.

Das "Gelände", das sind die oberirdischen Anlagen des Untergrundspeichers Puchkirchen in der Nähe von Vöcklabruck. In über 1.000 Meter Tiefe speichert Lehners Arbeitgeber, die RAG Austria AG, Erdgas in einer alten Lagerstätte ein. In rauen Mengen. Eine Milliarde Kubikmeter in einem einzigen Speicher. Das reicht, um ganz Österreich etwa zwei Monate lang mit Gas zu versorgen.

Russen-Gas für Deutschland

Die RAG ist noch an weiteren Anlagen beteiligt, und Stefan Lehner kümmert sich als technischer Leiter darum, dass sie rund um die Uhr funktionieren. Und sicher sind. Angesichts der Größe der Einrichtungen und der Abhängigkeit des Landes von Gas ist das eine fordernde und verantwortungsvolle Aufgabe.

Von den insgesamt sechs Milliarden Kubikmetern Speichervolumen der RAG werden jedoch gerade einmal 1,8 Milliarden unmittelbar für heimische Verbraucher genutzt. Der Rest lagert in Speichern, die in Joint Ventures mit anderen Unternehmen betrieben werden. Und die überwiegend für den wichtigsten Gasmarkt Europas, Deutschland, bestimmt sind. Genau hier endet Lehners Verantwortung. Genau hier beginnt Geopolitik. "Kein Kommentar", sagt er dann, wenn man ihn auf Dinge anspricht, die mit dem größten dieser Joint Ventures und vielleicht sogar mit dem Ukraine-Krieg zu tun haben. Schließlich ist er Ingenieur, nicht Politiker.

Fast drei der sechs Milliarden Kubikmeter Speichervolumen befinden sich nämlich unter Verwaltung von Tochterunternehmen der russischen Gazprom. Der Energieriese steht mehrheitlich im Eigentum des Kremls, ist das größte Gasförderunternehmen der Welt. Wie viele heimische Versorger nutzt auch Gazprom die gigantischen Erdgasspeicher, um während des Winters ausreichend Brennstoff zur Verfügung stellen zu können. Seit vielen Jahren nach dem immer gleichen Schema: einspeichern im Sommer, abrufen im Winter. Ein bisschen wie bei den Eichhörnchen, die während der warmen Jahreszeit auch jene überschüssige Nahrung vergraben, die sie während der Kälte zum Überleben brauchen.

Zufällig leer?

Normalerweise sind die gigantischen unterirdischen Gastanks zu Beginn der Heizsaison im November (fast) voll. Normalerweise. Im November 2021, wenige Monate vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, waren sie jedoch leer wie nie zuvor. Oder präziser: Zumindest die russischen. Während RAG Austria und OMV (auch der teilstaatliche Mineralölkonzern betreibt große Gaslagerstätten) trotz der damals schon hohen Gaspreise dennoch hohe Füllstände auswiesen (66 bzw. 72 Prozent), lag der Gazprom-Großspeicher Haidach nahe Straßwalchen bei bescheidenen 21 Prozent. Nur zum Vergleich: In den Jahren davor waren es 83 bzw. 95 Prozent (siehe Grafik). Kann das Zufall sein?

Der Gazprom-Partner RAG Austria will das nicht kommentieren. Unter anderem deshalb, weil man gar keine Einsicht in die Geschäftsdaten des Partners hat. Die E-Control, der staatliche Energieregulator, hat diese Einsicht, darf jedoch nicht darüber sprechen. Und Gazprom?

Gazprom-Tochter dementiert

Der russische Energiekonzern verwaltet seine Speicher über das in Deutschland ansässige Tochterunternehmen astora, das direkt an Gazprom Germania angegliedert ist. Der Firmensitz liegt in Kassel im deutschen Bundesland Hessen. Uns gegenüber weist astora den Verdacht zurück, dass der auffällig niedrige Speicherstand zu Beginn der Heizsaison etwas mit dem Krieg in der Ukraine oder Einflüssen des Kremls zu tun haben könnte. Man sei "unabhängiger Betreiber von Speicheranlagen. Unsere Shareholder haben keinen Einfluss auf die operative Tätigkeit." Das Unternehmen verweist außerdem darauf, dass es die Speicher lediglich betreibe "und aufgrund gesetzlicher Vorgaben keinen Einfluss auf das Kundenverhalten und die Füllstände" habe.

Kunden, das sind -zum Beispiel -regionale Versorger oder Händler, die bei Speicherbetreibern wie RAG oder eben astora Kapazitäten buchen. Dies geschieht über öffentliche Auktionen, zu denen tatsächlich auch Mitbewerber von Gazprom "diskriminierungsfreien" Zugang haben müssen.

Was astora bei der Argumentation nicht erwähnt: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist auch Gazprom "Kunde". Gazprom Export, also jener Teil des Konzerns, der ausdrücklich für die Belieferung Europas zuständig ist, nennt Haidach (und andere Speicher in Europa) in Unternehmensbroschüren als "strategisch bedeutend" bei der Versorgung der EU mit Gas. Es wäre wohl widersinnig, würden der Konzern und seine nachgegliederten Handelsunternehmen dafür fremde und nicht eigene Speicher nutzen. Dabei wird der geopolitische Hebel der Großspeicher mit jedem Tag länger. Stark vereinfacht gesagt helfen sie der Moskauer Regierung jetzt, Europa vorzuführen, wie abhängig es von den Gaslieferungen aus Russland ist. Und was für eine schlechte Idee es wäre, bei Sanktionen über das Ziel hinauszuschießen.

Nächster Winter als Drohung

Die aktuell gähnend leeren Anlagen brauchen Zeit, um sie bis zum nächsten Winter wieder anzufüllen. Doch die Pipeline-Kapazitäten nach Europa sind begrenzt. Fehler, die jetzt geschehen, können Auswirkungen bis in den nächsten Winter hinein haben. Zu tun hat das mit der seinerzeitigen Planung der Pipelines und der Transportinfrastruktur in Europa. In den Geschichtsbüchern der Energiewirtschaft sind Leitungen und Speicher gewissermaßen als Einheit dokumentiert oder zumindest als eng miteinander verzahnte Systeme.

Der Bau von Pipelines ist nämlich sehr teuer. Und je größer sie sind, desto teurer werden sie. Seinerzeit entschied man sich für eine Art Mittelweg. Deshalb wurden die Leitungen so dimensioniert, dass sie im Sommer mehr Gas liefern können, als der Kontinent benötigt. Der Rest -siehe oben -fließt in die Speicher. Umgekehrt bedeutet das jedoch: Sind diese schon zu Winterbeginn leer, gerät das System ins Wanken. Der Füllstand der Speicher wird so zur Energie-Waffe.

Gasspeicher
© News

Auffällige Speicherdaten: Anders als europäische Betreiber zeigte Gazprom im vergangenen Jahr wenig Interesse an der Befüllung seiner drei riesigen Gasspeicher. Zu Beginn der Heizsaison wiesen sie ungewöhnlich niedrige Füllstände auf. Normalerweise sind sie zu diesem Zeitpunkt (fast) voll. Laut Gazprom-Tochter astora liegt das an Kunden, die wenig Kapazitäten buchten. Großer Kunde ist jedoch Gazprom selbst.

Auch andere Großspeicher leer

Deshalb weiteten wir unsere Recherchen aus. Und wurden erneut in Unternehmensprospekten des russischen Mutterkonzerns fündig. Dort sind in ganz Europa insgesamt acht Speicher dokumentiert, die die Gazprom (teils mit Partnern) über Tochterunternehmen betreibt. Neben Österreich stehen diese in Serbien, Tschechien, den Niederlanden und Deutschland. Immerhin sind damit zwölf Prozent der gesamteuropäischen Speicherkapazität unter russischer Kontrolle. Wobei stark vereinfacht gesagt und aufgrund ihrer Größe nur drei Speicher von besonderer Bedeutung sind: Haidach in Österreich, Rehden in Deutschland und Bergermeer in den Niederlanden.

Bemerkenswert ist nun, dass neben Haidach im vergangenen Herbst auch die beiden anderen Großspeicher in Deutschland und den Niederlanden ungewöhnlich leer waren. Der Füllstand in Bergermeer (NL) betrug 30, jener in Rehden (D) gar nur neun Prozent. Zum Vergleich: Die Gasbunker des deutschen Energieriesen Uniper waren zu diesem Zeitpunkt mit 87 Prozent bestens gebucht. Der nächste Zufall vor einem Winter, der den Krieg brachte?

Botschaft schweigt

Nachdem die Gazprom-Tochter astora jegliche Verbindung zum Kreml bestritt, versuchten wir es stellvertretend für Moskau bei der Botschaft der Russischen Föderation in Wien. Dies mit der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der Invasion in der Ukraine und dem niedrigen Stand der Gasspeicher unter Gazprom-Kontrolle gebe. Und ob die Regierung diesbezüglich politische Wünsche an das mehrheitlich in Staatsbesitz befindliche Unternehmen delegierte. Russlands Vertretung wollte sich dazu öffentlich jedoch nicht äußern. So bleiben zur Beurteilung am Ende die auffälligen Zahlen zu Füllständen und der Umstand, dass Kriege nicht vom einen Tag auf den anderen geplant werden können. Wie schätzen also Experten die Lage ein?

Bereits im Herbst 2021 fiel auch der österreichischen E-Control auf, dass ausgerechnet die Speicher unter Gazprom-Kontrolle einen niedrigen Stand aufwiesen. Die Leiterin der Gas-Abteilung, Carola Millgramm, ortete "Erklärungsbedarf".

Große Abweichung vom Schnitt

Doch diese Erklärung kam bis heute nicht. Vielmehr verteilen Gazprom und seine in Europa tätigen Unternehmen irreführende Statements. In einer schriftlichen Stellungnahme des Speicherbetreibers astora an uns heißt es: "Die Füllstände unserer Speicher insgesamt (Jemgum, Rehden und Haidach) liegen im europäischen Durchschnitt." Das widerspricht nicht nur unseren Recherchen, sondern auch einer kurz vor Redaktionsschluss eingelangten Studie des Brüsseler Thinktanks Bruegel. Die Analysten berechneten zunächst den Durchschnitt des langjährigen Speicherstands gegen Ende der Heizsaison und verglichen diesen Wert mit den aktuellen Füllständen. Dabei stellte sich heraus, dass europäische Speicherbetreiber aktuell immerhin Füllstände von 75 Prozent vom langjährigen Mittelwert erreichen. Nur die Gazprom-Speicher scheren auch hier einmal mehr aus. Ihr Stand liegt dieser Tage bei nur zwölf Prozent des Richtwerts.

Fast ebenso interessant erscheint eine andere Beurteilung. Der deutsche CDU- Bundestagsabgeordnete und ehemalige Bundeswehr-Offizier Roderich Kiesewetter bemerkte in einer ZDF-Dokumentation, dass der Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine ob der schieren Größe der Mobilisierung wohl schon 2020 geplant worden sein musste. Stimmt das, dann könnte es eine Erklärung dafür sein, warum die unter Gazprom-Kontrolle stehenden Speicher nach dem Ende der Heizsaison 2020/21 nicht mehr auf ihren Normalstand befüllt wurden. Die Entscheidung hierfür müsste nämlich auch in jener Zeit gefallen sein. Dennoch und zur Erinnerung: astora bestreitet genau das.

"Keine Bezahlung -kein Gas"

Wie sehr uns das Thema der leeren Speicher in den kommenden Monaten und bis zum Beginn des nächsten Winters beschäftigen wird, das zeigte die Nachrichtenlage kurz vor Erscheinen dieser Ausgabe. So sicherte Wladimir Putin zu, weiter Gas zu liefern, allerdings zur Bezahlung nur noch russische Rubel zu akzeptieren. Dies deshalb, weil die Währung zuletzt stark an Wert verloren hatte.

Eine Forderung, die die Energieminister der sieben größten Wirtschaftsnationen (G7) in einer Sondersitzung ablehnten. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow antwortete prompt und deutlich: "Keine Bezahlung - kein Gas."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 13/2022.