Kusej als Menschenfeind und ein langer Rückblick

Mit einer ansehbaren, deutlich beleidigten Molière-Produktion leitete der amtierende Burgtheaterdirektor seinen Abschied ein. Das eine oder andere Adieu davor hat man indes um nichts weniger bedauert

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Die Aufführung ist gar nicht so schlecht und die Zeit, da dies das vernichtendste aller Urteile war - weil ja das Mittelmaß verheerender ist als beherztes Scheitern -, ist lang vorbei. Mittlerweile nämlich atme ich auf, wenn eine Produktion des Burgtheaters nicht derart schlecht ist wie zuletzt "Phädra, in Flammen", "Petra von Kant", "Nebenwirkungen" und "Kaspar"(alle bar jeder Beherztheit). Martin Kusejs vorletzte Inszenierung im Amt dagegen, Molières "Menschenfeind", ist gar nicht so schlecht. Das liegt in erster Linie am Star des Unternehmens, Hans Magnus Enzensbergers atemberaubender Alexandriner-Übersetzung, die eine Art authentischer Modernität förmlich erzwingt.

Das Stück ist nachvollziehbar erzählt, sodass man ein Kind 0der einen Ungeübten nicht gleich nach Hause an die Konsole stampert. Und die Kusej-Eskapaden halten sich in Grenzen, sogar die funktionslosen Statisten sind nur ein bisschen nackt.

Die Wahl des Stücks nehme ich angemessen betreten zur Kenntnis: Der unfreiwillige Emeritus in spe ist böse. Auf das Publikum, das nicht recht strömen will, auf die Politik, die ihn aus dem Amt befördert hat und dabei keine Einsprüche der Kritik befürchten musste, und auch auf das eigene Haus, wo sich keine Hand für den direktoralen Verbleib rührte. Das gibt die Inszenierung in ihren weniger atemberaubenden Passagen ungelenk zu verstehen. Wobei man die beleidigten Extempores gelassener zur Kenntnis nimmt als den halben Ausfall des Protagonisten: Itay Tiran konnte sinnlos Verärgerte wie Joachim Meyerhoff nie substituieren. Maertens kann nicht alles spielen, und Ofczarek, der sich mit Kusejs Amtsantritt unsichtbar gemacht hatte, probt gerade "Danton". Ja, Teichtmeister wäre es gewesen. Ihn ans Haus geholt zu haben, das war eine mehr als nachvollziehbare Entscheidung. Im Gegensatz zur anderen, ihn im Angesicht der sich aufbauenden Katastrophe beharrlich an die Rampe zu stellen. Dass Kusej seine andere markante Personalie, Felix Kammerer, mit Hollywood teilen muss, ist erfreuliche höhere Gewalt. Aber dass sich großartige Schauspieler wie Bibiana Beglau und Franz Pätzold nicht im Bewusstsein des Publikums etablieren konnten: Dafür ist die Corona-Pandemie nur zum geringen Teil verantwortlich.

Im Gegenteil: Kusej hatte mehr als eine halbe Spielzeit, um sich Wahrnehmbarkeit zu verschaffen. Staatsoperndirektor Bogdan Roscic hingegen musste das Amt ein Jahr später mitten im Todesschweigen antreten, hat über ORF-Koproduktionen ein riesiges Publikum erreicht und ein fabelhaftes junges Ensemble aufgebaut. Kusej schrieb derweil in Kärntner Eigenheimquarantäne seine Memoiren.

Da nun schon ein Nachruf acht Monate prae exitu draus geworden ist: Die vorerst letzte Kusej'sche Hauspremiere, Tennessee Williams' "Orpheus steigt herab", ist für 21. März veranschlagt. Dann erfahren wir es noch deutlicher (und wenn es gelingt, werde ich am lautesten jubeln): Das reaktionäre, rassistische Südstaatenkaff hat den schönen, wilden, betörend singenden Heldenjüngling, der sich da temporär herablässt, schlicht nicht verdient.

Zum Anlass habe ich mich nun in die mir erinnerlichen Burgtheaterdirektionen versenkt. Die Ära Paul Hoffmann (1968-1971) gilt nicht, die reicht teils noch ins Theater der Jugend zurück. Von dem noblen Kammerschauspieler ist mir wesentlich sein Schmierendirektor Striese im "Raub der Sabinerinnen" erinnerlich, der die Würde des Theaters mit stoischer Größe gegen das Gelächter der ganzen Welt einforderte wie sein unmittelbarer Nachfahre, Bernhards Theatermacher. Wohingegen sich am heutigen Akademietheater Birgit Minichmayr durch eine hysterische Burleske hampeln muss.

Mit Gerhard Klingenberg (1971-1976) setzt die Erinnerung ein. Wie man dem Unrecht getan hat! Strehler, Peymann, Barrault, Ronconi haben das Haus unter seiner Direktion erstmals betreten und mit Glanz in die Neuzeit geführt. Dann die Wunderjahre Achim Bennings (1976-86) mit dem vergleichslosen Ensemble um Michael Heltau, Gertraud Jesserer, Erika Pluhar, Fritz Muliar, Karlheinz Hackl, Franz Morak. Das Haus öffnete sich weit nach Europa, Tschechow und Schnitzler wurden nie mehr in solchem Originalklang gehört, man lernte Canetti als Dramatiker kennen und feierte Vaclav Havel, der in Prag drangsaliert wurde. Peymann (1986-1999) zu loben, mit den Zweijahrhunderteschauspielern Gert Voss, Ignaz Kirchner und Kirsten Dene, mit dem Aufblühen der österreichischen Gegenwartsdramatik? Überflüssig, das tut er schon selbst, und mit Recht! Klaus Bachler holte Dimiter Gotscheff, René Pollesch und die vergleichslose Andrea Breth. Matthias Hartmann, heute vom Finanzskandal umfassend rehabilitiert: eine tolle, publikumssichere, auch qualitativ erstklassige Zeit. Dann Karin Bergmann, unter der das Haus nochmals hell aufleuchtete.

Und jetzt Kusej.

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