Verbotenes Land:
Wie ticken die Tiroler?

Von Ischgl bis zur Südafrika-Mutation: Tirol und Corona, das scheint eine Geschichte der Sturheit, Uneinsichtigkeit und des Widerstands gegen "die aus Wien" zu sein. Doch wie ticken eigentlich die Menschen im Land, und warum ticken ihre Politiker manchmal aus?

von Politik - Verbotenes Land:
Wie ticken die Tiroler? © Bild: iStockPhoto.com

Welche Sager der Corona-Krise auch nach Ende der Pandemie in Erinnerung bleiben könnten? "Die Behörden haben alles richtig gemacht!" des Tiroler Gesundheitslandesrates Bernhard Tilg, nachdem sich von Ischgl aus Corona in halb Europa verbreitet hatte, hat gute Chancen darauf. "Wenn nur ansatzweise irgendwas aus dem Gesundheitsministerium kommen sollte, dann werden sie uns am Montag richtig kennenlernen" liegt ebenfalls gut im Rennen. Diese vollmundige Drohung kam vom Tiroler Wirtschaftskammer-Präsidenten Christoph Walser, weil er nicht einsehen wollte, dass die südafrikanische Corona-Mutation, die in seinem Bundesland gehäuft auftritt, besondere -strengere -Maßnahmen erfordert. Zwischen den beiden Sätzen liegen rund elf Monate und ein Urteilspruchs über Tirol, gefällt vom Rest Österreichs. Der lautet: "Nichts dazugelernt!"

Die Tiroler richtig kennenlernen? Viele meinen dieser Tage, das Land mittlerweile schon zu gut zu kennen. Für ein Feindbild reicht das Wissen allemal. "Stur" seien sie, die Tiroler. "Gierig" all jene, die in einer toten Wintersportsaison um Reste ihres Geschäfts kämpfen. "Dodeln" die Veranstalter eines Skilehrerkurses in Jochberg, der sich flugs in einen Corona-Cluster verwandelte. Und dass sich die "Südafrika-Mutation" ausgerechnet rund um die Wintersporthochburg Zillertal festgesetzt hat? Eh klar. Skilehrer-Charme, beharrliches Duzen und kerniger Dialekt als Sympathiebringer? Im Moment eher kein Thema. "Wien-Bashing" übrigens auch.

Heute duckt sich Restösterreich mit all seinen kleinen und größeren Coronasünden und schaut zu, wie sich die Tiroler schwungvoll in die Nesseln setzen. Doch wer sind "die Tiroler"? Darf und kann man sie mit jenen polternden Herren aus der Politik gleichsetzen, die bisweilen auch abseits von Corona Schlagzeilen machen? Wenn Landeshauptmann Günter Platter sich beleidigt gegen Corona-Maßnahmen des Bundes aufplustert, ist das vielen seiner Landsleute zwar unangenehm, aber in Meinungsumfragen liegt die Tiroler ÖVP weiter unangefochten weit voran.

Die Vermessung Tirols

Tirol in unbestreitbaren Zahlen. 12.648 Quadratkilometer, rund 758.000 Einwohner und 45.200 Euro Wirtschaftsleistung pro Kopf. 573 Dreitausender, darunter der höchste Berg Österreichs, der 3.798 Meter hohe Großglockner in Osttirol. 90 Skigebiete, rund 1.100 Lifte und 4.000 Pistenkilometer. Die Wirtschaftskammer Tirol meldete für 2019/20 340.700 Gästebetten mit 27,6 Millionen Nächtigungen in der Wintersaison und 21,8 Millionen im Sommer. Rund 38.600 Beschäftigte im Bereich "Beherbergung und Gastronomie" umsorgten in dieser Vor-Corona-Saison die Gäste. Ende Jänner 2021 verzeichnet die Branche hingegen 14.700 Arbeitslose. Der Anstieg gegenüber Jänner 2020, als die Viren noch weit weg und die Pisten voll waren: 832 Prozent.

Tirol in umstrittenen Zahlen: Von 165 bestätigten Fällen der heiklen Corona-Mutation B 1.351 in Tirol seien nur noch acht aktiv, erklären Tiroler Politiker Anfang der Woche beharrlich. Daneben jongliert man mit Zahlen von teilsequenzierten Fällen und Verdachtsfällen. Über die jeweiligen Infektionsketten sei man im Bilde. Virologen hingegen gehen zu diesem Zeitpunkt bereits von viel mehr Fällen aus und warnen vor einem unkontrollierbaren Infektionsgeschehen. Was man aber auch sagen muss: Am Dienstag wurden aus Tirol "nur" 98 Neuinfektionen insgesamt gemeldet, die Sieben-Tage-Inzidenz lag laut AGES bei 84,2 und damit unter der gesamtösterreichischen von 102,7.

Deshalb hat man in Tirol wenig Verständnis für strengere Corona-Regeln für das ganze Bundesland. Auf dieser Basis lässt sich lauthals streiten, wie Gesundheitsminister Rudolf Anschober und Landeshauptmann Günter Platter ein ganzes Wochenende lang bewiesen. Am Ende verkündete Tirol neue Maßnahmen wie negative Antigen-Tests für Seilbahnbenützer und den Aufruf zur allgemeinen Mobilitätseinschränkung. Der Bund reagierte mit einer Reisewarnung für Tirol, die Seilbahnobmann Franz Hörl noch als "Rülpser aus Wien" titulierte, und setzte tags darauf mit einer Testpflicht für alle, die das Land verlassen wollen, nach. Alle Beteiligten schienen von der Debatte einigermaßen erschöpft.

"Wenn die so weitermachen, werden wir autonom wie Südtirol. Die Salzburger waren schlauer als wir, die haben sofort einzelne Regionen abgeriegelt. Das hätten wir in Tirol auch machen sollen. Aber monarchistisch ein ganzes Bundesland infrage stellen, das führt unausweichlich in die Autonomie", kommentiert der Schauspieler Tobias Moretti ironisch das Gezerre.

Die Tiroler sind stur

Eine Erklärung dafür, warum die Wogen rund um Tirol derartig hochgehen, lautet: die Menschen hier seien eben besonders widerständig. Karlheinz Töchterle, ehemals Rektor der Universität Innsbruck und danach Wissenschaftsminister, sagt: "Wenn man verstehen will, warum in Tirol dieser Wesenszug so ausgeprägt und das Obrigkeitsdenken geringer als im Osten Österreichs ist, muss man sich die Bauernhöfe ansehen: In Tirol stehen sie wie Burgen auf einem Hügel, im Osten in Senken. In Tirol gab es nie Leibeigenschaft und schon früh ein freies Bauerntum." Dazu komme die verklärte Geschichte um Andreas Hofer, "in die man eine Wehrhaftigkeit hineininterpretieren kann. Wenn man die Besatzungsmacht mehrfach aus dem Land geworfen hat, entsteht natürlich viel Mythos."

Das könnte auch dazu beigetragen haben, "dass wir nicht gleich und zu wenig zerknirscht waren", sagt Töchterle mit Blick auf die Ereignisse vor einem Jahr in Ischgl. Dort sei man von der Corona-Krise am falschen Fuß erwischt worden, gesteht er zu, meint aber: "Das Ischgler Getriebe war schon vor Corona kritisierenswert." Ein "Alpenballermann" sei hier entstanden.

Ohnedies sehen immer mehr Tiroler genau jenen Wirtschaftszweig kritisch, der die Corona-Kalamitäten mitverursacht, sagt Töchterle. "Wo immer ein großes Skitourismusprojekt geplant wird, gibt es kräftige Gegenwehr. Man empfindet das Ganze immer mehr als Overtourism." Oft seien es internationale Investoren, die hier bauen, "immer mehr Betten, immer mehr Lifte, mit all den üblen Folgen". Derweil verteure sich der Wohnraum für die Tiroler, weil die Grundstückspreise steigen. "Wir leiden unter unserer Attraktivität." Und nicht einmal mehr der Mythos vom Skilehrer-Charme hält noch, was man sich früher von ihm versprechen konnte: "Charmeur und Frauenbeglücker, das ist vorbei" - zumindest für Tiroler, wenn, wie in den Jochberger Skilehrerkursen, Briten fürs internationale Publikum lernen.

Der Tiroler Psychologe Johannes Achammer erkennt ein Stadt-Land-Gefälle, was die Sympathien der Tiroler für den Tourismus und seine polternden Repräsentanten betrifft. Die Städter sehen die Hoteliers und Liftbetreiber oft als Profiteure und meinen jetzt: "Selber schuld." Andererseits: "Es sind ganze Täler vom Tourismus abhängig." Den Gästen - vor allem aus dem Norden -stehe der Tiroler zwiespältig gegenüber, erklärt Achammer: "Der große Bruder aus Deutschland kommt und überläuft uns auf allen Ebenen." Neben den Gästen in den Urlaubsregionen gebe es sehr viele Deutsche an der Universität. An manchen Fakultäten seien sie als Studierende und Lehrende in der Überzahl. Und, noch ein weiteres Thema mit "den Deutschen", der Transit: Immer mehr Lkw aus dem Nachbarland und gleichzeitig wenig deutsche Fortschritte bei den Bahnanbindungen zum Brenner-Basistunnel - "das mag der Tiroler nicht, da kann er stur werden", sagt Achammer. Seit Jahr und Tag schwelt der Streit darüber zwischen Bayern und Tirol. Wenn dann auch noch Markus Söder das österreichische oder -noch schlimmer -das Tiroler Corona-Management und die Öffnung der Skipisten in Frage stellt, dann muss man ja schon aus Trotz die Skier anschnallen. Die Berge nämlich bieten dem Tiroler Sinn und Orientierung, erklärt der Psychologe: "Wir wissen durch sie immer, wo wir sind. Wir schauen hinauf, sehen die Gipfel und orientieren uns an ihnen."

Und abseits der Skipiste? Da seien die Tiroler "gemütlich und herzlich", sagt Achammer. "Die Oberlandler brauchen ein bissl mehr Zeit, aber dann sind sie Freunde fürs Leben. Die Unterlandler sind ein bissl oberflächlich, nehmen alles mit Humor, drücken einen an die Brust." Wenig überraschend: "Wir haben keine Berührungsängste. Wir duzen ja jeden." Generell ließen seine Landsleute viel zu, "können aber schnell und energisch reagieren, wenn es ihnen zu viel wird."

Nicola Werdenigg sieht die Probleme der letzten Wochen nicht bei den Tirolerinnen und Tirolern, sondern bei den starken Interessenvertretungen und Lobbys, die das Land prägen. In den Tälern sei die Gesellschaft anders strukturiert, meint Werdenigg: "Da ist sehr viel Patriarchat vorhanden. In einem Dorf weiß jeder alles von jedem, man ist aber seit Jahrhunderten und Jahrtausenden trotzdem darauf angewiesen, dass die Dorf-Community passt. Gleichzeitig ist die natürlich viel restriktiver und härter als eine freie, multikulturelle Gesellschaft. Man hält sich an das, was alle tun, wie das in frühen Strukturen halt immer notwendig und wichtig war. Sippen, Familienbande sind am Land viel wichtiger als in einer Großstadt." Sie erinnert sich: "Ich bin im Zillertal aufgewachsen, mein Vater ist Innsbrucker, meine Mutter ist Linzerin. Wir waren zu der Zeit, als ich im Zillertal Kind war, nicht wirklich als Einheimische akzeptiert, das dauert einfach." Und zum Skifahren, immerhin ihre frühere Profession, meint Werdenigg: "Das hat deswegen so einen hohen symbolischen Stellenwert, weil es seit der Nachkriegszeit als Identitätsstifter für die österreichische Volksseele gebraucht wird und seit den 50er-Jahren nie hinterfragt wurde, was da passiert. Die Pandemie brennt da jetzt halt wie ein Brennglas drauf."

"Abrisskante zur Ignoranz"

Der frühere Neos-Chef Matthias Strolz ist zwar Vorarlberger, hat aber in Innsbruck studiert und kennt die Tiroler Seele. Das Land sei "ein Powerhaus", was die Tiroler in diesem wohlhabenden Großraum zwischen Süddeutschland und Norditalien im Tourismus "aufgleisen", sei bewundernswert, "das ist das Glück des Tüchtigen. Die Tiroler sind Anpacker." Dazu komme noch die historische Erfolgserzählung des Landes: "Das macht sehr selbstbewusst, kann aber auch zu Hybris führen. Dieses ,Wir haben alles richtig gemacht' nach Ischgl -da ist die Abrisskante zur Ignoranz."

Eine der vielen Tiroler Erfolgsgeschichten schreibt der ehemalige Skirennläufer Benjamin Raich. Er war zwei Mal Olympiasieger, drei Mal Weltmeister, verbuchte 36 Weltcupsiege. Raich und das Skifahren, zum Feiern ist ihm da heute kaum zumute: "In meinem Umfeld erlebe ich lauter Menschen, die sich strikt an die Regeln halten. Ob der Elektriker kommt, die wenigen beruflichen Termine, die ich wahrnehmen muss, oder am Skilift -alle tragen Maske und halten Abstand. Gleichzeitig kenne ich Menschen, die sich angesteckt haben, obwohl sie sehr, sehr vorsichtig waren. Es kann wirklich jeden treffen." Dass seine Heimat heute im Zentrum der Kritik steht, kann er bedingt nachvollziehen: "Ja, es sind unbestritten Fehler passiert, aber wir sind alle heute klüger als vor einem Jahr. Vor einem Jahr wussten wir so wenig, dass sich sogar die Experten verschätzt haben. Ich weiß noch genau, wie mir ein Arzt an meinem Geburtstag am 28. Februar auf meine Nachfrage hin versichert hat, das Virus würde bloß überdramatisiert. Wenn sich ein Arzt derart verschätzt, wie soll dann ein Wirt oder ein Hotelier geahnt haben, was da auf uns zukommt? Gleichzeitig habe ich damals zu einer Zeit Touristen ausgelassen feiern gesehen, als ich selbst schon lange in kein Lokal mehr gegangen bin. Da fehlt mir auch die Eigenverantwortung der Leute."

Der frühere Einzelsportler mahnt nun Teamgeist zwischen Bundesregierung und allen Bundesländern ein. "Wir sitzen im selben Boot", sagt er und: "Ich wünsche mir, dass wieder mehr Ruhe in die Gespräche einkehrt, dass Perspektiven aufgezeigt werden und dieses Gefühl, das wir vor einem Jahr hatten, dass wir als Gesellschaft zusammenwachsen durch diese Krise. Das Schlimmste ist, wenn manche Politiker im Moment jede Chance nutzen, um einen Keil in die Gesellschaft zu treiben. Sollte sich unsere wirtschaftliche Situation verschlechtern und diese Kräfte weiterhin die Menschen gegeneinander aufhetzen, dann habe ich arge Sorgen. Die Geschichte hat gezeigt, wie beeinflussbar Menschen sind, wenn sie in Not sind und um ihre Existenz fürchten. Deshalb ist mein wichtigster Appell, wieder mehr auf Zusammenhalt zu schauen."

Schauspieler Gregor Bloeb klingt hingegen resignativ: "Ich halte alle diese Maßnahmen für Wahnsinn und weigere mich, mich mit Corona weiter zu befassen. Ich sehe nicht mehr fern und drehe das Radio nicht mehr auf. Lieber lese ich das Alte Testament in der Fassung von Arik Brauer, da steht schon alles über die wahnsinnigen Maßnahmenverfüger. Ja, wir haben die Triage. Aber in der Kinder-und Jugendpsychiatrie. Tirol sollen sie gern abriegeln, meinetwegen in die Luft sprengen. Ich will davon nichts mehr wissen."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der aktuellen Printausgabe von News (Nr. 06/2021) erschienen