"Dieser Coronaschock ist das
beste, was uns passieren konnte"

Findet Historiker und Publizist Philipp Blom, der die Krise als große Chance sieht

Der Historiker und Publizist Philipp Blom hat sich eingehend mit den großen Krisen der Vergangenheit beschäftigt. Seit langem urgiert er ein radikales Umdenken angesichts des Klimawandels. In seinem neuen Buch "Das große Welttheater" (ab 25. Mai) erneuert er diese Forderung. Er nennt die Coronakrise eine große Chance.

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Radikales Umdenken - "Dieser Coronaschock ist das
beste, was uns passieren konnte"

Herr Blom, Ihr neues Buch entstand auf Anregung der Salzburger Festspiele. Wie kam es dazu?
Philipp Blom: Nach meiner Festspiel-Eröffnungsrede 2018 haben (Präsidentin) Helga Rabl-Stadler und (Intendant) Markus Hinterhäuser mich gebeten: "Schreiben Sie uns ein Buch zum 100. Jahrestag der Salzburger Festspiele. Es soll 'Das große Welttheater' heißen. Was Sie schreiben, überlassen wir gerne Ihnen. So viel Offenheit war eine große Herausforderung. Sie wollten, dass ich das Buch bei den Festspielen präsentiere, und ich glaube, sie wollten es als Teil des Dialogs, den die Salzburger Festspiele mit ihrer Gegenwart und Zukunft haben. Ich habe mich damit beschäftigt, was für eine Rolle Kunst und Geschichten spielen, eine Gesellschaft zu formen. Es geht darum, wie man Ideen denken lernen kann, und wie vielleicht auch Kunst uns dabei helfen kann zu lernen, wie eine neue Gesellschaft aussehen könnte. Wir sehen heute stärker denn je, dass wir in einem Modell von Ökonomie und Gesellschaft sind, das selbstmörderisch ist. Corona ist letztendlich ein Symptom davon, dass wir zu tief in die natürliche Zusammenhänge eingreifen. Wir haben nun eine historische Chance, uns zu überlegen, wie wir anders leben könnten.

Was hat man bei den Salzburger Festspielen zu dem Buch gesagt?
Blom: Es war ein anderes Buch, als sie es sich erwartet haben, aber sie haben gesehen, dass es mein Versuch ist, ihre Frage ernsthaft zu beantworten. Es ist ein Buch, das sich nicht explizit mit Festivals und Hochkultur beschäftigt, sondern das versucht, diese Frage weiter zu fassen und zu sagen: Wir sind Wesen, die sich selbst erzählen. Welche Geschichten wir erzählen, bestimmt, welche Gesellschaften wir bilden. Wenn die Erzählung lautet, dass wir die Herren die Schöpfung sind und uns die Erde untertan machen sollen, verhalten wir uns eben in einer bestimmten Weise. Diese Erzählungen können hilfreich sein, aber sie können auch mörderisch werden. Deswegen ist es sehr wichtig für eine Gesellschaft, sich zu überlegen: Was wollen wir uns erzählen über uns selbst?

Noch ist nicht entschieden, ob und in welcher Form die Salzburger Festspiele aufgrund der Coronakrise heuer stattfinden werden. Sollen sie unbedingt stattfinden?
Blom: Ich bin mir sicher, dass die verantwortungsvollste Entscheidung getroffen wird, die möglich ist. Ich glaube nicht, dass wir wieder Massenveranstaltungen haben können, bis wir wirksame Therapien und wirksame Impfstoffe haben. Es ist ganz schwer im Moment, sich zu überlegen, wie Kultur präsent bleiben kann - gerade Kultur, die von der lebendigen Begegnung existiert. Ich wünsche den Salzburger Festspielen, dass sie die beste Möglichkeit finden, die Flamme weiterzutragen, gerade in diesem hundertsten Jahr.

»Wie wir bis jetzt gelebt haben, können wir nicht weitermachen - sonst gibt es uns bald nicht mehr.«

Ihr Buch trägt den Untertitel "Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs". Ist Ihre Vorstellungskraft so weit gegangen, dass Sie sich das vorstellen konnten, was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben?
Blom: Natürlich nicht. Der Buchuntertitel klingt jetzt prophetischer, als er gemeint war. Auf der anderen Seite: Diese Krise fokussiert ja nur all die Probleme, die vorher auch schon da waren. Sie hat nur deutlicher gemacht, dass dieses Modell des Hyperkonsums samt einer Globalisierung, die völlig bizarre Ausmaße erreicht hat, fürchterlich unvernünftig ist. Wie wir bis jetzt gelebt haben, können wir nicht weitermachen - sonst gibt es uns bald nicht mehr. Und zwar sehr bald.

Andererseits haben wir jetzt erlebt, dass unglaubliche Dinge möglich waren ...
Blom: Das ist der geniale Moment! Immer hat man uns gesagt: "Ja, ganz schrecklich, was mit dem Klima passiert, aber was sollen wir machen? Die Wirtschaft muss ja weitergehen. Wenn man das unterbricht, dann geht die Welt unter." Und man hat behauptet, dass letztendlich jede Frage durch den Markt gelöst werden wird. Jetzt ist auf einmal eine Krise gekommen, wo wir gefunden haben: "Wir können und wollen dem Markt nicht vertrauen, diese Krise zu lösen. Sie muss vom Staat beantwortet werden. Dafür muss all das passieren, was vorher vollkommen unmöglich war, und zwar sofort, innerhalb von Tagen." Ich glaube, diesem Moment wohnt ein Zauber inne. Nie wieder kann uns jemand sagen: Das können wir nicht machen!

Was ist dafür verantwortlich, dass jetzt doch alles möglich ist?
Blom: Todesangst! Dabei produzieren wir gerade die größte Wirtschaftskrise seit 100 Jahren. Millionen von Menschen wird ihr Lebensmodell zusammenbrechen, und weil wir globalisiert sind, wird das auch Millionen in Ländern betreffen, die vom Virus selbst viel weniger betroffen sind. Diese ökonomische Krise und die politischen Krisen, die daraus hervorkommen werden, könnten wirklich schrecklich werden. Es ist trotzdem auch wichtig, diesen Moment als die Chance zu begreifen, die er ist. Dieses Modell hat uns an den Abgrund gebracht. Es ist ein bisschen wie jemand, der aus dem 30. Stockwerk springt, und bis zum Moment seines Aufpralls ist er bei bester Gesundheit. Die ersten Effekte des kommenden Aufpralls haben wir in den letzten Jahren erlebt. Dies ist wirklich der Moment, darüber nachzudenken: Wie wollen wir leben? Wozu wollen wir all diese Ressourcen nutzen? Aber es ist wahnsinnig schwierig, über etwas zu reden, das man noch nicht kennt. Einerseits ist es sinnvoll, die Welt viel lokaler zu denken, andererseits ist es ganz notwendig zu wissen, die Welt hört nicht an unseren Grenzen auf. Klima, Finanz-oder Migrationsströme, Terrorismus - das sind alles Dinge, die kann man nur global verstehen.

Grenzen wurden plötzlich enorm wichtig. Was bedeutet die Erstarkung von Nationalstaaten für die Zukunft? Ist der nächste mitteleuropäische Krieg damit ein Stück möglicher geworden?
Blom: Wenn man historisch arbeitet und an Umbruchsmomenten interessiert ist, dann sieht man, dass eigentlich zu jedem Zeitpunkt alles möglich ist. Und dass die großen Katastrophen immer dann kommen, wenn sich eine Gesellschaft besonders sicher fühlt. Es gibt aber gute Argumente gegen einen mitteleuropäischen Krieg oder gegen einen Aufstieg des Faschismus in Europa, und das stärkste Argument dagegen, das ich kenne, ist ganz einfach die Demografie: Wir hatten in den 20er- und 30er-Jahren sehr viele junge Männer, von denen die älteren bereits durch einen Krieg brutalisiert worden waren. Wir haben heute eine alternde Bevölkerung, die noch nie einen Krieg mitgemacht hat. Aber wir erleben jetzt schon, wie Demokratien langsam ausgehöhlt und abgeschafft werden um uns herum. Zwischen den Kulissen der Demokratie wird dort längst ein anderes Stück gespielt. Und falls künftig ein öffentliches Leben nur durch Tracking Apps möglich sein würde, schaffte das eine Informationsinfrastruktur, die katastrophal sein kann, wenn sie in die falschen Hände gerät.

»Die Bequemlichkeit, in der wir uns eingerichtet haben, ist tödlich geworden.«

Ganz restriktive Maßnahmen wurden unter dem Titel "Gesundheitskrise" erstaunlich widerspruchslos akzeptiert. Ist das auch eine der Lehren aus dieser Krise: Dass wir uns letztlich alles gefallen lassen?
Blom: Ich glaube, das ist eine Frage der Trägheit. Wir haben so viel, dass es sehr leicht ist, sich in ein unpolitisches Leben zurückzuziehen und sich 24 Stunden pro Tag entertainen, informieren, zudröhnen zu lassen. So lässt sich ganz reibungslos eine gewisse Lebenszeit abspulen, ohne sich politisch zu involvieren. Die meisten Leute gehen nur dann auf die Straße, wenn es ihnen schlecht geht. Solange es den meisten Menschen gut geht und sie sich gut unterhalten, solange sind sie wahrscheinlich ziemlich bereit, sich mit vielen Systemen zu arrangieren. Wir brauchen aber mehr Unbequemlichkeit, denn die Bequemlichkeit, in der wir uns eingerichtet haben, ist tödlich geworden.

Wird uns die Krise, die zeigt, was alles möglich ist, der eigentlichen Überlebensfrage der Menschheit näher bringen oder entfernen? Wird es nicht bald heißen, wir müssen die Wirtschaft wieder hochfahren, koste es, was es wolle, und um das Klima kümmern wir uns später? In Ihrem Buch nennen Sie das die "Omega-Phase" einer Gesellschaft: wider besseren Wissens Richtung Abgrund weitermachen...
Blom: In meinem Buch schreibe ich, dass es zu einem Kampf der Geschichten kommen wird, einen Kampf um die Erklärungshoheit über diese Zeit. Dabei gewinnt nicht die wahrste und edelste Geschichte, sondern die effektivste. Ich glaube, Menschen, die leidenschaftlich fühlen, dass wir anfangen müssen, anders zu leben, müssen versuchen, alles daran zu setzen, dass diese Geschichte die effektivste wird. Wir dürfen uns da nicht aus der Pflicht nehmen. Wir müssen jetzt für viele Generationen nach uns entscheiden, in welche Richtung es gehen wird. Dieser Coronaschock ist in gewisser Weise, ohne die Tragödie für viele Menschen negieren zu wollen, das Beste, was uns passieren konnte: Er zeigt, es geht anders, ja, wir können die Notbremse ziehen, wenn es nötig ist. Wir sind kein Appendix des Marktes, sondern wir haben unsere eigene Kraft und unsere eigenen Prioritäten.

Haben das aber auch die Politiker verstanden?
Blom: Politik ist eine pragmatische Kunst. Man muss trotzdem Visionen verfolgen, und die Vision kann nicht sein, dass das, was wir jetzt haben, eh schon das Beste ist. Nicht nur, weil wir uns räuberisch natürlichen Ressourcen und anderen Menschen gegenüber verhalten, sondern auch, weil wir sehen: Jugendliche ritzen sich, damit sie mal was fühlen, Menschen nehmen Unmengen an Antidepressiva - niemand kann mir erzählen, dass das die glücklichsten Gesellschaften der Welt sind. Wir müssen unsere Gesellschaft umstellen. Wir haben begriffen, dass wir nicht die Herren der Schöpfung sind. Wir haben begriffen, wir sind ein Organismus in einem riesigen System. Das wäre schon eine ganz einfache Einsicht, die eine neue Gesellschaft befördern könnte. Wir befinden uns an einem Moment, der so radikal ist wie die Aufklärung, so radikal wie die Anfänge unserer Kultur. Wir müssen neue Weichen stellen. Denn das, was wir jetzt haben, ist wahrscheinlich bereits in 20 Jahren nicht mehr lebensfähig.

»Die Menschen müssen es am eigenen Leib merken, um zu reagieren. «

Welche Geschichte wäre aber eingängig genug, das politische Handeln so nachhaltig zu verändern?
Blom: Wir sind psychologisch sehr schlecht dafür ausgerüstet, mit allmählichen und langsamen Krisen umzugehen. So eine plötzliche, katastrophale Veränderung wie Corona, darauf können wir sehr effektiv und schnell reagieren. Aber so eine schleichende Veränderung wie das Klima, wo noch dazu die größten und katastrophalsten Veränderungen woanders stattfinden, ist viel schwieriger. Gleichzeitig ist dies aber ein katastrophal trockener Frühling, und wir werden wahrscheinlich einen sehr warmen Sommer kriegen, in dem Menschen entsprechende Kreislaufprobleme haben werden. Die Menschen müssen es am eigenen Leib merken, um zu reagieren. Wir brauchen aber rasch riesige Veränderungen, wir brauchen einen echten green new deal, eine grüne nachhaltige Infrastruktur, die unsere Enkel noch gebrauchen können. Dann hätten wir wieder die Hoffnung in unserer Gesellschaft, dass wir für eine gemeinsame Zukunft arbeiten und nicht nur für unseren individuellen Wohlstand. Der Baumeister, der die Pläne für den Stephansdom gezeichnet hat, wusste, auch seine Enkel werden diesen Dom nie fertig sehen, aber in einigen Jahrhunderten wird da etwas Gewaltiges stehen. Das wäre ein Zugang, den wir jetzt bräuchten. Wir haben die Zukunft verloren und müssen sie uns wieder schaffen.

ZUR PERSON: Philipp Blom, 1970 in Hamburg geboren, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er lebt als Autor, Publizist und Historiker in Wien. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914" (2009), "Die zerrissenen Jahre. 1918-1938" (2014) und "Die Welt aus den Angeln" (2017). 2018 war er der Eröffnungsredner des Salzburger Festspiele.