Merkeldämmerung

Kehrtwende in der EU. Der deutsche Streit um die Asylpolitik ändert alles: Wer Europa nun wie schützen will, und wie viele Flüchtlinge derzeit überhaupt kommen. Zehn Fragen, zehn Antworten

von Asylpolitik - Merkeldämmerung © Bild: John MACDOUGALL / AFP

1 Worum geht es beim Streit zwischen Merkel und Seehofer eigentlich?

Vordergründig geht es darum, ob Deutschland künftig zweierlei Gruppen von Migranten an seiner Grenze zurückweisen kann: jene, gegen die bereits ein Einreiseoder Aufenthaltsverbot in Deutschland besteht, und solche, die schon in einem anderen EU-Staat als Asylsuchende registriert wurden. Beides wollte Innenminister Horst Seehofer im Alleingang umsetzen. Kanzlerin Merkel bremste, fürchtet "Dominoeffekte" bis hin zur "Infragestellung der europäischen Einigung" und hat bis Ende Juni Zeit, eine "europäische Lösung" zu finden.

Hintergründig geht es aber um weit mehr. "Angela Merkel wollte in der Flüchtlingskrise Deutschlands freundliches Gesicht zeigen", schreibt etwa das Magazin "Stern" und konstatiert: "Drei Jahre später ist das Land ein anderes: verunsichert, gespalten, radikalisiert." Besonders schockiert hat eine Reihe von Sexualmorden an Frauen, begangen von Flüchtlingen. Zuletzt musste die erst 14-jährige Susanna F. in Wiesbaden sterben. Der Täter, der Iraker Ali B., war zuvor mehrfach straffällig geworden, konnte aber trotz negativem Asylbescheid nicht abgeschoben werden. Weiters kam heraus, dass an deutschen Bundesasylämtern Tausende Bescheide manipuliert wurden und selbst Extremisten ungeprüft Schutzstatus erhalten hatten. All dies sind Belege eines Kontrollverlusts, der zum Staatsversagen in der Flüchtlingskrise führte. Merkels Credo "Wir schaffen das" verkehrt sich so ins Gegenteil.

Horst Seehofer und die bayerische CSU wollen daher die Reißleine ziehen. Auch weil in Bayern im Herbst Wahlen anstehen und die rechte AfD der CSU im Nacken sitzt, sucht sie die Machtprobe mit Merkel.

2 Inwiefern betrifft uns das überhaupt?

Allein seit Jahresbeginn nahm Deutschland über 18.000 Flüchtlinge auf, die zuvor schon in anderen EU-Staaten registriert wurden. Nach Seehofers Plänen müssten diese künftig direkt an der Grenze zurückgewiesen werden. Hauptbetroffen wäre Österreich.

So begrüßt zwar etwa Tirols Landeshauptmann Günther Platter grundsätzlich Seehofers Vorschläge, warnt aber vor "einem Stau an illegalen Migranten" in Tirol. Innenminister Herbert Kickl kalmiert: "Ich kann ausschließen, dass sich für Österreich etwas verschlechtert." Sollte Deutschland mit Rückschiebungen beginnen, würde jeder "Schritt im Gleichschritt" erfolgen, beteuert Kickl. Da Seehofers Plan die unmittelbare Zurückweisung an der Grenze, aber nicht die Rücküberstellung ins Erstantragsland vorsieht, könnte diese Aufgabe an Österreich hängenbleiben. Im Umkehrschluss würde dies fast zwangsläufig stärkere Kontrollen und Rückweisungen an Österreichs Grenzen zu Italien und Slowenien bedingen.

3 Wo steht Österreichs Regierung in diesem Streit?

Klar auf der Seite von Horst Seehofer. Kanzler Sebastian Kurz traf bei seinem jüngsten Besuch in Berlin erst Kanzlerin Merkel, deren Flüchtlingspolitik er bereits 2015 als "falsch" bezeichnet hatte. Danach sprach Kurz mit Seehofer über eine "Achse der Willigen", die den Schutz der Außengrenzen vorantreiben und Auffangzentren außerhalb der EU errichten sollen.

Im Hintergrund versucht Kurz schon länger, Verbündete für eine härtere Migrationspolitik in Europa um sich zu sammeln.

4 Was will Kanzlerin Merkel nun machen?

Eine Entscheidung im Merkel-Seehofer-Streit wurde vorerst vertagt. Die deutsche Kanzlerin ließ sich von ihrem Innenminister gar eine Frist diktieren. Bis zum EU-Gipfel am heutigen Donnerstag will sie Lösungen zur Rückführung der in anderen Staaten bereits registrierten Asylsuchenden vorlegen. Was Merkel als "europäische Lösung" anpreist, ist in Wahrheit der Versuch, zumindest mit Staaten wie Italien und Griechenland bilaterale Rückübernahmeabkommen zu schließen. Nicht umsonst sprach Merkel bereits von "Anreizen" für diese Länder und erwähnte ihren Flüchtlingsdeal mit Präsident Erdoğan als Beispiel, auf dessen Basis die Türkei sechs Milliarden Euro erhält. Zudem kann sich die in Not geratene Merkel nun auch Auffanglager und Asylzentren in Nordafrika, etwa im instabilen Libyen, vorstellen. Der Plan zur "Festung Europa" scheint fix, die Frage ist nur, ob sie geschlossen oder von jedem Staat einzeln errichtet wird.

5 Wie gut sind ihre Erfolgschancen?

"Ich fühle mich angespornt", sagte Merkel dazu selbst. Im Grunde weiß sie aber, dass ihr bis Donnerstag nicht gelingen kann, woran die EU seit drei Jahren scheitert, nämlich besagte große europäische Lösung. Die Idee, Flüchtlinge per Quote auf alle EU-Mitgliedsstaaten zu verteilen, wurde einst gegen das Veto von Ungarn und der Slowakei per Mehrheitsentscheid durchgeboxt. In der Praxis funktionierte der Plan trotzdem nie. Selbst Merkel musste kürzlich intern eingestehen, dass dies nicht zu "irgendeiner Befriedung beigetragen" habe. Dennoch hielten sie und die EU-Kommission viel zu lange an dem Plan fest. Erst der Streit mit Seehofer erzeugte nun eine neue Dynamik. Am Sonntag soll in Brüssel eine Art Vorgipfel mit Kommissionspräsident Juncker und sieben Staaten, darunter auch Österreich, stattfinden. Merkel wird dort versuchen, mit viel Geld und Geschick einen Minimalkonsens zu finden. Hilfreich ist, dass Frankreichs Präsident Macron sie in der Migrationspolitik stützt. Zum Ausgleich macht Merkel Geld für sein Lieblingsprojekt locker, ein eigenes Eurozonenbudget, das sie lange ablehnte.

6 Ist Merkels Ende also absehbar?

Ja und nein. Die Kanzlerin ist durch den Streit mit Seehofer in der Flüchtlingsfrage zur Getriebenen geworden. Ihr eigentlicher Plan, die "Willkommenskultur" still und lautlos zu begraben, ging gehörig schief. Will sie nicht öffentlich Abbitte leisten und Fehler im eigenen Handeln im Sommer 2015 eingestehen, werden sie CSU und parteiinterne Kritiker weiter vor sich hertreiben und beschädigen. Doch auch ihr Widersacher Seehofer ist politisch längst angezählt. Scheitert Merkel nun an einer Minimallösung, könnte er zwar ernst machen und seinen Zurückweisungsplan allein umsetzen, Merkel würde das aber wohl mit seiner Abberufung quittieren. So stünde der Bruch zwischen CDU und CSU im Juli weiter im Raum. Was Merkel die Kanzlerschaft vor allem noch rettet, ist nur, dass es in der CDU bis auf Weiteres niemanden gibt, der stark genug wäre, sie zu stürzen.

7 Wo stehen andere EU-Staaten in der Flüchtlingsfrage?

Zunehmend auf Seiten derer, die sich anfangs isoliert sahen. Das sind in erster Linie die vier Visegrád-Staaten Ungarn, Tschechien, Polen und die Slowakei. Unter Führung von Premier Viktor Orbán lehnten sie von Beginn an Merkels Politik der offenen Grenzen ab und verweigerten sich Flüchtlingsverteilquoten. Mit Österreichs EU-Ratspräsidentschaft rückt die von Kanzler Kurz ausgerufene "Achse der Willigen" ins Zentrum, die den Außengrenzschutz aufrüsten und Auffanglager außerhalb der EU, etwa am Balkan, schaffen will. Kurz nahm am Donnerstag in Budapest erstmals an einem Visegrád-Treffen teil. Als weiterer Verbündeter gilt Italiens neue Regierung. Matteo Salvini, Innenminister und Chef der rechtsnationalen Lega, ließ Häfen für NGO-Boote sperren, die bisher Migranten aus dem Meer bargen und nach Europa brachten. Auch die Niederlande, Belgien und Dänemark sprechen sich für eine restriktivere Flüchtlingspolitik in Europa aus. Selbst das einst liberale Schweden hat längst auf eine härtere Gangart umgeschwenkt, was die zuständige Ministerin damals unter Tränen verkündete.

Anders agiert nur Spaniens neue sozialistische Minderheitsregierung. Nachdem Italiens Innenminister Salvini das Einlaufen des NGO-Bootes "Aquarius" in den Häfen seines Landes untersagt hatte, erklärte sich Premier Pedro Sánchez solidarisch und öffnete den Hafen von Valencia.

Undurchsichtiger verhält sich Merkels wichtigster Verbündeter, Emmanuel Macron. Einerseits setzte der Präsident schon kurz nach seiner Wahl in Frankreich ein rigides Asylrecht um, ließ die Grenze zu Italien abriegeln, dort Migranten zurückweisen und erfüllt selbst die Flüchtlingsverteilquote nur zu einem Fünftel. Andererseits spricht er öffentlich gern von europäischer Solidarität und gemeinsamen Lösungen. Einig sind sich alle EU-Staaten bisher nur in einem stärkeren Schutz der Außengrenzen und im Ausbau der dafür zuständigen Agentur, Frontex.

8 Wie viele Flüchtlinge kommen derzeit überhaupt?

Weit weniger als zuletzt. Von Jahresbeginn bis Ende Mai wurden innerhalb der EU 43.200 Ankünfte von Migranten gezählt. Das sind um 46 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Besonders stark ist der Rückgang in Italien, was auf die Kooperation mit der libyschen Küstenwache und verschiedenen Rebellengruppen zurückzuführen sein dürfte. Fast eine Verdoppelung der Ankünfte meldet hingegen Griechenland. Grund dafür ist dort ein starker Anstieg der Querungen der Landgrenze zur Türkei. Entscheidend entlang aller Routen bleibt aber die Entwicklung im Sommer, wo in der Vergangenheit aufgrund des ruhigeren Meeres ein sprunghafter Anstieg der Ankünfte zu verzeichnen war.

9 Was ist mit der neuen "Albanien-Route"?

Medial ist seit einigen Wochen von einer neuen Flüchtlingsroute entlang der Staaten des Westbalkans die Rede. Die heimische Regierung warnte lautstark davor und bereitet nun eine Schutzübung an der Grenze zu Slowenien vor. Kritiker sehen darin bloße Propaganda und sprechen von einer durch Zahlen nicht rechtfertigbaren Zuspitzung. Tatsächlich ist die Zahl derer, die versuchen über Griechenland und Albanien nach Bosnien und von dort weiter bis Kroatien, Slowenien und eben Österreich zu gelangen, überschaubar und bewegt sich bei unter 10.000 Menschen. Doch gleichzeitig stellt schon diese Zahl eine enorme Steigerung im Vergleich zum Vorjahr dar. Hinzu kommt, dass in Griechenland schätzungsweise bis zu 60.000 Migranten gestrandet sind und die Zahl der Neuankünfte aus der Türkei im Steigen begriffen ist, was darauf hindeutet, dass der Flüchtlingsdeal mit Erdoğan in Gefahr geraten könnte. In der Türkei befinden sich derzeit bis zu drei Millionen Migranten.

10 Und wie geht es jetzt weiter?

Entweder gelingt in einem europäischen Kraftakt der Schwenk zu einer gemeinsamen Lösung der Migrationsfrage. Diese müsste neben klaren Zuständigkeiten wohl auch Verfahrenszentren außerhalb der EU umfassen und einen groß angelegten Plan zu mehr Hilfe vor Ort einschließen. Scheitert dies, wird jeder betroffene Staat noch stärker versuchen, eigene Lösungen zu erzielen. Dies führt zur Abschottung innerhalb der EU, der Aufrüstung der Binnengrenzen und zum Versuch, die Migrationsfrage beim jeweils südlicheren Nachbarn auszulagern. Es wäre das Ende eines grenzenlosen Europas.

Dieser Artikel ist ursprünglich in der Printausgabe Nr. 25/2018 erschienen.

Kommentare

melden

Eine Frau ohne Gewissen und Verantwortung!!! Es gibt nur eines Keine Landeerlaubnis von Schiffen in Europa und Grenzen zu, alles andere ist ein Verbrechen der höchsten Stufe!!! Auch vorher ging alles und Wartezeiten und Geldwechseln war normal! Wem es nicht passt, soll zu Hause bleiben!! Der (T)Euro war ohnedies ein Verbrechen! Aus Schilling wurde einfach Euro , aber nicht beim Gehalt!!

Xillo Bonnie melden

Dümmer geht`s nimmer.

TJA, da hat Frau Merkel ganze Arbeit geleistet. Die Grenzen gehen wieder zu. Lange Wartezeiten an den Grenzen sind die Folge. Europa mit den Europäern - kein Problem. Europa mit Moslems und Flüchtlingen - ein großes Problem. Keine Flüchtlinge mehr aus Afrika! Weder per Schiff, noch per Landrouten.

Seite 1 von 1