Helden und Maulhelden

Nawalnys Tod bedeutet das Ende der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Russland. Er sollte für Österreich ein letzter Weckruf sein

von Kathrin Gulnerits © Bild: News/Matt Observe

Sie hatten Angst. Ganz sicher. Sie wussten, dass sie am Ende einen Preis zahlen mussten. Denn es gab am Freitagabend vergangener Woche nichts zu gewinnen. Aber viel zu verlieren. Und trotzdem war es ihnen wichtig, öffentlich zu gedenken. In Moskau, in St. Petersburg. Trotz des ausdrücklichen Verbots, sich zu versammeln. Trotz eines massiven Polizeiaufgebots. Sie sind mehrheitlich jung. Sie warten geduldig in einer langen Schlange. Sie haben eine Blume in der Hand und halten kurz inne. Die Mutigen unter ihnen sprechen ein paar Sätze in westliche Kameras. Sie heißen Anrim, Alexandra und Alice. Ihren Mut können wir, die in Freiheit leben, nur in Ansätzen erahnen. Im besten Fall kostet sie ihr Handeln eine Geldstrafe, im schlechtesten Fall werden sie für Tage in Arrest sitzen.

Ihr Vergehen? Ein stilles Gedenken an Alexej Nawalny, Oppositionspolitiker und Antikorruptionskämpfer. Held und Symbolfigur. Provokateur. Staatsfeind und Reizfigur. Putins größter Gegner. Jetzt ist er tot. Und mit ihm ist ein letztes Stück Hoffnung auf ein anderes, ein besseres Russland gestorben. Denn alle anderen sind längst im Exil, in der inneren Emigration, verstummt, eingeschüchtert oder aber auch in Gleichgültigkeit versunken. Eine Opposition als politische Kraft gibt es nicht mehr. Dafür noch mehr Angst, die sich jetzt weiter in das Land hineinfrisst. Einerseits. Und andererseits gibt es diese jungen Menschen. Zu Demonstranten abgestempelt. Menschen mit Haltung und Rückgrat. Bewundernswert mutig.

»Hierzulande gilt noch immer: bloß nicht positionieren, sondern lieber wegducken«

Es wäre ein Leichtes für uns, es ihnen nachzutun. Haltung und Mut zu zeigen. Eigene Befindlichkeiten und Bequemlichkeiten zurückzustellen. Dafür müssten wir nur die richtigen, nämlich eindringliche und klar benennende Worte finden und Handlungen setzen. Doch die Reaktionen hierzulande auf Nawalnys Tod waren all das nicht. Sie waren vor allem erwartbar. In vielerlei Hinsicht. Immerhin der Bundespräsident findet deutliche Worte und spricht von einem "mörderischen Regime". Der Rest versucht, mit bürokratischen Stehsätzen über die Runden zu kommen und fordert - wie etwa der Kanzler - beinahe herzig eine "unabhängige und lückenlose Untersuchung der Todesumstände". Der hauptberufliche Brückenbauer in Person des Außenministers gesteht immerhin, dass man "vielleicht rückblickend naiv" war. Jene Partei, die sich anschickt, in ein paar Monaten als Wahlsieger bei der Nationalratswahl durch das Ziel zu gehen, schweigt. Grüße nach Moskau in unterschiedlichen Ausprägungen nach dem Tod eines Menschen, dem das eigene Schicksal mit Blick auf seine Anliegen Nebensache war.

Hierzulande gilt viel zu oft die Devise, sich bloß nicht zu positionieren und es sich - in welcher Folge auch immer - zu verscherzen. Es ist erst ein paar Tage her, da hieß es aus der SPÖ, man möge im Zuge des Ausstiegs aus russischem Gas die Beziehung zu Russland "nicht vorschnell aufs Spiel setzen". Es ist eine unangenehme Mischung aus Wegducken und Realitätsverleugnung. Worte auf der einen und das Fehlen von Handlungen auf der anderen Seite. Verlogenheit und Naivität. Feigheit. Geübte Praxis eben. Die Frage ist, was es noch braucht, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Einfach weiter so wie bisher? "Bis hier und nicht weiter" wäre die richtige Antwort. Ein bisschen weniger Gemütlichkeit ebenso. Etwa auch mit Blick auf die Frage, wie in der geplanten neuen österreichischen Sicherheitsstrategie - sie sollte eigentlich noch in dieser Legislaturperiode auf dem Tisch liegen - die sicherheitspolitische Positionierung von Österreich und die Rolle Russlands neu definiert werden sollen. Aktuell wird Russland hier noch als "wesentlicher Partner" definiert.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: gulnerits.kathrin <AT> news.at