Wo bleibt unser Mitgefühl?

Es gibt immer mehr Terroranschläge, aber immer weniger Reaktionen.

Wieder ein Anschlag. Wieder in einer europäischen Metropole. Wieder ein Lieferwagen, der in eine Menschenmenge rast. Und wieder zahlreiche Tote. Nach Madrid, London, Paris, Brüssel, Berlin und Manchester war es diesmal Barcelona. Seit Jahresbeginn gab es durchschnittlich einmal im Monat einen Terroranschlag. Jeder zweite mit einem Fahrzeug als Waffe. Der Terror ist unter uns. Und es scheint, wir haben uns daran gewöhnt. Das zeigen auch die Reaktionen in den Sozialen Netzwerken. Wurden zu Beginn noch Profilbilder geändert oder in den Farben der Trikolore eingefärbt, veröffentlichten User diesmal Katzenbilder. Als Symbol des Widerstands. Die Aussage: Wir bieten dem Terror keine Bühne. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Was auf der Strecke bleibt, ist Mitgefühl.

von BARCELONA - Wo bleibt unser Mitgefühl? © Bild: shutterstock

Jeder, der schon einmal in Barcelona war, schon einmal über die Prachtmeile „La Rambla“ mit ihren mondänen Geschäften, schattigen Straßencafés und belebten Bars flanierte, wird wissen, wie sich spanisches Lebensgefühl anfühlt. Die pulsierende Stadt am Meer galt Millionen Touristen bisher als verlockendes und vor allem sicheres Urlaubsziel. Bis gestern. Bis ein Kleintransporter mit 80 Stundenkilometern die „La Rambla“ entlang raste und 14 Menschen tötete.

»Schrecklich, was passiert ist, aber wir bleiben stark und lassen uns nicht unterkriegen«

Die Reaktionen in den Sozialen Netzwerken ließen nicht lange auf sich warten. Sein Profilbild änderte jedoch niemand mehr. Stattdessen wurden unzählige Katzenbilder, Katzenvideos und Katzen-GIFs gepostet. Dass Katzen das Internet regieren, ist an sich nichts Neues – Stichwort „Cat Content.“ Zum ersten Mal steckt hinter den süßen Bildern jedoch eine politische Botschaft: Sie werden dazu verwendet, um dem Terror keinen Platz einzuräumen. „Kein IS. Nur Katzen“, „Schrecklich, was passiert ist, aber wir bleiben stark und lassen uns nicht unterkriegen“, „Schenkt den Terroristen keine Aufmerksamkeit, twittert lieber Katzen“, sind nur einige Bildunterschriften von vielen.


Doch auch die Art und Weise, wie wir Facebook nutzen, hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Postete man früher vor allem also Privates, so wurde es nach und nach immer stärker zur einer Plattform, um der Welt seine Meinung entgegenzuschleudern. "Das interessiert mich!" "So seh ich das!" "Das müsst Ihr lesen!" Oder auch: "So schrecklich!" "Hier fühle ich mit!" "Das bewegt mich!" Die Strandfotos aus Griechenland wurden von Mitleidsbekundungen, Leseempfehlungen und Meinungsstatements abgelöst.

Die großen Wellen des Mitgefühls

In 2015 erreichte diese Entwicklung wohl bei zwei Themen ihren Höhepunkt. Monatelang beherrschte einerseits die Flüchtlingskatastrophe die Sozialen Medien. Wer eine klare Meinung hatte, tat diese hier kund. "So muss man helfen", "Dort habe ich geholfen" oder "Das kann doch so nicht weitergehen" - Anschuldigungen, Belehrungen, Diskussionen und Selbstdarstellung, so weit der Newsfeed Platz hergab. Dazwischen aber auch: eine große Welle des Mitgefühls.

Neben der Flüchtlingsthematik wurde das Jahr 2015 auf Facebook andererseits klar vom Terror beherrscht. Und hier zogen die User stärker an einem einheitlichen Strang. Als am 7. Januar 2015 auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" ein Anschlag verübt wurde, war die Welt nicht nur erschüttert, sie zeigte es auch. "Je suis Charlie Hebdo"-Schriftzüge auf Titelbildern und Profilfotos in der virtuellen Welt, Blumenmeere in ganz Europa in der realen Welt.

»Die Welt war erschüttert. Und sie zeigte es auch.«

Bei den Terroranschlägen von Paris im November des gleichen Jahres wurde dieses intensive Zeigen von Mitgefühl noch übertroffen. "Je suis Paris"-Sujets, Memes gegen den Terror und in den Farben der Tricolore eingefärbte Profilbilder überschwemmten förmlich das Internet. Die Empathie war so greifbar wie selten zuvor. Die Welt rückte zusammen, trauerte gemeinsam, fühlte mit den Opfern und einem ganzen Land. Via Facebook war all das möglich.

Ein Wahnsinn nach dem anderen

Bevor das Entsetzen über Paris noch richtig Zeit hatte, um abzuebben, waren da allerdings schon die nächsten Vorkommnisse. Die Terroranschläge von Brüssel. Und Nizza. Dann Deutschland. Dazwischen Attentate in der Türkei. Anschläge in Paris, London, Stockholm, Manchester folgten.

Und in den Sozialen Medien: immer weniger davon zu lesen. Immer weniger "Je suis"-Bilder, immer weniger Profilbild-Änderungen oder Schockbekenntnisse. Es scheint, als hätte man sich an den Terror gewöhnt. Als wäre man nach und nach abgestumpft.

Das große Entsetzen bleibt zwar nicht aus, es hält jedoch nicht lange an. Ein Schock, ein Stich, vielleicht auch ein wenig Sensationslust, sobald man von einem weiteren Vorfall hört. Dann der unwillkürliche Gedanke: "Schon wieder so etwas". Gefolgt von einem "Ich habe das so satt". So gab es nach der Schießerei von München vor allem einen Schriftzug, den man online immer wieder las: "Je suis so sick of this shit" ("Ich habe diesen Dreck so satt"), in Anspielung auf die "Je suis"-Statements bei vergangenen Attentaten.

»Je suis so sick of this shit.«

"Die Zeiten haben sich geändert. Wir müssen lernen, mit dem Terrorismus zu leben", sagte der französische Premierminister Manuel Valls am Tag nach dem Nizza-Attentat. Aber müssen und wollen wir das wirklich? Ist es der richtige Weg, nach und nach abzustumpfen und sich einfach damit abzufinden, das solche Dinge passieren können? Die Angst einfach auszublenden?

Abstumpfen? Menschlich!

Fakt ist: Dieses Verhalten ist menschlich. Wer von einem Schockzustand in den nächsten stürzt und stets mit der gleichen Intensität mitleidet, wird in Zeiten wie diesen seines Lebens nicht mehr froh. Es ist gesund, sich abzugrenzen. Anfang 2016 gaben 66 Prozent der Österreicher bei einer Umfrage an, sich vor Terror zu fürchten. Und auch wenn man weiß, dass statistisch gesehen die Chancen, Opfer eines Anschlags zu werden, noch immer gering sind, wird das Gefühl der Machtlosigkeit nicht kleiner. Ratschläge wie das Meiden großer Menschenansammlungen lassen sich nicht immer umsetzen. Rationale Argumente helfen meist nur oberflächlich. Sich von der Furcht und dem Gesehenen mental abzugrenzen, ist da schon weit effektiver.

Öffentliches Mitgefühl in den Sozialen Medien: Mangelware

Ein Aspekt ist auch die oft brachial vorgetragene Kritik an der öffentlichen Solidaritätsbekundung. "Da fürchten sich die Terroristen aber, wenn Ihr alle Eure Bilder in der Tricolore einfärbt!" Oder aber: "Dieses 'Je suis'-Zeugs macht die Menschen auch nicht wieder lebendig!" In "Hallo, worum geht's? Ich bin dagegen!"-Manier wurde nach einiger Zeit jenes offen gezeigte Mitgefühl, das nach dem großen Abstumpfen noch übrig war, niedergewalzt. Wer nach dem dritten Anschlag immer noch seinen Schock äußerte und Stellung bezog, machte sich selbst angreifbar. Dazu kam die vorwurfsvolle Frage, warum das eine mehr berührt und das andere weniger. Weshalb gab es mehr Empathie-Bekundungen nach Anschlägen in Paris als nach Attentaten in Israel? Kein Wunder, dass öffentliches Mitgefühl in den Sozialen Medien nach und nach zur Mangelware wurde. Wer für das Zeigen seiner Gefühle Häme und Vorwürfe erntet, überlegt es sich beim nächsten Mal unter Umständen doppelt so genau.

Ein fahler Beigeschmack bleibt

Auch wenn Psychologen und Coaches in Interviews rund um die Verarbeitung der Terrorakte nicht müde werden festzustellen, dass es für die Seele gesund ist, Grenzen zu ziehen, so bleibt doch ein fahler Beigeschmack. Vielleicht ist es ja gut, dass wir Soziale Medien wieder mehr dafür nutzen, um über die schönen Seiten des Lebens zu schreiben. Wieder ein Foto aus dem letzten Kroatien-Urlaub mit unseren Freunden teilen. Unseren Bekannten ein hinreißend komisches Video zeigen, das uns vor Lachen die Tränen in die Augen getrieben hat.

»Die Grundlage des Weltfriedens ist das Mitgefühl.«

Solche Dinge werden in Zeiten wie diesen wichtig. Sie bekommen tatsächlich wieder Bedeutung und Wert. Bei allem Verständnis für unsere inneren Schutzmaßnahmen und ohne viel pathetisches Chichi, schadet es aber auch nicht, die wie üblich treffenden Worte des Dalai Lama im Hinterkopf zu behalten: "Die Grundlage des Weltfriedens ist das Mitgefühl." Gezeigt auf Facebook, besprochen mit seinem Umfeld oder gefühlt im Inneren - egal. Hauptsache, es geht uns nicht verloren.