Ich war Dschihadist

Mit 14 Jahren landete Achmed in der Justizanstalt Wien-Josefstadt und lernte dort, die westliche Welt zu hassen. Heute will er mit seiner Geschichte junge Menschen vor der dschihadistischen Szene warnen.

von Ein ehemaliger Dschihadist packt aus. © Bild: Matt Observe/News

An einem Wintermorgen im Jahr 2016 erhielt ich eine Videobotschaft. Ich öffnete die Nachricht und erkannte meine Freunde, zwei Brüder aus Wien. Der einer war damals 17, der andere 19 Jahre. Auf dem Film trugen sie Uniformen mit dem Logo des sogenannten Islamischen Staates (IS) auf der Brust und jeder von ihnen hatte eine Kalaschnikow in der Hand. Heute fällt es mir schwer, den Begriff Islamischer Staat zu verwenden, weil das, was sie getan haben, nichts mit dem Islam zu tun hat. Aber damals war ich ein Zweifler. Meine Freunde berichteten mir, dass sie in Syrien beim IS angekommen seien. Monatelang hatten wir vorher über ihre Pläne diskutiert, und ich hatte versucht, sie davon abzuhalten, aber irgendwann hörte ich nichts mehr von ihnen. Bis zu dieser Videobotschaft. Von diesem Zeitpunkt an war ich durchgehend mit meinen Freunden in Kontakt, sie schickten Sprachnachrichten und Videos. Bereits am zweiten Tag nach ihrer Ankunft wurden meine Freunde gefragt, ob sie Kriegserfahrung hätten oder ob sie mit einer Waffe umgehen könnten, beide verneinten. Für die IS-Kommandostruktur hätten sie daher keinen Nutzen gehabt. Sie seinen nur eine Last gewesen, aber nach Hause schicken hätte man die beiden nicht mehr können, weil sie dafür zu viel gesehen hätten. Sie seien vor die Wahl gestellt worden: Entweder sie würden direkt vor Ort getötet oder sie sollten mit einem Lastwagen zu einem Lager einer konkurrierenden Gruppe von Aufständischen fahren und sich dort in die Luft sprengen. Wir berieten uns lange. Schließlich trafen sie die Entscheidung, in die Wüste zu fahren, dorthin, wo kein Mensch lebt, um sich das Leben zu nehmen. Im letzten Video, das ich von ihnen erhielt, verabschiedeten sie sich und baten mich, die Menschen davon abzuhalten, sich dem IS anzuschließen.

Diese Geschichte lässt sich nicht überprüfen. Es existieren keine Videos und Nachrichten mehr. Aus Angst vor den Sicherheitsbehörden wurde alles gelöscht. Die Mutter der Burschen sei später an Krebs gestorben, der Vater lebe als Obdachloser auf der Straße. Achmed ist heute 24 Jahre alt, hat breite Schultern und einen Vollbart. Er sei der einzige noch lebende Zeuge und deshalb erzählt er diese Geschichte in Schulklassen und bei Workshops. Er will nicht, dass seine Freunde umsonst gestorben sind. Er will mit ihrem Tod die neue Generation warnen.

An diesem Sommervormittag sitzt Achmed in einem Besprechungsraum der Beratungsstelle Extremismus im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Es ist der Ort, wo seit Tagen durchgehend das Telefon läutet, weil Journalistinnen und Journalisten Fragen haben, nachdem am 17. Juni drei junge Männer festgenommen worden waren. Der Leiter der Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN), Omar Haijawi- Pirchner, hatte am Tag nach der Wiener Regenbogenparade die Ermittlungen wegen terroristischer Vereinigung und die Festnahmen von drei Verdächtigen im Alter von 14,17 und 21 Jahren auf einer Pressekonferenz kommuniziert -inzwischen sind alle drei Beschuldigten wieder frei.

Trotzdem wollten viele Reporter wissen, ob die Terrororganisation des IS zurück ist? Ob die Täter jünger werden? Ob es stimme, dass sie sich auf der Onlineplattform TikTok radikalisieren? All diese Fragen beantwortet hier meistens Fabian Reicher. Der Jugendsozialarbeiter ist Experte auf dem Gebiet der Ausstiegs-und Distanzierungsarbeit. Gemeinsam mit der ehemaligen News-Reporterin Anja Melzer veröffentliche er im vergangenen Jahr das Buch "Die Wütenden. Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen".

Das Buch

Der Sozialarbeiter Fabian Reicher und die ehemalige News-Reporterin Anja Melzer geben Einblicke in die Wirkungsweise der Propaganda des sogenannten Islamischen Staats. Ihr Buch "Die Wütenden: Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen" können Sie hier erwerben.*

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Die Einstiegsdroge Diskriminierung

Der Sozialarbeiter Fabian Reicher und der Aussteiger Achmed kennen sich seit dem Jahr 2013. Es ist der Zeitpunkt, als Achmed begann, sich zu radikalisieren.

Es fing an, als ich die Schule wechseln musste. Dort war ich der einzige Kanake, alle anderen Migrantenkinder waren assimiliert. Ich war strenger in vielen Ansichten. Meine Familie ist muslimisch. Beten und fasten ist ganz normal bei uns. Damals war ich ein guter Schüler, aber die Lehrer fragten mich nur, wo meine Schummelzettel sind. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ich als Tschetschene diese Leistungen aus eigener Kraft erbringe. Ich wurde von ihnen beschimpft und gedemütigt. Darauf hatte ich irgendwann keine Lust mehr und fing an, die Schule zu schwänzen.

Die verdächtigen Männer, die laut der DSN einen Anschlag auf die Regenbogenparade geplant haben sollen, hätten sich im Internet kennengelernt. Laut dem Terrorismusexperten Nicolas Stockhammer sei das nicht ungewöhnlich, sagte er dem ORF. Seinen Erkenntnissen nach finden 80 Prozent der islamistischen Radikalisierungen über soziale Medien wie TikTok statt. Fabian Reicher widerspricht diesen Ansichten. "Die Einstiegsdroge in die Radikalisierung ist nicht das Internet, sondern das sind vor allem Diskriminierungserfahrungen, zum Beispiel in der Schule." Es käme vor, dass die Jugendlichen im Internet recherchieren, warum ihnen Diskriminierungen widerfährt. Dort könnten sie auf Antworten stoßen, wie etwa, der Staat hasse Muslime und der Westen führe Krieg gegen den Islam.

Es gab damals so Hotspots, wo sich Leute getroffen haben, um gemeinsam die Schule zu schwänzen. Wenn du Merkmale hattest wie Tschetschene und Kampfsport, dann hast du schnell Anschluss gefunden. Wir hingen zusammen im Park ab. Die Polizei hat uns dort immer wieder kontrolliert. Die kamen morgens, mittags, abends. Immer dieselben Polizisten, immer der gleiche Ort im Park. Die kannten mich schon, aber die wollten immer wieder meinen Ausweis checken. Der Rassismus, vor dem ich aus der Schule geflüchtet bin, war auf der Straße zehnmal stärker. Die Polizisten haben mich gefragt, warum ich keine Vorstrafen habe, ich sei schließlich Tschetschene und müsse kriminell sein.

Am 20. Juni, drei Tage nachdem die verdächtigen Anschlagsplaner festgenommen worden waren, veröffentlichte das Bundeskanzleramt gemeinsam mit dem Innenministerium eine Studie, wonach das Radikalisierungspotenzial in der tschetschenischen Community als besonders hoch eingeschätzt wurde. Daraufhin titelten die Boulevardmedien: "Warnung vor radikalen Tschetschenen". Fabian Reicher hält dieses Vorgehen und die daraus entstandene mediale Debatte für fahrlässig. "Das macht es für die Jugendlichen, mit denen ich arbeite, erst spannend." Denn das, was die dschihadistische Szene für Jugendliche vor allem anziehend mache, sei die negative Identität. Wenn Jugendliche mitbekämen, dass Verdächtige mit mutmaßlichen Plänen für einen Anschlag auf die Pride die Schlagzeilen beherrschen, dann würden LGBTQ-feindliche Positionen nochmals attraktiver für sie werden. "Ich habe selten so viele homophobe Videos auf meiner TikTok-Startseite gehabt, wie in den letzten Wochen", sagt Reicher. Es gehe darum, negative Aufmerksamkeit zu erhalten und zu provozieren.

Egal, wie sehr ich mich um ein anderes Image bemüht habe, ich war für alle immer der kriminelle Tschetschene. Also habe ich daraus ein Business gemacht. Ich fing an, zu klauen. Nichts Wildes, Parfums in der Drogerie und so ein Zeug. Aber im April 2014 bin ich in einen Raubüberfall hineingeraten. Ich war mit meinem Bruder unterwegs und hab von Weitem meine Freunde aus dem Park gesehen. Also bin ich hin. Die Jungs standen vor einer Touristengruppe und erklärten mir, dass sie die Leute gerade ausrauben. Ich wollte damit nichts zu tun haben und bin schnell zu meinem Bruder zurück. Kurz darauf, ich war noch in unmittelbarer Nähe, packten mich sechs Beamte und nahmen mich fest. Ich sagte zu meinem Bruder, dass ich in zwei Stunden wieder zu Hause sein würde, aber daraus wurden sieben Monate und 16 Tage Untersuchungshaft. Ich landete als 14-Jähriger in der Justizanstalt Josefstadt im Trakt für junge Erwachsene. Dort kam ich mit allen gut klar außer mit den Beamten. Die drohten mir, mich verschwinden zu lassen, wenn ich mich nicht fügen sollte. Ich bin mehrmals mit ihnen aneinandergeraten und sie steckten mich immer in andere Zellen, in der Hoffnung, dass die Insassen mich züchtigen würden. Aber ihr Plan ist nicht aufgegangen. Im Gegenteil, von den Somaliern lernte ich kochen und den polnischen Skinheads erzählte ich von meinem Vater, der in Polen gekämpft hatte. Zum Schluss steckten sie mich zu den Dschihadisten. Das waren Tschetschenen, Türken, Kurden und noch Leute vom Balkan. Dort musste ich nicht mehr die Zelle putzen. Ich sollte mich entspannen. Wenn ich Probleme hatte, haben sie mir zugehört. Sie haben mich Schritt für Schritt begeistert und mein Vertrauen gewonnen, indem sie meine Erfahrungen in ihre Geschichte einbetteten. Es sei vollkommen klar, warum ich mit 14 Jahren unschuldig im Gefängnis sitzen würde, denn der Westen hasse Muslime und unterdrücke sie auf der ganzen Welt. Deshalb befänden wir uns mit dem Westen im Krieg. Es sei meine Pflicht, nach Syrien zu fahren und mich dem Kampf des IS anzuschließen. Nur dann könne es Gerechtigkeit für die muslimische Gemeinschaft geben.


Achmeds Erfahrungen liegen zehn Jahre zurück und lassen sich nur zum Teil nachprüfen, aber sie seien auch heute noch typisch für Radikalisierungsprozesse von Jugendlichen, weiß Fabian Reicher.

Egal, wie sehr ich mich um ein anderes Image bemüht habe, ich war für alle immer der kriminelle Tschetschene. Also habe ich daraus ein Business gemacht. Ich fing an, zu klauen. Nichts Wildes, Parfums in der Drogerie und so ein Zeug. Aber im April 2014 bin ich in einen Raubüberfall hineingeraten. Ich war mit meinem Bruder unterwegs und hab von Weitem meine Freunde aus dem Park gesehen. Also bin ich hin. Die Jungs standen vor einer Touristengruppe und erklärten mir, dass sie die Leute gerade ausrauben. Ich wollte damit nichts zu tun haben und bin schnell zu meinem Bruder zurück. Kurz darauf, ich war noch in unmittelbarer Nähe, packten mich sechs Beamte und nahmen mich fest. Ich sagte zu meinem Bruder, dass ich in zwei Stunden wieder zu Hause sein würde, aber daraus wurden sieben Monate und 16 Tage Untersuchungshaft. Ich landete als 14-Jähriger in der Justizanstalt Josefstadt im Trakt für junge Erwachsene. Dort kam ich mit allen gut klar außer mit den Beamten. Die drohten mir, mich verschwinden zu lassen, wenn ich mich nicht fügen sollte. Ich bin mehrmals mit ihnen aneinandergeraten und sie steckten mich immer in andere Zellen, in der Hoffnung, dass die Insassen mich züchtigen würden. Aber ihr Plan ist nicht aufgegangen. Im Gegenteil, von den Somaliern lernte ich kochen und den polnischen Skinheads erzählte ich von meinem Vater, der in Polen gekämpft hatte. Zum Schluss steckten sie mich zu den Dschihadisten. Das waren Tschetschenen, Türken, Kurden und noch Leute vom Balkan. Dort musste ich nicht mehr die Zelle putzen. Ich sollte mich entspannen. Wenn ich Probleme hatte, haben sie mir zugehört. Sie haben mich Schritt für Schritt begeistert und mein Vertrauen gewonnen, indem sie meine Erfahrungen in ihre Geschichte einbetteten. Es sei vollkommen klar, warum ich mit 14 Jahren unschuldig im Gefängnis sitzen würde, denn der Westen hasse Muslime und unterdrücke sie auf der ganzen Welt. Deshalb befänden wir uns mit dem Westen im Krieg. Es sei meine Pflicht, nach Syrien zu fahren und mich dem Kampf des IS anzuschließen. Nur dann könne es Gerechtigkeit für die muslimische Gemeinschaft geben.

Die Protestkultur der Jugendlichen

Für die heutige Generation sei vor allem der Neosalafismus attraktiv, sagt Reicher. Der Unterschied zum Dschihadismus sei dabei, dass ihre Anhänger nicht zur Gewalt aufgerufen würden. Es gehe vielmehr um eine Protestkultur gegen den Islam ihrer Eltern und gegen die westliche Gesellschaft. Auch in der tschetschenischen Community sei dieser Generationenkonflikt zentral. In den Augen der Jugendlichen sei ihr kulturell eingebetteter Islam schuld daran, dass die Generation der Eltern den Krieg und damit die Heimat verloren hätte und sie all die Diskriminierungserfahrungen machen würden.

Fabian Reicher, Sozialarbeiter
© Matt Observe/News DER BEGLEITER. Fabian Reicher ist Sozialarbeiter bei der Beratungsstelle Extremismus. Sein Job ist es, das Vertrauen der Jugendlichen zu gewinnen und sie auf ihrem Weg zu begleiten

Bevor ich aus der Haft entlassen wurde, gaben mir die Dschihadisten eine Adresse im zweiten Bezirk. Ich sollte mich dort melden. Die Location war ein Keller, eine Art Gebetsraum. Die Männer dort waren freundlich und haben nicht sofort über den IS gesprochen. Im Gegenteil, es entwickelte sich eine Stimmung wie bei den Pfadfindern. Wir sind zusammen grillen gegangen, haben Fußball gespielt oder waren schwimmen. Sie halfen mir bei den Hausübungen, gaben mir Geld, wenn ich welches brauchte. Ich empfand sie als Freunde. Irgendwann sprachen wir über den Islam. Am Anfang wurden Themen besprochen, die für alle einfach waren. Themen, zu denen alle Muslime die gleiche Meinung haben. So wie der Monotheismus, das Fasten oder die Pilgerfahrt. Als sie merkten, dass ich ihnen vertraute, sprachen sie vom globalen Dschihad.

Konvertierungen auf TikTok

Die Beratungsstelle Extremismus unterstützt viele Eltern, die befürchten, dass sich ihre Kinder für den Dschihad interessieren. Das seien nicht nur muslimische Familien, auch viele nichtreligiöse oder christliche Familien würden sich mit dem Thema an die Beratungsstelle wenden. Seit September 2022 würde die Einrichtung einen starken Anstieg bei problematisch erlebten Konvertierungen erleben. Die fänden zumeist im Park mit Freunden oder im TikTok-Livestream statt. "Die meisten Jugendlichen haben in den wenigsten Fällen Interesse an Religiosität oder Spiritualität. Was sie vor allem interessiert, ist Protest und Revolution", sagt Reicher.

Extrem, radikal, fanatisch, was tun?
Die Beratungsstelle Extremismus ist eine österreichweite Anlaufstelle.
Telefonnummer: 0800 202044
Montag-Freitag, 10:00-15:00 Uhr. Anonym und vertraulich!

Mein Glück war, dass ich eine gute Bindung zu meinen Eltern hatte. Immer wieder überprüfte ich das, was ich bei den Dschihadisten gehört hatte, bei meinem Vater. Er kennt sich gut im Islam aus. Aber die Leute im Gebetsraum stellten ihn als Kufr dar, als einen Ungläubigen. Ich wusste nicht, wem ich glauben sollte. Das war ein krasser Kampf in mir drin. Dann gingen die Ersten aus Österreich nach Syrien und zeigten, wie es funktionieren könnte. Sie schickten nach ihrer Ankunft beim IS Videobotschaften und zwangen ihre Eltern, ihnen zu verzeihen, weil sie sich sonst nicht im Paradies sehen würden. Das fand ich damals gut und genau so wollte ich es auch machen. Ich wollte gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Unterdrückung der Muslime kämpfen. Syrien war verlockend, weil wir jeden Tag sahen, wie dort Muslime litten, und weil Russland das Assad-Regime unterstützte. Der alte Aggressor, der meine Vorfahren getötet hatte, jetzt hätte ich sie rächen können.

Der 24-Jährige Achmed nutzt heute seine Erfahrungen aus der dschihadistischen Szene, um Jugendliche zu warnen
© Matt Observe/News DER AUFKLÄRER. Der 24-Jährige Achmed nutzt heute seine Erfahrungen aus der dschihadistischen Szene, um Jugendliche zu warnen

Heute habe die Strahlkraft des IS durch die militärischen Niederlagen in Syrien und dem Irak stark abgenommen. Seit März 2019 beherrscht der IS zwar keine Gebiete in Syrien mehr, Strukturen dieser Gruppe bestehen jedoch weiterhin. Laut der DSN gibt es aktuell keine Dschihad-Ausreisen aus Österreich nach Syrien.

Der IS ist als Mythos zurück

Fabian Reicher meint, dass der IS damals nicht nur militärisch besiegt wurde, sondern vor allem ideologisch. "In der Generation von Achmed kennt fast jeder irgendjemanden, der mit falschen Versprechungen nach Syrien gelockt wurde und unten gestorben ist", sagt Reicher. Die heutigen Teenager wüssten das nicht, weil sie damals Kleinkinder waren. Der IS sei jetzt vor allem als Mythos zurück. Propagandisten würden behaupten, dass der IS niemals Unschuldige getötet hätte, dass das alles Lügen des Westens und der Medien seien. Das Propagandamaterial würde heute von Sympathisanten bearbeitet und vor allem auf TikTok wieder hochgeladen werden.

Anfang 2016 bekam ich meine Chance. Die Männer aus dem Keller informierten mich, dass es bald losgehen würde. Ich empfand Anerkennung, weil sie mich offenbar für reif genug hielten. Wir waren eine Gruppe aus sechs Dschihadisten. Mit einem Bus sollte es in die Türkei gehen, dann weiter nach Syrien. Ich hatte niemandem Bescheid gegeben, aber als wir beim Bahnhof warteten, rief ich meine Schwester an. Ich konnte nicht fahren, ohne sie noch einmal zu hören, die Bindung zu meiner Familie war zu stark. Als ich ihr sagte, dass ich auf dem Weg nach Syrien sei, beschimpfte sie mich. Zuerst flehte sich mich an, umzukehren. Dann änderte sie ihre Strategie. Sie wollte mir Geld geben, ich sollte auf sie warten. Deshalb verriet ich ihr unseren Standort. Zwei Stunden später parkte ein schwarzer Mercedes vor dem Busbahnhof. Mein Vater stieg aus und ging mit festen Schritten auf mich zu. Er sagte nur: "Dein Dschihad fängt jetzt erst richtig an." Zu Hause diskutierten wir 13 Stunden lang. Er bot mir einen Deal an. Ich sollte für drei Monate zu Gelehrten in eine tschetschenische Moschee gehen und ihren Vorträgen aufmerksam zuhören. Sollte ich danach immer noch glauben, dass der IS das Richtige für mich sei, würde er mich nicht mehr abhalten.

Bei fast allen Jugendlichen, die Fabian Reicher in den vergangenen Jahren begleiten durfte, hätten die Familien und die Communitys beim Ausstieg aus dem Extremismus eine entscheidende Rolle gespielt. "Das wird leider viel zu wenig gesehen und wertgeschätzt", sagt Reicher. Dabei seien sie ein wichtiger Baustein, um eine Radikalisierung abzuwenden.

Ich bin natürlich drei Monate zu diesen Vorträgen gegangen, aber schon nach kurzer Zeit hat sich meine Meinung geändert. Trotzdem blieb ich noch in Kontakt mit meinen Freunden, um sie zu überzeugen, dass der IS falsch ist. Immer wieder fragte ich nach, was sie von den Argumenten des Imams hielten. Und immer wenn sie selbst keine Erklärungen mehr hatten, bezeichneten sie ihn als Untertreiber, einen Ungläubigen. So wurden meine Zweifel immer stärker. Als dann meine Freunde im Winter 2016 verschwanden und sich beim IS das Leben nehmen mussten, war die Sache für mich klar.

Der Aussteiger Achmed und der Sozialarbeiter Fabian Reicher versuchen gemeinsam, die neue Generation aufzuklären. Sie besuchen nicht nur Schulklassen, sie versuchen auch, über Social Media eine Gegenerzählung zum IS aufzubauen. Achmed wurde Polizeischutz angeboten, aber er lehnte ab: "Ihre Diskriminierungen waren einer der Gründe, warum ich damals in die extremistische Szene gegangen bin."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 27/2023 erschienen.