Schwere Schlappe für
die deutsche Koalition

CDU/CSU trotz Verlusten noch vorn - SPD stürzt ab

Schwaches Ergebnis könnte auch die Große Koalition in Berlin erschüttern

von EU-Wahl - Schwere Schlappe für
die deutsche Koalition © Bild: AFP

Debakel für die Parteien der Großen Koalition in Deutschland: Union und SPD haben bei der Europawahl Hochrechnungen zufolge historisch schlecht abgeschnitten. Trotzdem bleiben CDU und CSU zusammen stärkste Kraft. Die Sozialdemokraten dagegen fallen auf den dritten Platz. Erstmals bei einer bundesweiten Wahl kommen die Grünen auf den zweiten Rang, die rechtspopulistische AfD kam über zehn Prozent.

Grüne jubeln

Die deutschen Grünen können über satte Zugewinne bei der Abstimmung am Sonntag jubeln. Die EU-skeptische alternative für Deutschland (AfD) verbesserte ihr Europawahl-Ergebnis deutlich, bleibt aber unter ihrem Ergebnis von der Bundestagswahl 2017.

Die Einbußen der Regierungsparteien dürften der Frage nach der Stabilität des schwarz-roten Bündnisses in Berlin neue Brisanz verleihen. Denn hinzu kommt: Wie bei der Europawahl verloren die Sozialdemokraten auch bei der zeitgleichen Landtagswahl in Bremen stark - der Stadtstaat war immer eine rote Hochburg. Die CDU lag dort nach Prognosen ein bis zwwi Prozentpunkte vor der SPD.
Bei der Europawahl schnitten Union und SPD so schlecht ab wie nie zuvor bei einer bundesweiten Wahl. Die Union von CDU und CSU erreicht nach Hochrechnungen von ARD und ZDF 28,1 bis 28,6 Prozent - etwa sieben Punkte weniger als bei der Europawahl 2014 (35,4 Prozent) und auch schlechter als bei der jüngsten Bundestagswahl (32,9 Prozent). Die SPD stürzt auf 15,3 bis 15,7 Prozent ab. Das sind rund zwölf Punkte weniger als bei der vorherigen Europawahl (27,3 Prozent) und noch schlechter als bei der Bundestagswahl (20,5 Prozent).

Ergebnisse der Hochrechnung

Die Grünen legen den Hochrechnungen zufolge auf 20,9 Prozent zu - gut zehn Punkte mehr als bei der Europawahl vor fünf Jahren (10,7 Prozent). Die AfD kommt auf 10,6 bis 10,8 Prozent (2014: 7,1 Prozent). Die Linke liegt bei 5,4 bis 5,5 Prozent (2014: 7,4 Prozent), die FDP bei 5,4 Prozent (2014: 3,4 Prozent). Auf andere Parteien entfallen 13,6 bis 13,8 Prozent.

Die Wahl war der erste Stimmungstest für die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer seit ihrem Amtsantritt im Dezember, Kanzlerin Angela Merkel hatte sich weitgehend aus dem Wahlkampf herausgehalten. Kramp-Karrenbauer sagte, das Ergebnis entspreche nicht dem Anspruch der Union als Volkspartei. CSU-Chef Markus Söder fordert ein strategisches Umdenken der Union: "Die große Herausforderung der Zukunft ist die intensive Auseinandersetzung mit den Grünen", sagte Söder im Bayerischen Fernsehen.

Unruhe und Druck bei der SPD

Die SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles bezeichnete das Ergebnis als "schmerzlich" und rief ihre Partei zur Einigkeit auf: "Wenn wir jetzt zusammenstehen, dann wird der Bundesparteitag (...) eine gute Basis für erfolgreiche Wahlen in 2020 und darauf aufbauend auch bei der Bundestagswahl 2021 sein", sagte sie am Sonntag in Berlin. In Medienberichten war spekuliert worden, dass es in Teilen der Partei Bestrebungen gebe, Nahles an der Spitze der SPD abzulösen.
Generalsekretär Lars Klingbeil sagte: "Das Ergebnis kann nicht ohne Folgen bleiben." Bei den Sozialdemokraten dürfte sich nun der Druck auf Nahles weiter erhöhen. Fraktionsvize Achim Post und Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz wird nachgesagt, sich bereits für ihre Ablösung an der Fraktionsspitze im Bundestag warmzulaufen. Vizekanzler Olaf Scholz sagte der ARD jedoch: "Der Ruf nach personellen Konsequenzen führt nicht weiter".

Den innerparteilichen Gegnern der Großen Koalition um Juso-Chef Kevin Kühnert liefern die Niederlagen neue Argumente. Eine Kabinettsumbildung wird es auf jeden Fall geben, weil Justizministerin und SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley ins EU-Parlament wechselt. Ob noch mehr Posten neu verteilt werden, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.

Gabriel fordert von Nahles Konsequenzen aus SPD-Desaster

Der langjährige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat von SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles Konsequenzen aus den desaströsen Wahlergebnissen der Sozialdemokraten gefordert. "In Berlin müssen jetzt diejenigen Verantwortung übernehmen, die den heutigen personellen und politischen Zustand in der SPD bewusst herbei geführt haben", sagte Gabriel laut Medienberichten.

»Alles und alle gehören auf den Prüfstand«

"Alles und alle gehören auf den Prüfstand", fügte der frühere deutsche Außenminister dem "Tagesspiegel" und den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND, Montagsausgaben) hinzu. "Es geht um mehr als eine Wahlniederlage, es geht jetzt um die Existenz der SPD als politische Kraft in Deutschland."

Gabriel war von Nahles nach Bildung einer erneuten Großen Koalition ausgebootet worden und durfte nicht als Außenminister weitermachen. Nach Informationen des "Tagesspiegel" will er bei der nächsten Wahl nicht erneut für den Bundestag kandidieren.

Hohe Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung lag bei 59,0 bis 60,0 Prozent - ein deutlicher Sprung nach oben: vor fünf Jahren waren es 48,1 Prozent. Diesmal waren bei der Europawahl in Deutschland 64,8 Millionen Menschen wahlberechtigt. Wichtige Themen im Wahlkampf waren Klimaschutz, Mindestlohn, die Besteuerung von Internetkonzernen sowie die Migrationspolitik und die Internet-Urheberrechtsdebatte. Bestimmt war er auch von Sorgen vor einem Erstarken von Rechtspopulisten, EU-Skeptikern und Nationalisten.

Erwartet wurden auch auf europäischer Ebene Verluste bei Christ- und Sozialdemokraten im Vergleich zur Wahl 2014 und Erfolge rechter EU-Kritiker in wichtigen Ländern. Liberalen und Grünen wurden Zugewinne vorhergesagt.

Die EU-kritische AfD will im Europaparlament eine neue Fraktion mit anderen Rechtspopulisten wie der italienischen Lega und der französischen Partei Rassemblement National oder der FPÖ bilden. Kurz vor der Wahl war die mit der AfD verbündete FPÖ in Österreich durch die Ibiza-Affäre massiv unter Druck geraten. In Deutschland sah sich zuletzt vor allem die CDU scharfer Youtuber-Kritik ausgesetzt. Zudem hatten in den vergangenen Monaten Zehntausende junge Aktivisten bei den Fridays for Future-Protesten für mehr Klimaschutz demonstriert.

Die deutschen Sitze im EU-Parlament

Nach den Prognosen verteilen sich die 96 deutschen Sitze im EU-Parlament so: CDU/CSU 27 bis 28 Mandate, SPD 15, Grüne 20 bis 22, AfD 10 bis 11, Linke 6, FDP 5 bis 6, auf andere Parteien entfallen demnach 10 bis 11 Sitze. Weil bei der Europawahl keine Fünf-Prozent-Hürde gilt, konnten sich auch Kleinparteien Chancen auf einen Platz im Parlament ausrechnen.

Das Europaparlament hat wichtige Kompetenzen in der EU-Gesetzgebung und muss unter anderem dem jährlichen EU-Haushalt zustimmen. Es spielt auch eine wichtige Rolle bei der Bestimmung des neuen EU-Kommissionspräsidenten.

Nach der Wahl soll möglichst rasch über den Nachfolger des scheidenden Kommissionschefs Jean-Claude Juncker entschieden werden. Die europäischen Christdemokraten haben den CSU-Politiker Manfred Weber als Spitzenkandidaten ins Rennen geschickt, die Sozialdemokraten den Niederländer Frans Timmermans. Ob tatsächlich einer von ihnen künftig die Kommission führen wird, ist aber offen, da die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder auf ihr Vorschlagsrecht pochen. Sie wollen sich am Dienstag zu einem Sondergipfel treffen.

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