Für viele bedeutet der Eurovision Song Contest schlechte Musik und schräge Kleider, nicht mehr. Verständlich. Um zu verstehen, was seinen Reiz ausmacht, muss man vielleicht selbst einmal dabei gewesen sein: Unzählige Menschen aus ganz Europa – und anderen Ländern – kommen zusammen, um tagelang miteinander ein großes, fröhliches Fest zu feiern. Die Stimmung ein bisschen wie beim Schulskikurs. Es wird getrunken und getanzt, die Nächte sind lang, die Songs, unzählige Male gehört, ein wuselnder Haufen Dauerohrwürmer im Kopf. Irgendwann gewinnt irgendjemand, egal, wer eigentlich, und irgendwann sinkt man erschöpft in einen Zug- oder Flugzeugsitz und freut sich aufs nächste Jahr.
Der Song Contest, der schon lange in der queeren Community besonderen Kultstatus genießt, war immer ein Ort des Friedens und der Toleranz. Natürlich ging es dabei immer auch um Politik. Es ging um Politik, als sich das Zusammenwachsen Europas in den 90er-Jahren in den plötzlich stark wachsenden Teilnehmerzahlen spiegelte. Es ging um Politik, als der Bewerb 2011 in Aserbaidschan stattfand und lokale Bürgerrechtsgruppen die Anwesenheit internationaler Journalisten nutzten, um auf Menschenrechtsprobleme in ihrem Land hinzuweisen. Es ging um Politik, als die Ukraine 2022 gewann, wenige Wochen, nachdem Russland das Land überfallen hatte.
Ohne Politik wäre der Song Contest langweilig. Der Song Contest ist – ob die Verantwortlichen das nun zugeben oder nicht – im Kern eine politische Veranstaltung, ein Teilaspekt der europäischen Einigung, eine Utopie, die davon handelte, dass Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, aber ähnlich liberaler Lebensauffassung friedlich zusammenfinden und „Sieben, sieben ai lu-lu“ oder „Rim Tim Tadi Dim“ grölen können.
Handelte – Vergangenheitsform. Wenn die ersten drei Absätze wie ein Nachruf klangen, pure Absicht. Die Hippie-Ära ging zu Ende, als es bei einem Rolling-Stones-Konzert 1969 in Altamont zu schweren Ausschreitungen kam. Der Song Contest erlebte seinen Altamont-Moment vergangenes Wochenende in Malmö: Buhrufe in der Halle, Teilnehmer, die sich über die israelische Kandidatin lustig machten. Offener Antisemitismus, vorgetragen von halben Kindern in Faschingskostümen, die das Toleranzmotto besonders selbstgerecht vor sich hertragen, aber kein Problem damit haben, eine Gleichaltrige brutal zu mobben. Die Song-Contest-Idee ist damit gescheitert. Ab jetzt wird jeder Einigkeitsaufruf und jedes Regenbogenfahnenschwenken auf einer Song-Contest-Bühne als scheinheilig aufzufassen sein. Toleranz gilt offenbar nur für bestimmte Menschen, für jene, die so sind und denken wie man selbst.
Der kleine große Song Contest, banal und symbolträchtig zugleich, zeigt, wo wir stehen, 2024 in Europa. Die gesellschaftlichen Gräben tief, die vielgepriesenen europäischen Werte ausgehöhlt. Aber, die (Zer-)Störer müssen nicht das letzte Wort behalten. Israels Kandidatin machte trotz aller Anfeindungen den guten fünften Platz, weil so viele Zuschauer für sie stimmten. Es gibt sie noch, die Besonnenen, die Gebildeten und Vernünftigen, die kopfschüttelnd vor einer Welt stehen, die sie nicht mehr verstehen. Sie müssten halt irgendwann aufhören, nur mit dem Kopf zu schütteln, und etwas tun.
Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: gasteiger.anna