Christoph Wiederkehr: "Die mangelnde Kultur der Offenheit"

Wiens Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr über Qualitätsprobleme im Kindergarten, sein Krisenmanagement bei der Missbrauchsaffäre und die Wiener rot-pinke Koalition.

von Christoph Wiederkehr © Bild: IMAGO images/SEPA.Media

Würden Sie Ihr Kind guten Gewissens in einen Wiener Kindergarten schicken?
Auf jeden Fall. Die Wiener Kindergärten sind sehr beliebt bei den Wiener Eltern. Wir bauen jedes Jahr die Zahl der Plätze in den städtischen Kindergärten massiv aus. Die sind immer sofort voll, weil die Qualität sehr gut ist und die Pädagoginnen und Pädagogen hervorragende Arbeit leisten.

Es gibt viele Kindergärten in Wien, die mit großen Problemen kämpfen: totale Überforderung durch Personalmangel, Gruppen werden von nicht qualifizierten Assistentinnen geleitet.
Es gibt insgesamt, in ganz Österreich, Herausforderungen durch den Mangel an ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen. Hier ist der Bund in der Verantwortung, die Ausbildung sicherzustellen. Wir machen in Wien sehr viel, indem wir zum Beispiel eine neue Bildungsanstalt für Elementarpädagogik bauen. Gleichzeitig verdoppeln wir ab September die Anzahl der Assistentinnen, damit immer zwei Personen gleichzeitig in der Gruppe sind.

Diese Verdoppelung gilt aber nur für Kindergartengruppen, nicht für sogenannte Familiengruppen.
Die Familiengruppen haben bereits einen besseren Betreuungsschlüssel. Wir haben uns alle unterschiedlichen Betreuungsformen angeschaut und gesehen, dass in den Kindergartengruppen bisher das schlechteste Betreuungsverhältnis war. Daher die Entscheidung, hier aufzustocken.

»Wir müssen jetzt in die Qualität investieren, und das braucht sehr viel Geld.«

Bund und Länder haben eine Erhöhung der Mittel für die Kindergärten vereinbart, knapp 60 Millionen mehr pro Jahr als bisher. Damit soll auch quantitativ ausgebaut werden, gleichzeitig klagen Kindergartenbetreiber aber über grobe Qualitätsprobleme in der bestehenden Infrastruktur. Ist das genug?
Das ist tatsächlich ein Problem. Im quantitativen Ausbau sind wir in Wien sehr weit. Wir müssen jetzt in die Qualität investieren, und das braucht sehr viel Geld. Es ist gut, dass jetzt mehr zur Verfügung steht vom Bund, aber es ist ein Tropfen aus den heißen Stein. Für Wien wird das eine Budgeterhöhung von ungefähr 1,5 Prozent bedeuten. Bei der aktuellen Inflation von acht Prozent kann man davon ausgehen, dass 1,5 Prozent mehr nicht den großen Qualitätssprung bedeuten.

Sie haben mit Missbrauchsvorwürfen in Wiener Kindergärten zu tun. Da ist einerseits der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs, andererseits soll ein Kind von einem Pädagogen im WC eingesperrt worden sein. Autoritäres Verhalten gegenüber Kindern ist oft ein Resultat von Überforderung. Gehen solche Fälle auch auf mangelhafte Zustände in Kindergärten zurück?
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Pädagoginnen und Pädagogen in allen Kindergärten hervorragende Arbeit leisten. Wenn es zu Übergriffen kommt, gibt es in der Stadt keine Toleranz. Ich habe gezeigt, seitdem ich von diesen Fällen erfahren habe, dass das Kindeswohl an erster Stelle steht. Ich habe eine Kommission eingesetzte, die diese Fälle untersucht, und personelle Konsequenzen gezogen. Gleichzeitig berate ich auch mit Expertinnen, wie wir den Kinderschutz weiter verbessern können.

Das sind sehr löbliche Maßnahmen, aber die Frage war: Sehen Sie ein strukturelles Problem aufgrund des Personalmangels?
Ich teile Ihre Annahme hier nicht. Ich glaube, dass das Personal sehr gut geschult ist.

Aber oft überfordert. Es kommen zum Beispiel ganz junge Pädagoginnen direkt von der Ausbildung in die Kindergärten, die ins kalte Wasser geschmissen werden.
Wir müssen natürlich die frischen Absolventinnen und Absolventen begleiten und unterstützen. Die allermeisten leisten einen hervorragenden Job. Dass es Menschen gibt, die für einen Beruf nicht qualifiziert sind, gibt es in allen Bereichen. Bei pädagogischem Fehlverhalten gegenüber Kindern melden wir das ganz konsequent der Staatsanwaltschaft.

Ein Fall von Verdacht auf sexuellen Missbrauch in einem Kindergarten der Stadt Wien wurde intern weitergeleitet und an die Staatsanwaltschaft gemeldet, aber die Eltern an dem Standort hat man ein Jahr lang nicht über die Vorwürfe informiert. Welches Selbstverständnis hat eine Behörde, die so vorgeht?
Das Problem war die fehlende Kultur der Offenheit, vor allem in der Kommunikation mit den Eltern. Man hätte gemeinsam mit ihnen den Verdachtsfall thematisieren und so für Aufklärung sorgen müssen. Ich habe selbst sehr spät davon erfahren, dann aber sehr konsequent gehandelt.

Davor herrschte also eine Kultur der Unoffenheit?
Mein Ansatz ist, so offen wie möglich damit umzugehen. Die Kommunikation mit den Eltern ist nicht gut gelaufen. Ich habe deswegen sehr schnell entschieden, die Standortleitung auszutauschen, weil es hier eine Vertrauensebene braucht. Es braucht das Vertrauen der Eltern in den Kindergarten, und das war mit dem Missbrauchsfall so zerrüttet, dass personelle Änderungen notwendig waren.

Sie haben auch die Abteilungsleiterin der für Kindergärten zuständigen Magistratsabteilung wegen unterschiedlicher Vorstellungen vom Krisenmanagement abgesetzt. Inwiefern waren sie unterschiedlich?
Es ging um die Art und die Geschwindigkeit der Informationsweitergabe.

Ich nehme an, Sie waren für die schnellere Gangart?
Für mich war es immer wichtig, so offen wie möglich zu sein. Ich möchte aber auch nicht weiter ins Detail gehen, weil die ehemalige Abteilungsleiterin auch große Verdienste für die Wiener Kindergärten hat. Sie hat die Abteilung zum Beispiel trotz großer Herausforderungen gut durch die Coronapandemie geführt. Das muss man anerkennen, aber in diesem Fall hatten wir so unterschiedliche Auffassungen, dass ein gemeinsames Arbeiten aus meiner Sicht nicht mehr möglich war.

Ist diese mangelnde Offenheit in der Kommunikation typisch für einen gewissen Wiener Stil, den Sie als Oppositionspolitiker kritisiert haben?
Ich habe festgestellt, das ist nicht meine Art, mit solchen Fällen umzugehen. Ich möchte transparenter handeln und möglichst offen mit den Eltern kommunizieren, soweit das in einem strafrechtlichen Verfahren geht. Es gilt ja auch, die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu schützen. Und wir dürfen nicht den Fehler machen, männliche Pädagogen generell zu verunglimpfen.

Der Gedanke ist natürlich naheliegend: Wenn von vornherein keine Männer im Kindergarten wären, gäbe es gewisse Probleme nicht.
Das halte ich für einen großen Fehler. Männer sind im Kindergarten eine Bereicherung, denn es braucht unterschiedliche und heterogene Vorbilder und Bezugspersonen. Es ist wichtig, sie gut zu begleiten, und ganz gefährlich, sie generell zu diskriminieren oder vorzuverurteilen.

Wie viel Spielraum haben Sie als sehr kleiner Partner in der Wiener Koalition?
Ich sehe, dass wir schon viel vorangebracht haben. Wir sind angetreten mit dem Anspruch, die Kindergärten und Schulen zu stärken. Da ist uns viel gelungen, zum Beispiel das Schulbudget um über 15 Prozent zu erhöhen. Wir haben gezeigt, dass wir in unserem Bereich einiges bewegen können. Aber viel Arbeit liegt noch vor uns.

Sie haben früher oft die damals mitregierenden Grünen kritisiert, sie hätten ihre Ideale verloren. Haben Sie jetzt mehr Verständnis für deren Position?
Ich sehe, dass ich meine Ideale und meine Vorstellungen auch in der Regierungsfunktion bewahren kann. Aber selbstverständlich, auch auf Bundesebene sehe ich, dass der Juniorpartner in einer Koalition für seine Anliegen immer sehr hart kämpfen muss. In der Politik wird einem nichts geschenkt, man kann mit dem eigenen Einsatz aber auch viel bewegen.

Genug, um für Ihre Wählerinnen und Wähler das Profil zu wahren?
Das müssen die Wählerinnen und Wähler feststellen. Ich bin überzeugt, dass wir in dieser Koalition schon vieles bewegen konnten.

Eine Frage an den Jugendstadtrat: Wie stehen Sie zu Fridays for Future?
Das ist eine wichtige Bewegung. Der Klimaschutz wird das größte Thema der Menschheit sein, entsprechend ist jede Initiative, die den Klimaschutz voranbringen will, gut. Wir sind auch im Austausch miteinander.

Als die Stadt Wien mit den jungen Stadtstraßen-Demonstranten nicht gerade zimperlich umgegangen ist, hat man nicht viel von Ihnen gehört, oder?
Ich hab zumindest gesagt, dass die Androhung einer Anzeige gegen junge Aktivistinnen nicht sinnvoll war. Ich fand es auch gut, dass Stadträtin Sima sich dafür entschuldigt hat. Ich verstehe das Anliegen, dass der Lobautunnel nicht kommt, weil ich es ökonomisch und ökologisch für nicht sinnvoll erachte. Bei der Stadtstraße habe ich eine andere Auffassung als Fridays for Future. Die Stadtstraße braucht es für leistbaren Wohnraum in den Stadtentwicklungsgebieten der Seestadt. Ich habe als Vizebürgermeister eine Verantwortung, dass Stadtentwicklung weiter stattfinden kann.

Ein sehr pragmatischer Zugang. Würde man sich von einem Jugendstadtrat nicht mehr Emotion und Empathie für ein Thema erwarten, das viele Junge sehr beschäftigt?
Ich habe sehr viel Empathie für Jugendliche, die sich politisch engagieren.

Aber nur, wenn sie es im Rahmen der Gesetze tun?
Ich finde dieses Engagement wichtig und sinnvoll. Ich bin aber gewählter Politiker und darf mich nicht gemein machen mit den Anliegen einer Organisation. Ich habe eine Gesamtabwägung zu treffen. Und ja, da bin ich natürlich pragmatisch, das ist mein Auftrag als gewählter Politiker.

Sind Sie überzeugt von der Wiener Klimapolitik?
Der Klimafahrplan ist sehr ambitioniert.

Ich habe mich über die kolportierte drastische Preiserhöhung bei der Fernwärme gewundert. Das ist eine Art der Wärmeversorgung, die das Potenzial hat, demnächst grün zu sein, und jetzt fügt man ihr so einen Imageschaden zu?
Es ist bedauerlich, dass die Preise insgesamt so stark steigen und dass sich wegen des Ukraine-Kriegs die Erdgaspreise auf dem Weltmarkt zum Teil vervierfacht haben. Da die Fernwärme leider immer noch sehr stark am Erdgas hängt, hat Wien Energie es als notwendig erachtet, diese Preissteigerung zu beantragen. Das ist schlimm, vor allem für die Betroffenen, deswegen ist es uns als Stadt auch wichtig, begleitende Maßnahmen zu setzen. Wir haben zum Beispiel einen Energiebonus beschlossen. Aber die wirklich großen Hebel liegen bei der Bundesregierung, die gefordert ist, zu entlasten.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 23/2022.