Der Geisterglaube des Mittelalters ist der Verschwörungsglaube der Gegenwart

In Krisen nehmen Geisterglaube und der Glaube an Verschwörungen von oben zu. Rund zehn bis 14 Prozent der Bevölkerung schätzen die aktuelle Situation als ungefährlich ein und kritisieren die von der Regierung gesetzten Maßnahmen als überzogen. Für sie ist Corona eine einzige Lüge der Herrschenden, um die Menschen zu unterdrücken. Dieser Glaube entspricht dem Geister- und Feenglauben im Mittelalter. Beide Glaubensvorstellungen sind nicht durch Fakten gedeckt, werden aber vehement in die Öffentlichkeit getragen. Ein Kommentar von Alois Kogler.

von Gastbeitrag - Der Geisterglaube des Mittelalters ist der Verschwörungsglaube der Gegenwart © Bild: iStockphoto.com
Dr. Alois Kogler lehrt an der Universität Graz Verhaltenstherapie und als Arbeits- und Organisationspsychologe "Team und Führung". Am Institut für Psychosomatik und Verhaltenstherapie ist er als Verhaltenstherapeut tätig.
© Lukas Moder

Viele der aktuellen Denkmuster sind ähnlich im Mittelalter schon aufgetreten. Aus der besonders krisenhaften Zeit des 30-jährigen Krieges gibt es zahlreiche Dokumente, die den Geisterglauben und das damit verbundene politische Handeln deutlich machen.

"Man sah am Himmel die schrecklichsten Gesichter, man fand die Anzeigen furchtbaren Unheils in zahlreichen Missgeburten, Gespenster erschienen, unheimliche Laute klangen vom Himmel und auf der Erde. In Ummerstadt leuchteten weiße Kreuze am Himmel, als die Feinde einrückten. Als sie in die Kammerkanzlei eindrangen, trat ihnen ein weißgekleideter Geist entgegen und winkte ihnen zurück, und niemand konnte sich von der Stelle rühren. Nach ihrem Abzuge hörte man acht Tage lang im Chor der ausgebrannten Kirche ein starkes Schnauben und Seufzen."

Hungersnöte, Seuchen und Zerstörungen

So beschrieb der deutsche Kulturhistoriker Gustav Freytag (1816-1895) Schilderungen von Menschen aus dem 30-jährigen Krieg. Dieser Krieg verwüstete ganze Landstriche im damaligen Heiligen Römischen Reich. Besonders betroffen waren die deutschsprachigen Gebiete. In Süddeutschland überlebte nur ein Drittel der Bevölkerung. Die Kriegshandlungen führten zu Hungersnöten, Seuchen und Zerstörungen von Städten und Dörfern. Nach den wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen benötigten einige der vom Krieg betroffenen Gebiete mehr als ein Jahrhundert, um sich von den Folgen des Krieges zu erholen.

Freytag schreibt weiter: "Zu Gumpershausen machte eine Magd großes Aufsehen im Lande. Sie erfreute sich der Besuche eines kleinen Engels, der sich bald in rotem, bald in blauem Hemdlein vor ihr aufs Bett oder den Tisch setzte, wehe schrie, vor Gotteslästerung und Fluchen warnte und schreckliches Blutvergießen verhieß, wenn die Menschheit nicht das Lästern, die Hoffart und die gestärkten und geblauten Krägen – damals eine neue Mode – abschaffen würde." Freytag kommentiert diese Erscheinung ironisch: "Wie man aus den eifrigen Protokollen ersieht, welche die geistlichen Herren verschiedener Würden über die Halbblödsinnige aufnahmen, verursacht ihnen nur der eine Umstand Bedenken, weshalb das Engelein nicht sie selbst besuche, sondern eine einfältige Magd."

»Engel oder Geister halfen den Menschen, mit ihrer Angst umzugehen«

Im Mittelalter war die sichtbare Welt ebenso wie die unsichtbare streng hierarchisch aufgebaut. In der damaligen Vorstellung hat Gott eine himmlische und irdische Ordnung geschaffen, mit der er die Rollen des Himmels und der Menschen festlegte. Der Engelshierarchie von Seraphim und Cherubim und des göttlichen Thrones entsprach die weltliche Hierarchie der Geistlichkeit, der Fürsten und der Vasallen. Für alle Menschen war diese Ordnung von Gott gegeben und alle im christlichen Europa glaubten daran. Dementsprechend wurden Erscheinungen von Engeln oder Geistern für wirklich und wahrhaftig gehalten. Sie halfen den Menschen, mit ihrer Angst umzugehen. Es war für damals kein Aberglaube. "Das mittelalterliche Bewusstsein ist in erster Linie ein religiöses Bewusstsein", in dem die Gesellschaft nach dem Willen Gottes geordnet ist, schreibt der Mittelalterforscher Aaron Gurjewitsch.

Die Bausteine der Weltordnung

In unserer Zeit gibt es diese "göttliche Harmonie" nicht mehr. Der lenkende Gott hat seine Rolle verloren. Heute gelten Staaten und globale Unternehmen als Bausteine der Weltordnung. Die Ängste aber sind ähnlich wie im Mittelalter: Angst vor dem Fremden, Angst vor der Ohnmacht gegenüber den Naturkräften, Angst vor raschen Veränderungen. Es gibt nicht mehr die Gewissheit, dass Gott uns beschützt und auffängt. "Die Söhne dachten nicht mehr wie die Väter", schreibt der französische Historiker Georges Duby. Rasche Veränderungen sind undurchschaubar und heute wie im Mittelalter unkontrollierbar. Damals waren es feindliche Heerscharen, die die Länder tatsächlich verwüsteten. Heute gelten "feindliche Eliten" mit ihren machtvollen Technologien als Zerstörer der Gesellschaft und der Staaten. Menschen werden zu Geistern oder Zauberern gemacht.

»Es gibt nicht mehr die Gewissheit, dass Gott uns beschützt und auffängt«

Statt Engeln oder weißgekleideten Geistern treten "Geister" in Form von mächtigen Menschen wie Microsoft-Mitbegründer Bill Gates auf. Gates propagiert tatsächlich seit 2015 Impfstoffe gegen Pandemien vor allem für die armen Länder. Aber nach Ansicht der "Geistergläubigen" wolle er in die Impfstoffe Substanzen geben, die die Menschen von ihm abhängig machen. Ähnlich, aber in eine andere Richtung denkt der Sänger Xavier Naidoo. Er behauptet, dass "die Elite" Kinder ermorde, um ein vermeintliches Verjüngungsmittel namens "Andrenochrom" zu gewinnen. Der Buchautor Ernst Wolff bezeichnet die Maßnahmen gegen Corona als geplanten "finanzfaschistischen Coup" und behauptet, dass die Pandemie absichtlich dazu genutzt werde, Menschen gezielt unter Kontrolle zu halten, damit Massenenteignungen durchgesetzt werden können.

Diese Ansichten halten einer vernünftigen Prüfung nicht stand. Die Psychologie und die Verhaltenstherapie sagen, dass der Mensch sich in den anderen einfühlen kann, dass die Menschheit vor allem deshalb überlebt hat, weil die Menschen immer etwas mehr kooperiert als sich gegenseitig bekämpft haben. Ja, Menschen lügen und betrügen (nach Machiavelli), aber sie leben auch zusammen, kümmern sich um den Anderen und entwickeln neue Ideen, die das Leben, die Gesellschaften und auch die Menschen besser machten. Das Buch "Factfulness" von Hans Rosling liefert für diese Aussage die statistische Grundlage. Die Psychologie mit ihren vielen Forschungsrichtungen schafft Erkenntnisse über das Wesen des Menschen. Eine wesentliche Tatsache ist, dass er vor allem überlebt hat, weil er kooperativ war und ist. Die besten Überlebenschancen haben jene, die sich ein gutes Umfeld mit Freunden aufbauen. Angst zu schüren, sei es mit Geistern oder mit Vorurteilen, setzt hingegen bei negativen Gefühlen an und fördert die Konfrontation.

Wer ist für das Böse verantwortlich?

Aberglaube und Wissenschaftsfeindlichkeit scheinen eine Konstante in der Menschheitsgeschichte zu sein. Es ist ein Versuch, mit (Aber-)Glauben Ordnung in eine Welt zu bringen, die übermächtig, unverständlich, gefährlich und Angst machend ist. Wissenschaft allein macht die Welt nicht verständlich. Gläubige Menschen fragen: Warum bringt Gott so viel Leid über uns? Warum hat ein allmächtiger und gütiger Gott das Böse in der Welt erschaffen? "Geistergläubige" behaupten, dass Menschen der "Elite" für das Böse verantwortlich seien.

Wer aber an die Kraft und Kreativität des Menschlichen glaubt, der wird zwei Dinge tun. Einerseits ist es notwendig, die Emotionen der "Geistergläubigen" zu erforschen und verstehen, denn sie sind ein Signal für die Disparatheit der Gesellschaft. Die Pandemie wird tatsächlich viele Menschen ärmer machen und an den Rand der Gesellschaft drängen. Andererseits ist es notwendig, die Probleme der Pandemie und der tatsächlichen Leiden der Menschen praktisch zu lösen. Mit Menschlichkeit, Fakten und Wissenschaft. Mit Geisterglauben fällt die Welt weiter zurück als ins Mittelalter.

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