Zwei Ärzte sezieren
das Gesundheitssystem

Der eine ist Abteilungsvorstand im Spital, der andere einer der letzten klassischen Landärzte. Doch was sie eint, ist derselbe Akutpatient: das Gesundheitssystem. Vernichtende Diagnose: "Wer gesund in eine Ambulanz geht, kommt krank wieder raus "

von Gesundheit - Zwei Ärzte sezieren
das Gesundheitssystem © Bild: News/Deak

In Tagen wie diesen wirkt er fast schon ein wenig aufgekratzt - dabei bewirkt sein Job eigentlich genau das Gegenteil: Rudolf Likar, Professor Rudolf Likar, ist einer der angesehensten Anästhesisten Österreichs und Chef der Abteilungen für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Klagenfurt und am Landeskrankenhaus Wolfsberg.

Doch seit einigen Tagen fungiert Likar im kleinen Land mit dem aufgeblähten Gesundheitssystem auch als eine Art politischer Aufwecker oder, im Speak unserer Zeit formuliert, als "Wut-Arzt". Ein Buch hat er geschrieben, gemeinsam mit drei renommierten Kollegen; "Im kranken Haus" heißt es beziehungsvoll und rechnet schonungslos mit dem heimischen Spitalswesen und dem eklatanten Mangel an niedergelassenen Medizinern ab.

"Gehen Sie nie in ein Krankenhaus, wenn es nicht wirklich notwendig ist. Wer es gesund betritt, geht mit einer Diagnose wieder raus. Jeder bekommt eine Diagnose, jeder. () Das ist der Fehler im System", schreibt Likar. "Morbus Irgendwas" nennt er das. Und das ist für einen Mann, der seit gut drei Jahrzehnten in maßgeblichen Positionen in Krankenhäusern mitentscheidet, durchaus bemerkenswert.

© News Rudolf Likar ist Chef-Anästhesist am Klinikum Klagenfurt

Und noch bemerkenswerter ist, dass annähernd zur selben Zeit ein weiterer systemkritischer Mediziner, der langjährige Landarzt Günther Loewit, ebenfalls in Buchform mit einem Gesundheitswesen "ohne Herz, Hirn und Hausverstand" ins Gericht geht. "Ich habe das Gefühl, dass die Hausärzte vielleicht unbewusst, aber doch gezielt ausgehungert worden sind", sagt Loewit nun im großen News-Interview (ab Seite 22)."Es ist ein perfides Spiel, das viel mit Geld und Macht zu tun hat."

Die volle Dosis

Landarzt Loewit, Spitalsarzt Likar, zwei Männer in Weiß haben genug von der homöopathischen Sanftheit, mit der das Krankensystem hierzulande administriert wird -und (ver-)schreiben die volle Dosis!

Die alarmistische Vehemenz ihres Vortrags ist neu und ungewohnt. Die Grundthese der beiden Querdenker ist es allerdings nicht: Österreich, das bedeute viel zu viel hochgerüstetes Spitalsbrimborium, verbunden mit viel zu vielen völlig sinnlosen Diagnosen -und auf der anderen Seite viel zu wenige niedergelassene Praxen, wo noch medizinisches Augenmaß und Hausverstand walte. "Das Gleichgewicht zwischen Allgemein- und Fachärzten ist gekippt, mittlerweile gibt es mehr Spezialisten als Generalisten", diagnostiziert Likar. Und tatsächlich: Innerhalb der letzten 60 Jahre hat sich die Anzahl der Fachärzte zwischen Boden und Neusiedlersee annähernd versiebenfacht, die Anzahl der Allgemeinärzte hingegen gerade einmal verdoppelt.

Blaulicht und Sirenen an! Immer mehr Praktiker mutieren von Kassenärzten, die mit den Sozialversicherungen und deren bescheidenen Tarifen abrechnen müssen, zu Wahlärzten, die direkt beim Patienten abkassieren. Und zwar so richtig! "Bei mir kostet eine Ordination mit Gespräch und gründlicher Untersuchung 40 bis 60 Euro", rechnet Loewit vor. Aber: "Davon bekommt der Patient von der Kasse gerade einmal sechs Euro zurück." Der reine Kassenarzt kann für dieselbe Leistung - wenn er sie angesichts von bis zu 100 Patienten pro Tag denn aus Zeitgründen überhaupt in ähnlichem Umfang erbringen kann -gerade einmal acht bis neun Euro an die Sozialversicherungen verrechnen. Und verschreibt daher im Akkord Medikamente, anstatt bedächtig zu therapieren. Pillen, Pulverchen und Zaubersäfte im Wert von gut fünf Milliarden Euro werden jährlich in Österreich verschrieben, etwas weniger als die Hälfte landet aber unangerührt im Müll.

Finanziell unterversorgt

"Es gibt die ständige Forderung nach mehr Zeit für den Patienten, gleichzeitig müssen aber genügend Krankenscheine gesammelt werden, um wirtschaftlich zu überleben", sagt Likar. Laut Finanzministerium verdient ein Allgemeinmediziner mit eigener Praxis im Durchschnitt gerade einmal 3.500 Euro im Monat. Zum Vergleich: In Deutschland kommt ein Hausarzt auf durchschnittlich 166.000 Euro brutto im Jahr, also auf knapp 14.000 Euro brutto im Monat -und somit auf weit mehr als etwa die angestellten Fachärzte.

Aber zurück nach Österreich, wo sich so richtig fettes Geld nur in einer Kombination aus Spitalsjob und Privatpraxis verdienen lässt. Oder eben als gut beleumundeter Wahlarzt. Aber niedergelassener Kassenarzt? Das ist mittlerweile eine ausgehungerte Berufsgattung, der quotenstarke TV-"Bergdoktor" scheint so ziemlich der Letzte, der das Ideal des therapierenden Wanderhumanisten noch hochhält -doch der wird, das darf man nicht vergessen, gleich von zwei öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten durchgefüttert, nicht von der knausrigen Krankenkasse. Die Realität jenseits des Bildschirms: In manchen Landregionen etwa müssen sich mangels verfügbarer Mediziner an die 50.000 Frauen -mehr als ins ausverkaufte Praterstadion passen würden -ein und denselben Kassengynäkologen teilen.

Doch auch die Stadt siecht dahin. Besonders drastisch lässt sich der Ärzteausfall am Beispiel von Wien verdeutlichen: Im Jahr 2010 standen noch 1.745 Kassenärzte aller Fachrichtungen zur Verfügung, mittlerweile sind es bereits um knapp ein Zehntel weniger. Wobei die Bevölkerung im selben Zeitraum um etwa 200.000 Menschen -also fast um die komplette Einwohnerschaft von Linz - angewachsen ist.

»Jeder, der etwas zu ändern versucht, wird vom System zerrieben«

Fatale Folge: In den Spitalsambulanzen herrscht permanenter Belagerungszustand, eigens abgestellte Securitys müssen immer wieder dafür sorgen, dass die angespannte Stimmung zwischen überlastetem Personal und endlos wartenden Patienten nicht völlig kippt. "Die Patienten werden aus dem niedergelassenen Bereich in die Krankenhäuser gedrängt", erkannte der Wiener AKH-Primar Peter Husslein bereits vor knapp zwei Jahren. Diese seien dann hoffnungslos überfüllt und könnten sich nicht mehr um jene Patienten kümmern, für die sie eigentlich zuständig seien. Was sich innerhalb der letzten zwei Jahre geändert habe? "Nichts, gar nichts", beschwört Wut-Arzt Likar. Sein pathologischer Befund: "Jeder, der etwas zu ändern versucht, wird vom System zerrieben."

Aber was heißt hier "das System"? Die Systeme! Das Problem ist nicht, dass die Gesundheit im Staate Österreich unheilbar krankgespart wird, ganz im Gegenteil, kaum sonst wo wird fürs Heil der Bevölkerung mehr aufgewendet als bei uns: nämlich knapp 32 Milliarden Euro pro Jahr!

Allein, die Gelder fließen nach alter bürokratischer Tradition je zur Hälfte in zwei Parallelkreisläufe ohne jegliche Berührungen und Synergien: Die niedergelassenen Ärzte werden über die fünf verbliebenen Krankenkassen, also über unsere Beiträge, finanziert -die Spitäler hingegen über die Länder, also über unsere Steuern. Chronisches Krankheitsbild auf beiden Seiten: Konkurrenzneid statt Kooperationswillen.

Und zwischen den Fronten?"Ein machtloser Gesundheitsminister, praktisch ohne jegliches Budget", hält etwa Andrea Kdolsky ernüchtert fest -immerhin hatte sie diesen Job von Jänner 2007 weg selbst zwei Jahre inne und weiß daher, wovon sie spricht. Und auch Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer, ein langjähriger Intimkenner der österreichischen Krankengeschichte, stellt klipp und klar fest: "Es bräuchte einen Minister, dem man die Kompetenz gibt, da hineinzuschlagen." Allein, ohne eine Verfassungsänderung könne dieser gordische Knoten nicht gelöst werden.

Die Tunnel-Diagnose

Und so strömen weiterhin täglich an die 50.000 Patientinnen und Patienten in österreichs Ambulanzen, das macht insgesamt mehr als 18 Millionen Frequenzen pro Jahr. "Zudem", sagt Anästhesist und Buchautor Rudolf Likar, "wird dort hoffnungslos überdiagnostiziert." Ein Heer von Spezialisten "mit Tunnelblick" übernehme die Behandlung, einzelne Schritte würden aufgrund "hierachischer Eitelkeiten" nur selten koordiniert, "sinnlose Therapien" stünden an der Tagesordnung, einfach weil keiner da sei, der sich vom Patienten ein unaufgeregtes Gesamtbild mache.

Letztlich, sagt Likar, würden in dieser überspannten Atmosphäre sogar oft und gerne Krankheiten erfunden: "Das ist Fakt." Disease Mongering, also Handel mit Krankheiten, nenne sich diese Unsitte und werde von der Pharmaindustrie mit allen Mitteln forciert. "Das geht so weit, dass Studien in Richtungen gedeutet werden, um Krankheiten zu erfinden", behauptet Likar.

»Sogenannte Leitlinien werden als heilige Gebote angesehen«

"Was da passiert, ist eine spezielle Form der Pathologisierung, in der man seltene Symptome wie etwa Erektionsstörungen als grassierende Krankheit darstellt oder Risiken wie geringe Knochendichte als Krankheiten wie Osteoporose verkauft." Warum? Weil es an Zeit für differenzierte Diagnosen fehle und sich die Ärzte mittels Verschreibung absichern. "Sogenannte Leitlinien, die eigentlich nur Wegweiser bei Diagnostik und Behandlung sein sollten, werden als heilige Gebote angesehen."

Doch auch die Politik hält sich an heilige Gebote: Wer viel Öffentlichkeit hat, hat recht, und wer recht hat, ist pfleglich zu therapieren; und da Spitalsarzt Likar und Landarzt Loewit als Buchautoren derzeit ziemlich viel Öffentlichkeit haben, Serieninterviews geben und im Fernsehen auftretem, kommt auch der Gesundheitsminister nicht an ihnen vorbei: Für diesen Freitag sind sie bei Rudi Anschober eingeladen. Einen Kaffee oder Tee wird er ihnen spendieren, um ihre Meinung zu hören und sie erst einmal ein bissel zu sedieren. Alles andere würde seinen Budgetrahmen sprengen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 6/2020) erschienen!