Israel - "Komplexer als durch die Linse des Konflikts betrachtet"

Der Historiker Michael Brenner wird am 25. Mai mit dem ersten Baron-Preis ausgezeichnet. Im Interview spricht der Spezialist für die Geschichte Israels über Herzls Vision, aktuelle Gegensätze und Israels Verhältnis zu Österreich

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Israel - Israel - "Komplexer als durch die Linse des Konflikts betrachtet"

Ihr Buch "Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates" ist eine faszinierende Ideengeschichte. Sehr viele kluge Menschen haben sich in 120 Jahren sehr viele kluge Dinge dazu überlegt, die jeweils sehr überzeugend sind und nur leider oft in totalem Widerspruch zueinander stehen. Es war von Anfang an sehr kompliziert, oder?
Ja, das meiste in der jüdischen Geschichte war irgendwie kompliziert. Ich wollte in dem Buch vor allem aufzuzeigen, wie die verschiedenen Vordenker dieses Staates, von Theodor Herzl bis zu den führenden Politikern wie Netanjahu, sich einen zukünftigen jüdischen Staat vorgestellt haben bzw. als er dann existierte, wie sie den bestehenden Staat als jüdischen Staat konzipierten. Wie Sie sagen, es war natürlich sehr kompliziert. So viele Staaten gibt es ja nicht, die zunächst als Utopie entstanden sind. Theodor Herzl hat sich in Wien diesen Staat erträumt, nicht weil er nicht Österreicher oder deutschsprachiger Journalist und Schriftsteller bleiben wollten, sondern weil er das Gefühl hatte, man lässt es nicht zu. Er war damals vielleicht realistischer als viele andere österreichische und deutsche Juden, das wussten nur viele natürlich nicht. Ich glaube auch nicht, dass es dann zwangsläufig auf diese Katastrophe hinauslaufen oder dass seine Vision eintreffen musste, aber es geschah dann eben so.

Was würde Herzl sagen, wenn Sie ihn auf eine kleine Rundfahrt durchs heutige Israel mitnehmen würden?
Das haben viele versucht zu beantworten, unter anderem hat Schimon Peres ein ganzes Buch darüber geschrieben. Ich bin da vorsichtig, weil ich glaube, wenn Theodor Herzl heute leben würde, wäre er nicht Theodor Herzl, er lebte in der Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Und trotzdem macht man sich natürlich Gedanken darüber. Wenn man seine Schriften vergleicht mit dem, was der Staat Israel heute darstellt, kann man zu sehr unterschiedlichen Erkenntnissen kommen. Man kann sagen, da stimmt ja gar nichts: Herzl hat sich vorgestellt, dass die Soldaten dieses Staates, wenn man sie überhaupt braucht, friedlich in ihren Kasernen leben. Er dachte, die arabische Bevölkerung werde diese Einwanderer, die den modernen Fortschritt aus Europa mitbringen, mit offenen Armen begrüßen. Er hat nicht völlig übersehen, wie manchmal dargestellt wird, dass da eine arabische Bevölkerung lebt, aber er dachte eben fälschlicherweise, sie würde die Zuwanderer aus Europa begrüßen. Er hat auch gedacht, dass in diesem Land nicht Hebräisch gesprochen würde, sondern die europäischen Sprachen, und dass es verschiedene Theater in allen diesen Sprachen geben werde, Opernhäuser, Wiener Kaffeehäuser und so weiter.

»Dass Israel jetzt im IT-Bereich führend ist und als Start-up-Nation gilt, hätte Herzl unglaublich gut gefallen«

Was würde ihm am heutigen Israel gefallen?
Was ihm sehr wichtig war, war Israel - obwohl es diesen Ausdruck ja noch gar nicht gab, also der jüdische Staat -als ein Symbol des Fortschritts für die gesamte Menschheit, ein Modellstaat. Der technische Fortschritt war für ihn ungeheuer wichtig. Dass Israel jetzt im IT-Bereich führend ist, dass es auch als Start-up-Nation gilt, hätte ihm unglaublich gut gefallen. Mit religiösem Fanatismus konnte er gar nichts anfangen. Ich glaube, in Jerusalem würde er sich wahrscheinlich viel weniger wohlfühlen als in Tel Aviv. Er müsste nur Hebräisch lernen, davon wäre er nicht begeistert, aber vielleicht würde er das als moderner Herzl heute auch tun.

Sie skizzieren in Ihrem Buch, Stichwort Jerusalem und Tel Aviv, die Spannungen zwischen sehr konservativen und sehr säkularen Bevölkerungsteilen im heutigen Israel. Geht das überhaupt noch zusammen?
Wir sehen das in den letzten zwei Jahren ja ganz extrem, bei den inzwischen vierten Parlamentswahlen, die wieder zu keinem klaren Ergebnis geführt haben. Die israelische Bevölkerung ist unglaublich gespalten, und jetzt spreche ich nur von den 80 Prozent jüdischen Israelis. Die größte Spaltung -und damit die größte Herausforderung für die Zukunft -ist meiner Meinung nach tatsächlich jene zwischen säkularen und ultraorthodoxen Israelis. Letztere stellen mit einer Kinderanzahl von durchschnittlich sieben Kindern das am stärksten wachsende Bevölkerungssegment dar. Dass es zu diesem Gegensatz kommen würde, hatte bei der Staatsgründung kaum jemand so vorausgesehen, weil die ultraorthodoxe Bevölkerung einen doch sehr geringen Teil ausmachte.

Aber dieses Nebeneinander funktioniert derzeit noch gut genug?
Viele sprechen ja über die Spannungen in der israelischen Gesellschaft, auch ich in meinem Buch, und die gibt es. Aber wir sollten auch darüber sprechen, was für ein beeindruckendes Gemeinschaftsgefühl diese Gesellschaft trotz allem -der Spannung zwischen Juden und Araber, zwischen Orthodoxen und Säkularen, zwischen Einwanderern aus den verschiedensten Ländern -erzeugen kann.

»Die israelische Bevölkerung ist unglaublich gespalten«

Wie wird Israel von außen wahrgenommen? Das moderne, fortschrittliche Israel bekommt inzwischen viel Aufmerksamkeit, Stichwort Start-ups oder Serienproduktion
Diese Wahrnehmung durch Europa hat ja auch damit zu tun, dass Israel in den letzten Jahren viel mehr Anerkennung von Seiten erfuhr, die es bis dahin abgelehnt hatten. Ich spreche von arabischen Ländern, von den Vereinigten Arabischen Emiraten bis Marokko, mit denen es jetzt diplomatische Beziehungen gibt, das wäre vor zehn Jahren kaum denkbar gewesen. Es hat natürlich auch damit zu tun, wie sich die jeweilige israelische Regierung in Bezug auf die Palästinenser verhält. Aber eben nicht nur. Man nimmt wahr, dass Israel wesentlich komplexer ist, als nur durch die Linse des Konfliktes betrachtet. Vor allem, weil es ja nur ein Teil des sehr komplexen Nahostkonflikts ist, der weit über die Frage Israel und Palästina hinausgeht.

Es gibt eine Form des Antisemitismus, die sich als Israelkritik ausgibt. Wo verläuft die Grenze zwischen Kritik und Diffamierung?
Man kann diese Grenze nicht genau festlegen. Natürlich, in dem Moment, in dem der Staat Israel mit traditionellen antisemitischen Stereotypen bewertet wird, geht es in Antisemitismus über. Wenn man zum Beispiel Karikaturen, die aus dem antisemitischen Repertoire stammen, auf Israel anwendet, dann ist das klar antisemitisch. Wenn man einen Vergleich zwischen dem Holocaust und der Behandlung der Palästinenser zieht, dann ist das klar antisemitisch, weil Welten dazwischenliegen. Wenn man dem Staat von Vornherein das Existenzrecht abspricht, spricht man fast der Hälfte der jüdischen Bevölkerung in der Welt, die heute in Israel leben, das Recht auf ihren Staat ab. Auf der anderen Seite muss man auch vorsichtig sein und das Recht auf Israelkritik zulassen. Ich finde es sehr wichtig, dass nicht jede Israelkritik gleich als antisemitisch bezeichnet wird.

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Eine spannende Frage, die sich auch durch Ihr Buch zieht: Ist Israel ein normales oder ein besonderes Land?
Eines der Ideale der zionistischen Vordenker war es, ein Land wie jedes andere zu erschaffen und endlich einmal Normalität für die Juden zu erzeugen, die sie in der Diaspora so lange nicht hatten. Man wollte nicht mehr Außenseiter sein. Auf der anderen Seite gab es auch das andere Motiv, das biblische Vorbild, ein Licht unter den Nationen zu sein. Das war auch Herzls Vision. Dieser Staat sollte auch eine Art Modell-und Vorbildcharakter für die ganze Welt haben. Das war natürlich auch ein Widerspruch, der den Staat bis heute begleitet.

Inzwischen kann man sagen, dass Israel ein besonderer Staat geworden ist, oder?
Ich überlasse es jedem Einzelnen, das zu beurteilen. Der Staat hat ja etwa genauso viele Einwohner wie Österreich, wird aber in der internationalen Wahrnehmung viel mehr wahrgenommen. Das liegt natürlich daran, dass dieses Fleckchen Erde für die großen Weltreligionen so eine große Bedeutung hat. Jerusalem ist nicht einfach eine Stadt, damit verbinden nicht nur Juden, sondern auch Christen und Muslime der ganzen Welt etwas ganz Besonderes, und man blickt besonders hin. Und natürlich hat auch die Geschichte der Juden als Minderheit in so vielen Kulturen bewirkt, dass sich so viele ein Bild davon formen. Das ist nicht immer negativ, das kann auch besonders positiv sein, was ich allerdings auch für problematisch halte, wenn man an die evangelikalen Bewegungen in Amerika denkt, die alles idealisieren, was mit Israel und Juden zu tun hat.

Österreichs Kanzler ist sehr stolz auf seine guten Beziehungen zu Israel und unterhält offenbar ein gutes persönliches Verhältnis zu Netanjahu. Wie ordnen Sie das ein?
Als Nichtösterreicher kenne ich keine Interna, aber es ist eine gewisse Ironie, dass die schlechtesten Beziehungen einer österreichischen Regierung zur israelischen Regierung in die Zeit fallen, als Österreich einen jüdischen Kanzler hatte, unter Bruno Kreisky. Dann gab es die großen Krisen, Waldheim, das Aufkommen der FPÖ. Inzwischen hat sich das sehr normalisiert, und ich glaube, dass nicht nur Kurz, sondern auch die meisten seiner Vorgänger ein sehr gutes Verhältnis zu Israel hatten. Das liegt nicht nur an den handelnden Personen, ich könnte mir vorstellen, dass auch unter einem neuen israelischen Ministerpräsidenten diese guten Beziehungen fortgesetzt werden. Da hat sich in Österreich auch viel getan. Dass jetzt mehr Verantwortung übernommen wird, das wird in Israel sehr wohl wahrgenommen.

»Der Platz der jüdischen Gemeinde sollte immer an der Seite der Schwachen und der Minderheiten sein«

Umgekehrt hat Österreich für Israel wahrscheinlich nicht so eine große Bedeutung.
Ich glaube, dass Österreich in Israel nicht die große politische Rolle spielt, aber man sucht natürlich auch in Österreich nach guten politischen Verbündeten innerhalb der EU. Die EU als Ganzes ist natürlich schon relevant.

Darf man dann mit der FPÖ eine Koalition bilden, wenn man gute Beziehungen zu Israel unterhält?
Wenn Sie mich fragen, nein. Ich glaube, das geht nicht zusammen. Interessanterweise ging es ja auch nicht mit Israel, als die FPÖ zum ersten Mal in der Regierung war, man hat sich aber anscheinend daran gewöhnt. So wie Netanjahu auch kein großes Problem damit hat, mit Ungarns Orbán gute Beziehungen zu pflegen, obwohl das eigentlich ein Problem sein sollte angesichts der doch sehr starken antisemitischen Tendenzen in Ungarn. Sollte Jair Lapid, dessen Vater ein Holocaustüberlebender war, künftig eine größere Rolle in Israel spielen, wird man vielleicht wieder etwas sensibler sein, was die Rolle einer Partei betrifft, die doch versucht, den Holocaust und die Beteiligung Österreichs daran herunterzuspielen. Ich glaube, die israelische Regierung ist sehr froh, dass sie im Moment nicht mit dieser Frage konfrontiert ist.

Für wie gefährlich halten Sie die Rechtsaußenparteien in Europa?
Die Ironie ist ja, dass viele dieser Rechtsaußenparteien versuchen, sich Israel oder auch der jüdischen Gemeinde in Europa anzubiedern, und das halte ich für sehr problematisch, egal ob das der Rassemblement National in Frankreich ist oder die AfD in Deutschland. Ich glaube, für die jüdische Gemeinschaft ist es letztlich wichtig, zu erkennen, dass man immer, auch wenn man nicht direkte Zielscheibe ist, in das Visier von ausländerfeindlichen und immigrationsfeindlichen Strömungen gerät. Sehr viele Juden sind im Lauf der Geschichte Flüchtlinge gewesen. Nicht weil sie es wollten, sondern weil es eine Folge der langen Geschichte des Antisemitismus war. Der Platz der jüdischen Gemeinde sollte meiner Meinung nach immer an der Seite der Schwachen und der Minderheiten sein. Und wenn das heute Immigranten oder Muslime sind, muss man versuchen, auf diese einzugehen. Auch, wenn es in diesen Gruppen, das will ich nicht verhehlen, antijüdischen Tendenzen gibt, aus Gründen, die wiederum viel mit dem Nahostkonflikt zu tun haben.