Das Psychogramm
des "Bösewichts"

Amoklauf im Vorstadtidyll - wie es so weit kommen konnte

Der 66-jährige Friedrich F. führt einen Kreuzzug gegen Lokalpolitiker, Staatsanwälte und Richter. Am vergangenen Sonntag eskalierte die Situation und der Pensionist soll seine Nachbarn erschossen haben. Was geht in einem Menschen vor, der von heute auf morgen mutmaßlich zum Mörder wird?

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Mordfall Stiwoll - Das Psychogramm
des "Bösewichts"

Zwischen Pfarre, Gemeindezentrum und Gastwirtschaft parkt ein Panzerfahrzeug. Polizisten mit Sturmhauben und Maschinengewehren versperren mit ihren Einsatzautos jede Straßenzufahrt. Zwei Hubschrauber mit Wärmebildkameras kreisen über den Wäldern. Schulen und Kindergärten sind geschlossen. Nur wenige Bewohner trauen sich raus. Ausnahmezustand in Stiwoll, eine 700-Einwohner-Gemeinde westlich von Graz.

Mordfall Stiwoll
© Ricardo Herrgott Polizisten vor dem Haus des mutmaßlichen Doppelmörders. Hier starben zwei Menschen

Der Grund heißt Friedrich F. und ist 66 Jahre alt. Pensionist, Ehemann, Vater und seit vergangenem Sonntag auch ein mutmaßlicher Doppelmörder. Vom Obergeschoß seines Hauses soll er mit einem illegal beschafften Kleinkalibergewehr auf seine Nachbarn gezielt haben. Adelheid H. (55) wurde von drei Projektilen getroffen, ihr Ehemann Gerhard E. (64) von zwei. Beide waren sofort tot. Martina Z. (68), die am linken Oberarm getroffen wurde, konnte weglaufen. Sie überlebte schwer verletzt. Danach flüchtete Friedrich F. in seinem weißen VW-Kastenwagen Richtung Westen.

24 Stunden später fand die Polizei zumindest das Auto - es parkte wenige Kilometer vom Tatort entfernt in einem Waldweg. Seitdem durchkämmten etwa 300 Polizisten die Wälder rund um die Gemeinde, 15 Suchhunde waren im Einsatz. Doch die Tiere verloren aufgrund des Unwetters am vergangenen Sonntag schnell die Fährte des Tatverdächtigen. So fehlte von Friedrich F. bis Redaktionsschluss jede Spur.

Wie kann ein Pensionist so plötzlich mutmaßlich zum Mörder werden? Was ist im Leben dieses Menschen passiert, dass er so kaltblütig agierte? Hätten die Behörden seine Taten verhindern können?

Mordfall Stiwoll
© Ricardo Herrgott Um diesen Weg stritten die Nachbarn seit Jahren. Friedrich F. wollte ihn für sich allein

Das Autoritätsproblem

News recherchierte bei Freunden, Nachbarn und Ermittlern. Sie zeichnen zwei verschiedene Bilder von Friedrich F.: der kreative Familienvater und der ortsbekannte Querulant. Er dürfte von allen unterschätzt worden sein. Friedrich F. selbst bezeichnet sich in einem Schreiben, das News vorliegt, als "Bösewicht".

Der 66-Jährige lebte bis zum vergangenen Sonntag mit seiner Ehefrau in einem Wirtschaftsgebäude auf einer Anhöhe in Stiwoll. Von hier aus hat er einen herrlichen Blick auf die ganze Ortschaft. Im Garten hat er einen Pool, sein Anwesen grenzt an den Wald. Hier ist er aufgewachsen. Hier kennt er sich aus. Sein Bruder hat sich nebenan ein Haus gebaut, seine drei erwachsenen Töchter leben seit Jahren nicht mehr im Ort. Friedrich F. soll eine Tochter jahrelang in Singapur besucht haben, bis sie zurück nach Österreich zog.

Gearbeitet hat der Familienvater lange Zeit bei Sappi Limited, einer global operierenden Gesellschaft der Zellstoff-und Papierindustrie mit Produktionsstandort in Gratkorn nördlich von Graz. Hier war Friedrich F. zuständig für die Holzverarbeitung. Seine damaligen Kollegen erinnern sich, dass er immer wieder Probleme mit Vorgesetzten hatte. "Die Chefs mochte er nicht, wenn, dann war er der Chef", sagt Alfred Zwanziger. Er bezeichnet sich selbst als den vielleicht einzigen Freund, den Friedrich F. überhaupt hat. Er besuchte ihn hin und wieder auf einen Kaffee in seinem Haus. Dann plauderten die Männer über ihr gemeinsames Hobby, die Fotografie.

Oder Friedrich F. zeigte seinem Freund im selbst gebauten Schnittstudio die neusten Videoaufnahmen vom Kneipp Club, bei dem er Mitglied ist. "Wenn man sich ihm untergeordnet hat, dann hat man kein Problem mit ihm gehabt", sagt Alfred Zwanziger. Es faszinierte ihn, dass sein Freund immer etwas Neues ausprobiert habe. So habe sich Friedrich F. vor etwa 15 Jahren selbstständig gemacht, um keine Anweisungen mehr von Vorgesetzten ausführen zu müssen. Lieber war er sein eigener Chef. Er arbeitete als Kleinlandwirt und besaß fünf Kühe, später als Imker. Probleme mit Behörden habe er überall gehabt. Einmal, weil er seine Tiere, gegen die Vorschrift, nicht impfen wollte. Einmal, weil er angeblich Gelée royale verkaufte, das er nicht selbst produziert hatte.

Mordfall Stiwoll
© Ricardo Herrgott Als der Alarm am vergangenen Sonntag bei der Polizei einging, wurden Erinnerungen an das Blutbad von Annaberg im Jahr 2013 geweckt. Dieses Mal rückten die Beamten mit einem polizeieigenen Panzerfahrzeug "Survivor II" an

Der Aufstand

Im Ort wollten viele Anwohner seit Jahren nichts mit Friedrich F. zu tun haben. Er habe schon immer mit allen Streit gesucht, sagt ein Nachbar. Seit September 2012 betrieb Friedrich F. eine eigene Internetseite: "Meine Homepage 'Justizgewalt' richtet sich keinesfalls gegen unsere Polizei. Ich möchte auch keinesfalls Richter Anwälte pauschal kritisieren. Es soll durchaus Korreckte geben. Ich verstehe meine Seiten als Kritik, Demokratie, Meinungsfreiheit, Selbstverteidigung, dass Übergriffe aufhören mögen", schreibt Friedrich F. darin. Es folgen Dutzende Blogeinträge und Videos, aus denen eins hervorgeht: Friedrich F. fühlt sich als Verlierer. Schuld sind in seinen Augen immer die anderen. Er selbst sei nur das Opfer von Justizskandalen und korrupten Richtern, Staatsanwälten und Anwälten. Es hat schon etwas Wahnhaftes, mit welcher Intensität er gegen scheinbar alles und jeden ankämpfte. Vielleicht nimmt ihn deshalb lange Zeit niemand ernst. Seine Nachbarn nicht und die Behörden auch nicht.

Mordfall Stiwoll
© Ricardo Herrgott Alfred Zwanziger, ein Freund von Friedrich F., sammelt die wichtigsten Ereignisse seiner Gemeinde in einer Mappe

"Wir haben gelacht, als wir erfuhren, dass er mit einem Lieferwagen mit 'Heil Hitler'-Aufschrift durch Graz fährt. Wir wussten alle, das kann nur der Friedrich sein", sagt Alfred Zwanziger. Verurteilt wurde der Pensionist deshalb nicht. Bei der Staatsanwaltschaft Graz heißt es, dass der Beschuldigte glaubhaft versichern konnte, dass er damit nur auf Missstände in der Justiz aufmerksam machen wollte. Auch ein Prozess gegen Friedrich F. wegen gefährlicher Drohung wurde eingestellt. Der Grund: Ein psychiatrisches Gutachten stufte den Mann als "nicht gefährlich" ein.

Die Bedrohung

Dabei hätte man von seiner Gefährlichkeit spätestens im Jahr 2014 Notiz nehmen können: Damals verteilte Friedrich F. in Stiwoll seine selbst produzierte Zeitung "Das Volksblatt". Die Auflage seiner "unpolitischen und unabhängigen Bezirkszeitung Graz-Nord" gab er mit 15.000 Stück an. Darin fragte er: "Muss man sich alles gefallen lassen?" Er beantwortete sich die Frage selbst: "Man hat zwei Möglichkeiten: Entweder man wird Terrorist oder Journalist." Im August desselben Jahres schreibt Friedrich F. in seinem Blog: "Aus meiner Verzweiflung und Hilflosigkeit gegen diesen Machtapparat heraus dass niemand zuhört wir ständig Ignoriert werden habe ich mit Mail die Justizministerin Karl mehrmals um Hilfe ersucht. Guter letzte habe ich geschrieben 'ich drohe mit der Waffe' sozusagen gemeint mit der Waffe Bleistift und Papier."

Die Fehleinschätzung

Seit Sonntag dürften die Behörden Friedrich F. ernst nehmen. Eine Gefährderliste wurde von der Polizei erstellt, die Angehörigen der Todesopfer sowie der Bruder von Friedrich F. stehen unter Personenschutz und dürfen so lange nicht in ihre Häuser zurück, bis der Täter gefasst ist. Warum Friedrich F. ausgerechnet am vergangenen Sonntag ausrastete und auf seine drei Nachbarn schoss, ist noch Gegenstand von Ermittlungen. Das Motiv dürfte ein seit Jahren schwelender Disput um ein Wegerecht sein: Der schmale Zufahrtsweg zu mehreren Häusern oberhalb der Ortschaft gehört teilweise dem 66-Jährigen. Er soll seinen Nachbarn aufgelauert haben, als die auf Einladung seiner Töchter zur Aussprache vor dem Haus standen. Für Friedrich F. gilt die Unschuldsvermutung.

Alfred Zwanziger hat von dem Doppelmord im Radio erfahren. "Dem Friedrich habe ich viel zugetraut, aber so was niemals." Diese Fehleinschätzung teilt er mit den Behörden.