"Macht ist ein menschliches Grundbedürfnis"

Der Fall der Familie, die seit 2010 völlig isoliert auf einem Hof in den Niederlanden lebte, bleibt rätselhaft. Der Pächter des Hofes, der Österreicher Josef B., sitzt in U-Haft wegen des Verdachts auf "Freiheitsberaubung". Auch der Vater der Kinder, ein Niederländer, wurde mittlerweile festgenommen. Was steckt hinter dem Fall? Gerichtspsychiater Reinhard Haller gibt eine Einschätzung.

von Kriminalität - "Macht ist ein menschliches Grundbedürfnis" © Bild: Weissengruber & Partner Fotografie OG

Was haben Sie gedacht, als Sie von diesem Fall zum ersten Mal gehört haben?
Man denkt natürlich an die Ähnlichkeit mit dem Fall Fritzl. Aber ich war sicher, das ist eines dieser typischen Delikte, wo drei Konstellationen zusammenkommen.

Welche sind das?
Erstens handelt es sich um ein geschlossenes System. Das war gegeben durch den einsam gelegenen Bauernhof. Das zweite ist, dass es eine einseitige Machthierarchie gegeben haben muss. Also jemand, der sehr dominant, mächtig, bestimmend ist. Die anderen müssen hingegen auf irgendeine Art und Weise schwach sein. Entweder sind es Kinder oder Kranke. Also Menschen, die sich leicht beherrschen lassen.

Und die dritte Konstellation?
Es muss eine Idee geben, die das Ganze trägt. So etwas kann entweder eine fanatische Idee sein, wie es bei Sekten der Fall ist, oder es kann eine wahnhafte Idee sein, die krank ist. Der Wahnsinnige beeinflusst die Nichtwahnsinnigen.

Was treibt einen Menschen dazu an, andere über Jahre hinweg von der Außenwelt zu isolieren?
In aller Regel sind das starke Machtbedürfnisse. Ein menschliches Grundbedürfnis ist es, Macht auszuüben. Es gibt eben Menschen, die machen das auf so eine Art und Weise. Das ist dann die totale Macht.

Bisher ist nicht klar, ob die Kinder tatsächlich eingesperrt waren. Warum nutzen Opfer nicht die Chance, wegzugehen, wenn sie können?
Das ist der simple Mechanismus, den wir oft bei Sekten beobachten. Die Sektenmitglieder werden von der Idee, von der ich anfangs sagte, dass sie erforderlich ist, daran gehindert
wegzugehen. Es reicht die Idee, um Mitglieder einer Sekte am Austritt zu hindern. Solche Fälle gibt es immer wieder. Der größte Fall einer derartigen Konstellation war Jonestown
mit 910 Todesopfern. (Mit Zyankali-Limonade vergifteten sich im Jahr 1978 mehr als 900 Mitglieder der amerikanischen Volkstempel-Sekte im Dschungel von Guyana, Anm.)

Wie ist die Persönlichkeitsstruktur von Opfern, die bleiben?
Die dürfen nicht allzu autonom sein. Das liegt ja auf der Hand. Sie sind in der Regel wenig durchsetzungsfähig. Sie sind häufig unreif oder psychisch krank. Auf jeden Fall sind sie in dem System die Schwächeren.

Was sind die Konsequenzen jahrelanger Isolation?
Das hängt von mehreren Punkten ab. Zunächst einmal von der Frage, wie strikt die Isolation war. Im niederländischen Fall wissen wir nicht, ob sie hundertprozentig isoliert waren. Bei einer totalen Isolation sind die Konsequenzen natürlich noch größer.

Wovon hängen die Konsequenzen noch ab?
Von der Dauer der Isolation. Je länger, desto schwerer. Außerdem spielt die Eingangskonstellation eine große Rolle, also die Fragen: Wie bin ich in die Situation hineingeraten? War ich damals schon ein psychisch angeschlagener Mensch oder gesund und stabil? Wenn jemand schon vorher unter neurotischen Störungen, Selbstzweifeln, Persönlichkeitsstörungen,
Depressionen leidet, dann wird das alles durch die Isolation verstärkt. Wenn jemand aber in einer guten Konstitution war, dann wird er es leichter überstehen. Aber Folgen hat so was immer. Und ganz so leicht sind die dann auch nicht zu behandeln.

Sie haben ein Buch über „das Böse“ geschrieben. Wo liegt die Grenze zwischen Gut und Böse?
Das sind natürlich Gegensätze. Aber die Grenze ist immer dort anzusiedeln, wo jemand zu leiden beginnt.

Was ist das Böse?
Das ist ein Sammelbegriff für Krankheit, Elend, Verbrechen, Sünden, Neid, Hass, Zorn. Jeder weiß zwar, was er darunter versteht, aber keiner kann es genau definieren. Deshalb haben
die unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen unterschiedliche Definitionen. Die Philosophen sagen, das Böse ist der Preis der Freiheit. Wenn der Mensch also frei ist, muss er sich auch für das Böse entscheiden können. Die Theologen sagen, dass die Abwesenheit von Gott böse ist. Die Biologen sagen, es ist der Aggressionstrieb. Wir Psychiater sagen, es ist eine besondere Form des Narzissmus.

Wie entsteht das Böse nach der Definition der Psychiater?
Zum Bösen gehört aus unserer Sicht Empathiemangel. Also das Böse ist immer nur möglich, wenn es keine Sympathie, Antipathie oder Mitleid gibt.

Was braucht es noch zum Bösen?
Die vollkommene einseitige Machtverteilung. Einer ist völlig hilflos und der andere übermächtig. Zum Beispiel bei einem IS-Terroristen, der öffentlich einen Unschuldigen
enthauptet. Und die Entmenschlichung. Das heißt: Es wird dem Opfer vorher die Menschlichkeit abgesprochen. Dann sprechen sie von Mindermenschen oder Ungläubigen.

Was ist noch entscheidend für das Böse?
Der Planungsgrad. Je höher der ist, desto böser ist eine Tat. Wenn sie im Affekt spontan geschieht, ist sie viel weniger böse, als wenn sie gut geplant ist, wie bei einem Serienkiller.
Entscheidend ist auch das Ausmaß der Folgen. Da ist natürlich der Krieg, der Vater des Bösen, weil da all das Vorgenannte enthalten ist, aber auch die Folgen entsprechend schwer sind.

Kann jeder Mensch böse sein?
Das glaube ich schon. In jedem Menschen wohnt das Gute und das Böse. Wo Licht ist, muss es auch Schatten geben. Manche Psychologen sagen, der Mensch kommt als universell
böses Wesen auf die Welt – ein Kind kann ja unter Umständen auch sehr böse sein – es sei dann eine Sache der Erziehung, der Umwelteinflüsse, der Sozialisation, dass das Böse nicht
zum Vorschein kommt. Dass er das beherrscht. Und dann gibt es die Meinung, dass der Mensch als unschuldiges Kind geboren und durch die Erziehung etc. böse wird. Das ist umstritten. Aber es steckt in jedem Menschen drinnen. Deswegen ist die Frage für mich interessanter: Unter welcher Konstellation kann jemand böse werden? Welche sind das? Unter Alkohol oder Drogeneinfluss oder wenn jemand in einem emotionalen Erregungszustand ist, in einer Gruppenkonstellation oder in autoritären Regimen, wenn das Böse autorisiert ist, wie wir das bei Diktaturen oder Kriegen hatten.

Kann man das Böse im Menschen vernichten?
Die Psychoanalytiker sagen, das Böse ist letztlich ein Aggressionstrieb, und den brauchen wir. Aber in einer gutartigen Form. Das heißt, wir können das Böse nur umwandeln in konstruktive Energie, aber wir können es nicht abschaffen.

Wir als Journalisten, aber auch Theater, Film und Bücher behandeln immer wieder Themen des Bösen. Wieso ist der Mensch so fasziniert davon?
Ich glaube, dass das alles spannende Geschichten sind. Ich denke, dass Kriminalität Psychologie pur ist. Macht, Neid, Wahn, Wut, Gekränktheit, das alles ist in der Kriminalität in
einer konzentrierten Form vorhanden. Und ein entscheidender Grund ist für mich, dass jeder Mensch ahnt, dass er auch böse Seiten hat. Die kennt er nicht. Das sind die sogenannten
Abgründe. Er hofft, dass er in dem Kriminalroman einen Spiegel sieht. Könnte ich nicht auch so sein? Die Menschen sind darin auf der Suche nach dem eigenen Bösen.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie einem Beschuldigten zum ersten Mal begegnen, um ihn zu begutachten?
Ich probiere, ihm auf Augenhöhe zu begegnen und mit einer gewissen Wertschätzung. Jeder große Verbrecher ist auch ein großer Psychologe und wahrscheinlich besser als ich selbst.
Dementsprechend nähere ich mich diesen Menschen immer mit Neugierde.

Haben Sie Mitleid mit den Opfern?
Mit den Opfern habe ich immer Mitleid. Aber ich hab auch manchmal – das muss ich zugeben – mit dem Täter Mitleid. Denn mancher ist in eine Tat hineingeraten. Gerade bei Beziehungsdelikten, wo die Menschen nachher fassungslos sind und sich fragen, was da in sie gefahren ist. Sie können oft nicht glauben, was sie getan haben. Und oft glaube ich ihnen,
wenn sie sagen, dass es ein absoluter Ausnahmezustand war. Dann hab ich schon Mitleid. Aber als Gutachter muss man sich neutral verhalten und darf sich nicht von Mitleid bei seinem Urteil tragen lassen.

Inwiefern beeinflusst der Umgang mit Verbrechen Sie als Privatperson?
Ich bin ängstlicher und rechne damit, dass in jedem Menschen neben guten Seiten immer auch böse stecken. Ich bin von Grund aus ein sehr optimistischer und froher Mensch, aber
das ist mit den Jahren etwas verschoben worden. Jetzt glaube ich eben auch an das Böse.

Angenommen, Sie müssten einmal selbst zum Psychiater: Würden Sie sich von sich selbst behandeln lassen?
Ja, ich glaube schon. Bei jeder Therapie kommt es auf die Erfahrung an, die man gemacht hat. Ich glaube, das höchste Maß ist, wenn man nur das verordnet, was man sich selbst in der Situation geben würde.

Kann man Sie überhaupt schockieren?
Natürlich. Das war mit ein Grund, warum ich das Buch in Neuauflage geschrieben habe. In zehn Jahren ändert sich vieles. Das Böse hat sein Gesicht gewandelt. Es gibt heute Delikte,
die damals anders waren. Die Taten werden motivärmer. Beziehungsdelikte haben zugenommen. Es kommt zu einer Virtualisierung des Verbrechens. Es verlagert sich mehr
und mehr ins große Netz. Kinderpornografie, Mobbing, die ganzen Betrügereien. Insofern glaube ich schon, das Böse ändert sich stets. Die neuen Delikte, wie School-Shooting, das schockiert mich auch.

Das Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (43/2019) erschienen!