Kriminalsoziologin: "Haft bestärkt das
Gefühl der Ausgrenzung"

Der Terroranschlag in Wien ist auch stark mit der Fassungslosigkeit verknüpft, wie eine einzelne Person zu so einer Bluttat überhaupt hingerissen werden kann. Kriminalsoziologin Veronika Hofinger erklärt im Interview, wie es zur Radikalisierung des Wiener Attentäters gekommen sein könnte und dass Haft als Heilmittel gegen Radikalisierung nicht funktioniert.

von Radikalisierung - Kriminalsoziologin: "Haft bestärkt das
Gefühl der Ausgrenzung" © Bild: News Deak Marcus E. Auftrag
© Veronika Hofinger
Veronika Hofinger ist 1972 geboren. Studium der Soziologie plus Fächerkombination (u.a. Straf- und Strafprozessrecht) an der Universität Wien. Visiting PhD Student an der University of London im Jahr 2007. Seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS), seit 2015 Mitglied des Leitungsteams (wissenschaftliche Geschäftsführung).

Hat Sie der Anschlag überrascht oder haben Sie damit gerechnet, dass so etwas einmal auch in Österreich passieren wird?
Ich hatte gehofft, dass es in Österreich keinen Anschlag geben werde, aber überrascht hat es mich nicht. Es gibt in Österreich viele „foreign fighters“ und dass da einmal einer auch hier in Österreich zur Tat schreitet, davon musste man ausgehen.

Die internationale Aufmerksamkeit ist natürlich auch größer, wenn das erste Mal etwas in Wien passiert, als wenn es zum wiederholten Male woanders geschehen wäre. Diese Logik dieser gesteigerten Aufmerksamkeit ist leider aufgegangen.

Können Sie grob skizzieren, wie die Radikalisierung des Wiener Attentäters verlaufen sein könnte?
Wir haben im Jahr 2017 eine Studie veröffentlicht, wo wir uns solche Fälle wie die des Attentäters angesehen haben, nur ist von den untersuchten Personen niemand zum Attentat geschritten. Wir sind genau dieser Frage nachgegangen, wie es das geben kann, dass Jugendliche, die in Österreich aufgewachsen sind, zu IS-Sympathisanten werden.

Vieles, was ich bis jetzt über den Täter erfahren habe, erinnert mich an Fälle aus unserer Studie. Wir haben damals untersucht, wo die Radikalisierung passiert, welche Rolle das Internet, Moscheen und persönliche Kontakte spielen. Bei ihm dürfte es diese ziemlich klassische Mischung gewesen sein aus einer sehr radikalen Moschee und dem Konsum von Online-Medien, in einer radikalen Peergroup.

Was könnte der finale Auslöser gewesen sein?
Was es letztlich ausmacht, warum der eine sich zumindest soweit abwendet, dass er nicht zur Tat schreitet, der andere aber schon, das ist sehr schwer zu sagen. Da gibt es auch in der internationalen Forschung keine Antwort darauf.

Viele „foreign fighters“, die früh ausgereist sind, als der Islamische Staat noch im Aufbau war, haben nie einen Anschlag in Österreich in Betracht gezogen. Gerade junge Tschetschenen und Tschetscheninnen, die als Flüchtlinge hier waren, hatten gar keinen Hass auf den österreichischen Staat, sondern auf Russland und Assad. Jetzt gibt es eben nicht mehr die Möglichkeit auszureisen, vor ein paar Jahren wäre der Wiener Attentäter vermutlich noch in Syrien verschwunden.

»Die große Radikalisierungswelle ist grundsätzlich vorbei«

Wie leicht ist es, in Österreich radikalisiert zu werden?
Viele dieser ganz radikalen Moscheen mit schlechtem Einfluss auf Jugendliche gibt es nicht mehr oder die Prediger wurden verhaftet. Es hat sich mittlerweile mehr ins Netz verlagert. Diese Moscheen waren früher die großen Drehscheiben, über die die Jugendlichen nach Syrien ausgewandert sind.

Die große Radikalisierungswelle ab 2014 mit der Ausrufung des Kalifats, den Reisen nach Syrien und der Attraktivität des IS, ist grundsätzlich vorbei. Das hat nicht mehr so eine Breitenwirkung. Es gibt aber trotzdem noch die Propaganda, vor allem im Internet, und der Islamische Staat mag territorial in Syrien und im Irak besiegt sein, aber sonst eben noch nicht.

Der IS hat für viele Sympathisanten auch seine Attraktivität verloren, als das brutale Vorgehen immer mehr bekannt geworden ist. Aber auch für jene, die den brutalen Aufstieg des IS bewundert haben, hat der IS durch seine Niederlage an Strahlkraft verloren. Die Versprechen sind nicht eingelöst worden.

Zuletzt scheint es aber wieder einen Aufschwung für den IS zu geben. Rüdiger Lohlker von der Universität Wien und Julia Ebner vom ISD verweisen darauf, dass es zuletzt wieder verstärkte Propaganda-Aktivitäten im Internet gibt.

Prekäre familiäre Verhältnisse und Migrationshintergrund werden oftmals fälschlicherweise mit Radikalisierung in Verbindung gebracht...
Die große Mehrheit der Menschen mit Migrationshintergrund und Marginalisierungserfahrungen wird nicht radikal, geschweige denn zum Attentäter. Und es werden auch Menschen zu Extremisten, die keinen Migrationshintergrund haben, denken Sie an rechtsextreme Attentäter. Das ist also keine Grundvoraussetzung. Die Gleichung, Migrationshintergrund mit Radikalisierungsgefährdung gleichzusetzen ist, ist gefährlich, weil sie stigmatisiert.

Bei den Jugendlichen, die wir untersucht haben, waren viele aus Tschetschenien, da gab es frühkindliche Traumatisierungen durch den Tschetschenien-Krieg. Was sicher oft eine Rolle spielt, sind schwierige Familienverhältnisse und Schwierigkeiten, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Das war zumindest in den von uns untersuchten Fällen ganz klar zu erkennen.

»Solche Vorfälle dürfen nicht populistisch ausgenutzt werden«

Was müssten wir als liberale demokratische Gesellschaft tun, um die Falle der Spaltung zu entschärfen?
Solche Vorfälle dürfen in erster Linie nicht populistisch ausgenutzt werden. Zugleich muss man das Attentat zum Anlass nehmen, um eine schonungslose Fehleranalyse zu machen.

Eine Einschränkung der bedingten Entlassung halte ich nicht für nötig bzw. sogar für kontraproduktiv. Es hat ja gute Gründe, warum man radikalisierte Jugendliche vorzeitig entlässt: weil man verpflichtende Bewährungshilfe anordnen und sie zur Deradikalisierungs-Beratung schicken kann. Verschärfende Maßnahmen oder die Einführung einer Sicherungshaft würde ich nicht für gut befinden.

Die Behörden müssen sicherlich noch Fehleranalyse betreiben, wie es aussieht, hätte man den Hinweis aus der Slowakei, dass der Attentäter versucht hat Patronen zu kaufen, viel ernster nehmen müssen. In nächster Zeit wird aber sicher diskutiert werden, wie man mit Haftentlassenen umgeht, weil der Verfassungsschutz diese Personen eben nicht automatisch überwacht.

Lässt sich Ihrer Ansicht nach ein Systemfehler ausmachen?
Was wir schon 2017 gefordert haben: Es wäre wichtig, die verschiedenen Informationen über einen Fall besser abzugleichen. Wenn es einen Bericht von Deradikalisierungsexperten gibt, wenn es Informationen beim Verfassungsschutz und bei der Bewährungshilfe gibt, sollte man sich in Fallkonferenzen austauschen. Es ist wichtig, dass mehrere auf einen Fall drauf schauen.

Tendenziell schwierig ist das Verhältnis zwischen Strafvollzug und Verfassungsschutz, das ist in unserer Studie sehr deutlich geworden. Es hat sich gezeigt, dass die Kommunikation zwischen Strafvollzug und Verfassungsschutz vor allem aus Sicht des Strafvollzugs eher einseitig ist. Der Strafvollzug erfährt oft sehr wenig und hat das Gefühl, nur Informationen herzugeben.

»Haft bestärkt das Gefühl der Ausgrenzung«

Viele Experten und Expertinnen haben sich in den letzten Tagen zu Wort gemeldet und verweisen auf Gefängnisse als Beschleuniger zur Radikalisierung. Wo müsste man Ihren Erfahrungen zufolge nachbessern?
Die Haft als Heilmittel oder als gesunder Schock, durch den die Insassen dann schon draufkommen, dass ihre Ideologie falsch ist, funktioniert nicht. Die Haft bestärkt vielmehr das Gefühl der Ausgrenzung, Haft ist ja die Exklusionserfahrung überhaupt.

Es gab in unserer Studie Fälle, in denen die Kontakte zu anderen Insassen, zur Psychologin oder zum sozialen Dienst eine positive Wirkung gehabt haben. Dass es vergleichsweise streng geahndet worden ist, wenn man nach Syrien gehen wollte, hatte sicherlich auch einen gewissen abschreckenden Effekt, den man aber auch nicht überschätzen darf. Nur durch Haft hört man nicht auf ideologisch zu sein, das kann sich - im Gegenteil - auch verstärken. Teils durch Selbstradikalisierung, teils durch andere Insassen.

Erwartet man sich zu viel vom Strafvollzug?
Die Erwartung als „Gesinnungswandelmaschine“ ist sehr hoch, kann aber nicht erfüllt werden. Die Vorstellung, dass der Wiener Attentäter schon noch draufgekommen wäre, dass er der falschen Ideologie gefolgt ist, wenn ein paar Monate länger im Gefängnis gesessen wäre, ist ein Irrtum.

So lange jemand keine schweren Straftaten begeht, kann man ihn ja auch nicht jahrzehntelang oder gar lebenslang wegsperren. Das sollte auch wegen eines Terroranschlags nicht geändert werden.

Glauben Sie, dass die Politik aus diesem Vorfall lernen und entsprechende Maßnahmen ergreifen wird?
Man wird sich diesen Fall sicherlich sehr genau anschauen, weil er eben auch der erste ist, wo all das eingetreten ist, was man verhindern will. Da muss es für die Behörden sicherlich einen Lerneffekt geben.

Gut gelungen ist in den ersten Statements der Politik, die Bevölkerung nicht zu spalten und klarzumachen, dass die Trennlinie nicht zwischen Österreichern und Muslimen verläuft. Die erste, der ich nach dem Terroranschlag Mut zugesprochen habe, war übrigens meine Nachbarin aus Nordmazedonien, die zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht wusste, woher der Attentäter stammt. Es betrifft uns alle, völlig egal, woher wir kommen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. News.at macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.