"Vielleicht hat Kurz ja
auch Angst gehabt?"

Ein großer Schriftsteller und erklärter Regierungsskeptiker zieht Bilanz der ersten "Welle": Michael Köhlmeier versteht Bundeskanzler Kurz, tadelt die grüne Kulturpolitik und spricht aus eigener Leiderfahrung über die Schönheit des Neuanfangs nach der Katastrophe.

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auch Angst gehabt?"

Herr Köhlmeier, geben Sie uns eine persönliche Bilanz nach dem Auslaufen von Phase eins?
Ich habe mich erholt wie seit Jahren nicht mehr. Mir wurde von oben jedes schlechte Gewissen genommen, dass ich mich in der Welt bewegen möge. Es war von oben abgesegnet, dass ich zu Hause bleiben darf, aber gleichzeitig habe ich einen Roman beendet, war also auch in dieser Hinsicht brav. Ich habe erstmals seit mehr als zehn Jahren etwas wie Ferien gehabt und zugleich begriffen, wie wichtig die Kultur ist. Im Gegensatz zur Natur ist die Kultur selbergemachte Schönheit, etwas ungeheuer Tröstendes und Stärkendes.

Sie ist aber leider in der Regierung katastrophal repräsentiert, die vielleicht einzige Schwachstelle in der Corona-Krise, nicht?
Ja, das ist so. Seit der Herr Grasser anno Schüssel von Orchideenstudien gesprochen und damit alles mitgemeint hat, was der Neoliberalismus nicht braucht, war die Kultur in der zweiten Reihe. In dieser Hinsicht habe ich auch von den Grünen nie viel gehalten. Hier herrscht etwas Lehrerhaft- Doktrinäres vor, die Künstler haben zur Verfügung zu stehen, wenn für etwas eine Unterschrift gebraucht wird, und dann nicht mehr. Zu Zeiten der deutschen Linken nannte man das Büpas, Bündnispartnerschaften. Am 1. Mai ist mir das wieder schmerzlich eingefallen: Im alten roten Wien wurden in Gemeindebauten Künstlerateliers unter dem Dach eingeplant. Man hat gesagt: Unsere Leute, denen nie etwas Gutes zuteilwurde, für deren Rechte wir gekämpft haben, die haben ein Recht auf Schönheit. Dieses Bewusstsein liegt nicht in der Tradition der Grünen. Mir ist selten eine derart ignorante Bewegung begegnet. Das spitzt sich jetzt in der Frau Lunacek zu, was aber nicht heißt, dass es vorher besser gewesen wäre. Das Grundmissverständnis ist, die Natur für unseren Freund zu halten. Niemand darf sich das je einbilden. Die ganze Geschichte der Zivilisation, der Kultur, ist die Geschichte der Auseinandersetzung mit der Natur. Man kann auch sagen: des Kampfs mit der Natur. Das Banner, das wir hochhalten, ist das Banner der Kultur und der Zivilisation. Unsere Wissenschaft strebt danach, die Kräfte der Natur zu nutzen und uns mit ihr irgendwie zu arrangieren. Aber Freund ist dieses Grün, das ich da draußen vor dem Fenster sehe, mir gegenüber gar nicht. Wenn ich höre "Mutter Natur schlägt zurück", kriege ich Zustände! Unsere ganze Geschichte betrifft unsere Emanzipation von der Natur, unseren Kampf mit der Natur. Und wenn wir dann, ermattet von diesem Kampf, dasitzen und unseren Tee trinken, ist das eine Errungenschaft der Kultur. Wir schauen den Vögeln den Gesang ab, aber wir machen etwas Schöneres draus. Ich liebe den Amselgesang, aber die 40. Symphonie von Mozart ist mir mehr wert.

Der regierenden Kulturpolitik aber eventuell nicht.
Das kann leicht sein. Aber was wird sein, wenn die Krise vorbei ist und wir einen Impfstoff haben? Zum nationalen Tag des Dankes werden die Philharmoniker spielen.

»Wenn ich allerdings plötzlich für das ganze Land verantwortlich bin, da hätte ich wirklich Angst!«

Sie haben seinerzeit die Flüchtlingspolitik der Regierung vernichtend kritisiert. Wie schätzen Sie jetzt die Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung ein? Missbilligen Sie, dass Kurz Angst verbreitet hat?
Ach, er hat Angst verbreitet? Vielleicht hat er ja auch Angst gehabt? Viele haben Angst gehabt. Unser ältester Sohn, der im medizinisch-statistischen Bereich tätig ist, hat uns schon Ende Februar angerufen und gesagt: "Es wird ganz schlimm." Er hat Angst gehabt, und auch der Virologe Drosten, der jetzt überall zitiert wird, hat Angst und ist nicht auf der Mehlsuppe dahergeschwommen. Ich bin sonst gleich dabei, wenn es gegen Kurz geht. Aber ich denke mir: Wenn ich um mich allein, um meine Familie Angst habe, kann ich Maßnahmen setzen, zum Beispiel das Haus nicht verlassen. Wenn ich allerdings plötzlich für das ganze Land verantwortlich bin, da hätte ich wirklich Angst! Hinterher kann man leicht sagen, es war nichts, man hat übertrieben. Man kann aber auch sagen, und dieser Meinung schließe ich mich an: Es ist noch einmal gut gegangen, vielleicht gerade, weil wir etwas übertrieben haben.

Weil wir gerade von Büpas sprachen: Welche Bündnispartnerschaften geht denn der Mob aus Anarchos, tätowierten Neonazis und heimatlosen Altstalinisten ein, der jetzt Corona-Krawalldemos veranstaltet?
Das war nie anders. Doktrinäre aller Richtungen gehen davon aus, dass sie recht haben und dass alle anderen manipuliert und verblendet sind und mit nicht unbedingt feinen Mitteln zur Klarsicht zu bringen sind. Es ist unglaublich, was unter dieser gemeinsamen Gewissheit alles an einander andockt. Ich verachte das so! Auch das Gegeifere, das in unserer Politik schon wieder Platz greift. Ich blicke neidvoll auf die Diskussionen in Deutschland, in denen man einander einräumt, auf sachlicher Ebene auch irren zu dürfen. Aber das ist halt langweilig, und Langeweile ist in der heutigen Politik die Todsünde. Ich bin so froh, dass ich kein Politiker bin!

Zum Politiker muss man aber auch geboren sein. Kurz ist es offenbar, oder nicht?
Schon. Es braucht für einen guten Politiker einen gewissen Mangel an persönlicher Empathie. Denken wir an die Entwicklungshilfe: Der erste Impuls ist: Die Leute hungern, bei uns wird die Milch weggeschüttet, also schicken wir ihnen unseren Überfluss doch hinunter! Aber jedes Szenario zeigt, dass man den Menschen dort damit mittelfristig die Landwirtschaft ruiniert und langfristig mehr Schaden angerichtet, als Hilfe geleistet wird.

Es ist jetzt auch Spezialdisziplin von Advokaten zwischen Grün und weit rechts geworden, die Regierung der Aushebelung der Grundrechte zu bezichtigen und die Beschränkungen insgesamt infrage zu stellen. Teilen Sie diese Position?
Wissen Sie, warum ich nicht glaube, dass die Grundrechte gefährdet sind? Weil sich diese Advokaten melden und aufstehen und das Ganze zur Hysterie erklären. Gesamtgesellschaftlich gesehen war es die Hysterie, die die ganze Situation im Gleichgewicht gehalten hat. Das gilt aber nicht nur für die einen, die in Todesangst waren, sondern auch für die anderen, die schreien, Kurz wäre dabei, der nächste Orbán zu werden. Vielleicht ist er das ja auch? Aber diejenigen, die vielleicht zu laut und zu hysterisch davor warnen, hindern ihn am Ende, einer zu werden. So funktioniert Demokratie! Wenn es nicht beide Seiten gäbe, wäre ich tatsächlich besorgt um die Demokratie.

»Ich erlebe eine signifikant größere zwischenmenschliche Freundlichkeit als vorher«

Wir haben schon Aktivisten gehört, die meinten, den Alten geschehe ganz recht, weil sie die Welt zerstört haben. Ein deutscher Grün-Politiker meinte, man nehme viel zu viel Rücksicht auf Leute, die ohnehin nur noch ein paar Monate zu leben hätten. Wenn es nun mit der Wirtschaft bergab geht: Halten Sie es für möglich, dass es zur Entmenschung kommt? Zum Hass zwischen den Generationen?
Das kann ich nicht bestätigen, soweit ich das aus der Isolation beurteilen kann. Was ich beobachte, weist eher in die andere Richtung. Ich gehe viel spazieren und erlebe eine signifikant größere zwischenmenschliche Freundlichkeit als vorher. Man bleibt stehen und interessiert sich aus eineinhalb Metern Distanz mehr für den anderen als vorher aus der Nähe. Man grüßt einander wie immer, aber nachher sagt man "Und g'sund bliba, gell?" Das Glück ist, dass es am Virus keinen Schuldigen gibt. Es ist in einer sozialen Krise immer verlockend, einen Schuldigen zu finden. Aber wer glaubt denn ernstlich, die Chinesen hätten das Virus erfunden, um Trump um die zweite Präsidentschaft zu bringen? Nur Trump selber, aber der kann sich eine Situation, in der nicht er im Mittelpunkt steht, nicht vorstellen.

Sie haben selbst Katastrophales erlebt, vielleicht das Schlimmste überhaupt, den Tod Ihrer Tochter. Wie kann man sich nach einer Katastrophe den Weg zurück in die Normalität vorstellen? Gibt es die überhaupt?
Es geht darum, das Glück eines Neuanfangs zu erkennen. Meine Mutter ist nach dem Zweiten Weltkrieg in München vor dem Nichts gestanden. Aber sie hat mir oft erzählt, in ihrem ganzen Leben sei sie nie so glücklich gewesen wie damals. Das Schönste war das Balancieren auf den Mauerkronen der zerstörten Häuser, wenn sie abends vom Job, den sie gefunden hatte, nach Hause ins Heim für junge Mädchen gegangen ist. Weil sie gewusst hat, dass der Neubeginn da ist. Das Erkennen des Neubeginns ist ein großes Glück, auch wenn er durch eine furchtbare Tragödie verursacht wurde. Und ein Teil des Neubeginns ist die Trauer. Nicht die Verzweiflung: Die ist das Ausebben des Alten. Als unsere Tochter gestorben ist, war alles dunkel. Die Verzweiflung sagt dir: Wach endlich auf! Es war nur ein Albtraum, es ist nicht wahr. Wenn man diesen Weg weiterginge, würde man im Irrsinn enden. Aber dann begreift du: Es ist kein Albtraum, du wirst nicht aufwachen, sie wird nicht mehr kommen. Und dann setzt die Trauer ein, und sie kann ein großer Freund sein, ein Begleiter fürs Leben. Mit der Trauer kommt der Neuanfang, und der ist etwas Aufregendes.

Kann man nachher derselbe wie vorher sein?
Ich bin der Meinung, dass sich der Mensch überhaupt nicht verändern, nur entwickeln kann. Eine Blüte entwickelt sich und wird eine Birne, aber ein Auto wird nicht draus. Also ist man auch hinterher der Gleiche. Wir stellen uns Fortschritt immer als etwas Lineares vor: Wir lassen etwas hinter uns, und dann kommt das Neue. Aber ich stelle mir den Fortschritt vor wie in Walter Benjamins Text "Engel der Geschichte", zu dem ihn ein Bild von Paul Klee inspiriert hat: Der Engel sieht mit aufgespannten Flügeln und entsetztem Blick zurück in die Vergangenheit, in der sich die Trümmer und die Toten zum Himmel türmen. Er würde gern die Toten erwecken und das Kaputte zusammensetzen, aber das geht nicht, weil ihn der Wind, der vom Paradies weht, in die Zukunft bläst. Der deutsche Kanzler Adenauer, der kein Nazi war, hat 1948 - 1948!  - gesagt, es müsse mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus endlich Schluss sein. Aber dann kamen die Sechzigerjahre mit dem Jahr 1968, und es war nicht Schluss. So ist es immer: Wir werden in den Fortschritt getrieben und schauen dabei in die Vergangenheit.

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ZUR PERSON: Michael Köhlmeier wurde am 15. Oktober 1949 in Hard, Vorarlberg geboren, studierte Germanistik und Politikwissenschaft und begann beim ORF als Hörspielautor. Seit den Achtzigerjahren legt er ein hochkarätiges erzählerisches Werk vor, zuletzt "Bruder und Schwester Lenobel". Seine Nacherzählungen von Märchen und Sagen und seine Dialoge mit Konrad Paul Liessmann sind exemplarische Volksbildung. Köhlmeier lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Monika Helfer, in Vorarlberg und Wien.

Dieses Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (19/2020) erschienen