50 Jahre Prager Frühling:
Das Ende der Freiheit

Heute vor 50 Jahren walzten sowjetische Panzer den Prager Frühling nieder. Ein ganzes Volk kämpfte und verlor. Wie zwei österreichische Zeitzeugen die dramatischen Tage erlebten.

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Jahrestag - 50 Jahre Prager Frühling:
Das Ende der Freiheit

Es ist der Morgen des 29. Juli 1968. Auf sowjetischer Breitspur rollt ein Sonderzug ins Grenzstädtchen Cierná, ganz im Osten der CSSR. Der österreichische Wochenschau-Kameramann Otto Pammer steht inmitten eines Weizenfeldes und filmt bei sengender Hitze die fröstelnd machende Zusammenkunft am Bahnsteig. Versteinerte Mienen tragen die Führer des Politbüros mit Leonid Breschnew an der Spitze, als sie aus den grünen Salonwagen steigen und dem Prager Reformer Alexander Dubcek bloß die Hand reichen – die Zeit der „Bruderküsse“ ist längst vorbei. „Man hat damals bereits geahnt“, erinnerte sich der mittlerweile verstorbene Pammer in News, „dass das Land auf der Kippe steht, und deshalb haben sie mich von Wien durch die ganze Slowakei geschickt, um dieses Ereignis zu filmen.“

Was in den Monaten zuvor geschehen ist, hält auch die Österreicher in Atem. Zwölf Jahre nachdem die Sowjets den Ungarn-Aufstand brutal niedergewalzt haben, setzt im nördlichen Nachbarland das Tauwetter ein. Die politische und wirtschaftliche Stagnation in der CSSR hat zu einer Spaltung der dortigen KP geführt und bringt Anfang 1968 den bislang unbekannten Alexander Dubcek an die Spitze der Partei.

Nervöse Polit-Bonzen

Der Slowake, in dem viele bloß einen weiteren farblosen Apparatschik sahen, überrascht mit dem Mut zu Reformen. Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wolle er schaffen, sagt er und verspricht Reise-, Rede- und Versammlungsfreiheit. „Svoboda“, die Freiheit, sie ist es, die die Menschen fasziniert, sie in seinen Bann zieht und zu Anhängern Dubceks werden lässt. Doch sie ist auch eine gefährliche Verheißung, welche die Führer der kommunistischen „Bruderstaaten“ nervös macht. Zu viel Freiheit beim Nachbarn, das wissen sie, stellt auch ihren eigenen Machtanspruch infrage. Im Örtchen Cierná versuchen sie deshalb, den abtrünnigen Genossen Dubcek auf Linie zu bringen. Was, wie es damals scheint, auch gelingt. Dass die Generäle zur selben Zeit aber bereits über Einmarschplänen brüten, ahnt noch keiner.

Auch nicht ein junger österreichischer Fotograf, der im Auftrag des französischen Magazins „Paris Match“ am 20. August 1968 in Wien ins Auto steigt. Er heißt Franz Goess, ist 39 und hat sich schon beim Ungarn- Aufstand und dem Sechstagekrieg seine Sporen verdient. An diesem Tag soll er nach Bratislava fahren, um die Kinopremiere eines verbotenen Films zu fotografieren. In der Stadt herrscht ausgelassene Stimmung, die Krise der vergangenen Wochen scheint abgewendet, die Reformen gehen weiter. „Auch ein slowakischer Freund und ich waren in Feierlaune“, erinnert sich Goess, „in der Bar des Hotel Carlton stießen wir gegen elf am Abend gerade an, als ein Bursch hereingelaufen kam und schrie, dass ein Panzer draußen stünde.“ Goess schnappt sich seine Kamera, läuft hinaus und blickt in die Kanone eines sowjetischen T-55, der, wie Goess sagt, „dankenswerterweise vor dem Straßenschild ‚Wien: 70 Kilometer‘ parkte.“

Der Einmarsch hatte soeben begonnen. Wie wild fotografiert Goess, so lange, bis ein Russe aus dem Panzer springt und ihn einzufangen versucht: „Ich bin aber zurück ins Hotel, wollte sofort in Wien anrufen, doch die Leitungen dorthin waren bereits gekappt.“ Noch weiß niemand auf der Welt, was hier gerade geschieht. Noch hört niemand das Rollen der 2.000 Panzer und das Stampfen der halben Million Soldaten aus der Sowjetunion, Bulgarien, Polen und Ungarn, die in dieser Nacht beginnen, das im „Prager Frühling“ langsam gewachsene Pflänzchen namens Freiheit niederzuwalzen.

Der erste Tote

„Aus heutiger Sicht hat Österreich die akute Brisanz dieser Tage falsch eingeschätzt“, weiß Stefan Karner vom Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung in Graz, „denn als die Panzer auf Prag und Bratislava zurollten, war die österreichische Staats- und Heeresspitze auf Urlaub und telefonisch nicht erreichbar.“ In der schwül-warmen Nacht zum 21. August 1968 landen auf dem Prager Flughafen Ruzyne im Minutentakt Militärmaschinen. Panzer rollen auf die Hauptstadt zu. Ein Aufruf im Radio, der die Invasion verurteilt, wird unterbrochen, das Sendegebäude von Truppen umstellt. Taxifahrer rasen mit aufgeblendeten Scheinwerfern durch die Stadt, hupen, schlagen Alarm. Prag erwacht mitten in der Nacht, und der erste Tscheche stirbt für die Freiheit. Eingehüllt in die Nationalflagge bricht er angeschossen vor dem Gebäude des Zentralkomitees unweit des Wenzelsplatzes zusammen. Die Trikolore liegt am Boden, der junge Mann verblutet auf ihr. Es beginnt zu nieseln.

Am nächsten Tag reicht der Fotograf Franz Goess in Bratislava einem Kollegen seine Filme, damit dieser sie nach Wien schmuggelt. Dort erhält zur selben Zeit Wochenschau-Filmer Otto Pammer ein Fax aus den USA. Sein Auftraggeber, Fox News, beordert ihn nach Prag. Sofort. „Ich sprang ins Auto und fuhr los, hatte noch ein gültiges Visum und gelangte so als einer von wenigen ungehindert in die CSSR.“ Schon auf dem Weg in die Stadt rollen an ihm die ersten Panzer vorbei, die nach und nach das gesamte Land besetzen. Dubcek und die anderen Reformer sind längst in Gewahrsam der Sowjets. Deren Soldaten aber glauben, hier zu sein, um ein Land von der Konterrevolution zu befreien. In Wirklichkeit treffen sie auf einen Staat im Widerstand. Goess knipst in Bratislava, wie sich eine nicht enden wollende Panzerkolonne über die alte Donaubrücke zwängt. „‚Ihr seid hier nicht erwünscht‘, haben Jugendliche geschrien“, erinnert er sich, „und eine Menschenkette gebildet – bis die ersten Schüsse fielen.“

Aus Freunden wurden Feinde

Im 300 Kilometer entfernten Prag filmt Pammer gleichzeitig, wie Studenten die blutgetränkte Trikolore auf den von ihnen gekaperten sowjetischen Panzern schwenken. Die Kamera, sie wird zur Zeugin der Anklage in einem noch nie da gewesenen gewaltfreien Widerstand, der die Welt betroffen macht. Pammer wird zum Fenster des Westens für viele Tschechen. Er pendelt Nacht für Nacht von Prag nach Wien: „Ich habe das Material, das ich tagsüber filmte, geschnitten und verschickt. Da an viel Schlaf nicht zu denken war, legte ich mich höchstens für eine Stunde hin und fuhr zurück nach Prag.“

Dort ist nun auch Franz Goess eingelangt und fotografiert die Verunsicherung in den Gesichtern der Soldaten, die längst nicht mehr wissen, was sie hier tun: „Das waren Buben aus der tiefsten Provinz, denen erzählt wurde, sie würden mit Applaus und Blumen begrüßt.“ Nun versperren ihnen aber Hunderttausende den Weg, geben ihnen keine Auskunft, kein Quartier, kein noch so kleines Stück Brot, keinen einzigen Schluck Wasser. Sie führen sie in die Irre, montieren Straßenschilder ab und lassen Wegweiser verschwinden. Selbst die Namen an den vielen Türglocken sind über Nacht abhanden gekommen, und eine ganze Nation heißt fortan nur noch Dubcek oder Svoboda. In Windeseile tauchen überall in Prag Karikaturen auf. „Iwan, fahr nachhause, Natascha wartet schon“, steht dort auf Russisch geschrieben, oder: „Selbst Hitler ist bei Tageslicht einmarschiert. Nur unsere Freunde überfallen uns in der Nacht.“ Goess fotografiert, wie sich eine Nation gegen den übermächtigen Aggressor stellt, wie sich ein ganzes Volk verzweifelt gegen jene stemmt, die es zu lange für Freunde hielt. Es ist der Kampf Hunderttausender, die Nacht für Nacht „ Proletarier aller Länder, verzieht euch“ auf die Wände kritzeln, in der Hoffnung, dass ihr Traum von der Freiheit überlebt, auch wenn sie selbst dafür sterben müssen.

Der Frühling endet im Sommer

Doch der Traum stirbt schneller. „Beim Ungarn-Aufstand war ich noch euphorisch“, sagt Pammer, „aber als ich in Prag sah, mit welcher Brutalität die Sowjets vorgingen, wusste ich, dass die Tschechen keine Chance haben.“ Aus Angst vor einem Blutbad und unter dem Druck von einer halben Million Soldaten unterzeichnet Dubcek am 26. August in Moskau ein Protokoll, in dem die Reformen zurückgenommen werden. Der Prager Frühling stirbt im Sommer, und auf ihn folgt ein nicht enden wollender Winter. Eine Zeit, euphemistisch als „Normalisierung“ bezeichnet, die alles, wofür die Menschen kämpften, fortan im Keim erstickt.

Die Lage ist aussichtslos. So aussichtslos, dass der Student Jan Palach an einem nebligen Jännertag im Jahr ’69 beschließt, dem allem ein Ende zu setzen. Vor dem zerschossenen Nationalmuseum übergießt er sich mit Benzin und läuft als Fanal der Freiheit in Form einer menschlichen Fackel brennend über den Wenzelsplatz. Franz Goess fotografiert sein Begräbnis, das Tausende protestieren lässt. Doch es nützt nichts mehr. Es ist vorbei. Goess ist zum Jahrestag der Invasion 1969 ein letztes Mal in der CSSR. „Bis dahin hatte ich an der Grenze nie Probleme bei der Ausreise“, erzählt er, „doch diesmal filzten mich die Zöllner und fanden meine Filme.“ Er w ird zur Kommandantur gebracht, stundenlang verhört und festgehalten: „Schließlich sagten sie mir: Entweder wir eröffnen ein Verfahren, und du kommst ins Gefängnis, oder du reist sofort freiwillig aus und bekommst die nächsten Monate kein Visum mehr.“ Aus Monaten sollten Jahre werden, und Goess sah, ähnlich wie Pammer, Prag erst wieder, nachdem der lange Winter erst im November 1989 in der Freiheit endete.

Der Artikel ist ursprünglich in der Printausgabe von News erschienen.