Das Heim zu verlassen,
ist jederzeit möglich

Zwei Monate galt in den Pensionistenwohnhäusern, Pflege-und Altersheimen Besuchsverbot, um die Bewohner vor dem Covid-19-Virus zu schützen. Die Türen wurden zugesperrt, oder Wachpersonal stand am Eingang. Ab dem 4. Mai 2020 empfahl die Bundesregierung Lockerungen, doch deren Handhabung bleibt den Trägern überlassen. Während manche Bewohner seit vier Wochen auch außerhalb der Häuser spazieren gehen, treffen andere ihre Angehörigen noch immer hinter Plexiglasscheiben. Wie kann das sein?

von
THEMEN:
Corona - Das Heim zu verlassen,
ist jederzeit möglich
© Bild: Nina Strasser

Fast alle Angehörigen, die in diesem Artikel zu Wort kommen, wollen anonym bleiben, aus Angst, ihre Berichte könnten ihren Vätern, Müttern oder Großeltern schaden. Diese leben in Pensionistenwohnhäusern, Alters-oder Pflegeheimen in Wien, der Stadt Salzburg oder in Niederösterreich. Zehn Menschen haben sich insgesamt bei News gemeldet, weil sie an den derzeit geltenden Besuchsbestimmungen verzweifeln, fünf dieser Fälle sollen exemplarisch zeigen, wie unübersichtlich die Lage aus der Sicht von Angehörigen bis heute ist.

Zwei Fälle großer Verzweiflung

Die 89-jährige Mutter von Frau A. achtet auf ihr Erscheinungsbild. Die Fingernägel der ehemaligen Bank-Angestellten sind gefeilt und lackiert. Sie kratzt damit an der Plexiglasscheibe, die sie von ihrer Tochter in der Besuchskabine trennt. Sie kann oder will nicht verstehen, wieso Frau A. sie nicht in den Arm nehmen kann. Frau A. muss sich bücken, um durch die Löcher zu sprechen, die unterhalb der Scheibe den Ton von einer zur anderen Seite lassen. Lange Unterhaltungen sind aufgrund der fortgeschrittenen Demenz nicht möglich. "Bitte trink", sagt die Tochter also und: "Hab noch Geduld, wir müssen das schaffen!" Ein Zivildiener auf der einen Seite, eine Pflegekraft auf der anderen, achten auf die Einhaltung der 30-minütigen Besuchszeit. Nach 20 frustrierenden Minuten sagt die Mutter: "Geh jetzt!" - "Das hat mir das Herz gebrochen", wird die Tochter später erzählen.

Frau B. trifft ihre Mutter an einem Tisch im schmucklosen Festsaal eines Wiener Pflegeheims. Rechts und links sorgen Paravents für Sichtschutz zu zwei weiteren Besuchsvorrichtungen. Als sich Frau A. setzt, streckt ihr ihre 88-jährige Mutter von der gegenüberliegenden Seite die Hände entgegen. "Zurück", ruft eine Betreuerin, die auf die Einhaltung der Regeln achtet. Bis zur Besuchersperre am 13. März hat Frau B. ihre Mutter täglich besucht, mit der Mutter gesungen und das Zimmer aufgeräumt. Zusammen haben sie viele Ausflüge unternommen. Seit dem 4. Mai, als Besuche wieder erlaubt wurden, kommt Frau B., sobald sie einen Besuchstermin ergattert. Das ist im Schnitt jeden vierten Tag. Diesmal versucht sie, mit Süßigkeiten die Pensionistin zum Lachen zu bringen. Doch als die versucht, die Verpackung zu öffnen, wird sie erneut zurechtgewiesen: "Essen verboten!" Die Mutter weint. Frau A. und Frau B. treffen einander inzwischen regelmäßig. Angehörige sind schlecht bis gar nicht vernetzt, in den Häusern läuft man sich eher über den Weg als in die Arme. "Also habe ich irgendwann begonnen, im Internet Angehörige anzuschreiben, denen es offenbar ähnlich geht wie mir", sagt Frau B. So habe sie Frau A. und viele weitere Betroffene kennengelernt. Man diskutiert über Verordnungen und Empfehlungen, über Haus-und Heimrecht, vor allem aber über das Unrecht, das man empfindet. Frau B sagt: "Wir Angehörigen werden bis heute nicht als gleichwertiger Teil des Ganzen gesehen, wir dürfen nur bitten. Kommunikation auf Augenhöhe sieht anders aus. Dabei gleichen wir das aus, was das Gesundheitssystem nicht leisten kann."

Warum begegnen sich seit den gelockerten Besuchsbeschränkungen mancherorts Menschen hinter Plexiglasscheiben, während sie anderswo gemeinsam im Garten spazieren? Ist es rechtens, dass Angehörige mit Bewohnern ins Wirtshaus gehen, während anderen das Verlassen des Hauses nur mit Einschränkungen möglich ist? So darf Frau A. mit ihrer Mutter zwar vor die Tür des Hauses, allerdings, so soll ihr gesagt worden sein, trage sie die Verantwortung, wenn es im Haus zu Infektionen käme. "Das traue ich mich nicht", sagt Frau A. Frau B. erwirkte immerhin eine Ausnahme und durfte mit ihrer Mutter eine halbe Stunde in den Park. Ein Zivildiener schob den Rollstuhl, sie musste eineinhalb Meter Abstand halten.

"Es ist wie im Gefängnis", sagt Frau B., "Hier geht es schon lange nicht mehr um Schutz, hier geht es um exzessiv ausgeübtes Hausrecht." Darum startete die Angehörigengruppe auf weact.campact.de eine Onlinepetition: "Pflegeeinrichtungen dürfen keine Gefängnisse sein!" Ziel: durch Öffentlichkeit die Liebsten wieder in die Arme schließen zu können. In einer Woche kamen über 300 Unterschriften zusammen.

Der Schutz der Bewohner

Rückblick: Am 13. April, mancherorts sogar früher, schließen die Pensionistenwohnhäuser, Alters-und Pflegeheime in ganz Österreich ihre Pforten für Besucher. Die Maßnahme soll dazu dienen, die Bewohner vor Covid-19 zu schützen. Nach einer entsprechenden Empfehlung des Gesundheitsministeriums sind Kontaktaufnahmen von außen nur noch telefonisch möglich, in fortschrittlichen Einrichtungen werden Tablets eingesetzt, mit denen via Skype kommuniziert werden soll. Für Bewohnerinnen, so informieren manche Träger, würden die ab dem 16. März in ganz Österreich gültigen Ausgangsbeschränkungen gelten: Gründe für das Verlassen des Hauses wären demnach Arztbesuche, Therapien, Betreuungsbedarf oder auch Spaziergänge. Inwieweit letztere außerhalb der Häuser möglich sind, sowie die Folgen dieses Tuns, bleibt forthin Thema von Spekulationen: Nebst einer zweiwöchigen Quarantäne, die manche Häuser schriftlich ankündigen, machen Szenarien die Runde, etwa dass in diesem Fall eine Rückkehr ins Haus nicht mehr möglich sei, der Platz sogar verfallen könne. Fazit: Bewohner wollen oder trauen sich nicht hinaus, Angehörige fürchten die Konsequenzen, Interessenvertretungen fürchten um Freiheitsrechte.

Am 1. Mai enden die Ausgangsbeschränkungen für alle Menschen, die in Österreich leben. Ab sofort benötigt man keinen Grund, um das Haus zu verlassen oder Menschen zu treffen. Über die ab dem 4. Mai geltenden Lockerungen der Besuchsbeschränkungen in Alten-und Pflegeheimen wird ausführlich berichtet. Der Punkt "Spaziergänge und Ausgänge", zu finden auf der zehnten und letzten Seite der dazugehörigen Empfehlung, wird von Politikern, Trägern und Medien nicht extra erwähnt. Dort steht, dass eine Neuregelung der Ausgangsbeschränkungen auch für Bewohner von Alten-und Pflegeheimen gelte. Kurz: Ab 1. Mai steht es -zumindest in der Theorie -jedem frei, die Einrichtung zu verlassen oder sich abholen zu lassen, und zwar ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Eine Information, die vielen Angehörigen verborgen blieb.

Die weinende Großmutter

Eine Erwähnung dieser Sachlage sei unnötig, da es für Bewohner niemals ein Ausgangsverbot gegeben habe, heißt es aus dem Büro des Wiener Gesundheitsstadtrats Peter Hacker (SPÖ). Auch die Sozialstadträtin Anja Hagenauer (SPÖ) aus der Stadt Salzburg bestätigt das. Die Niederösterreichische Landesgesundheitsagentur schickt eine lange Liste an Bedingungen, an die ein Ausgang geknüpft ist, generell sei er aber möglich. Seit dem 29. Mai dürfen, so heißt es weiter, Bewohner auch auswärts schlafen. Was die weiteren Punkte der Lockerungs-Empfehlungen von Bund und Ländern betrifft, sind die Häuser gefordert, diese gemäß ihrer Größe und ihren baulichen Gegebenheiten umsetzen. Die 31-jährige Frau C. vermutet, dass ihre Großmutter schon seit der Schließung des Hauses am 9. März nicht mehr im Freien war. Ein 30-minütiger Besuchstermin pro Woche, seit Neuestem zwei Mal 15 Minuten, stehen der Großmutter zu. Weil die Enkelin den Onkeln und Tanten den Vortritt ließ, habe sie ihre Großmutter schon einen Monat nicht mehr gesehen, sagt Frau C. Die Treffen finden in einer Besucherkoje mit Plexiglaswand statt. "Da wird man vorgeführt wie im Gefängnis", sagt Frau C. Mitgebrachte Kekse sind zuvor abzugeben. Früher habe sie die 82-Jährige oft abgeholt, doch nun sei sie nicht sicher, ob die alte Dame danach überhaupt zurück ins Haus dürfe. Es sei ihr und ihrer Mutter vermittelt worden, dass dies nicht so sicher sei. "Es ist so schlimm, die Oma tut mir so leid", sagt Frau C. "Sie ist eine so herzliche Frau. Seit drei Monaten wird sie nicht mehr berührt." Beim letzten Besuch habe die Großmutter geweint und gesagt: "Ich verstehe das nicht, ich schaffe das nicht mehr." Frau C. betont, dass sich im Haus gut um die Großmutter gekümmert werde, doch die jetzige Situation sei kaum noch auszuhalten. "Man sitzt da und sieht zu, wie jemand immer mehr verfällt. Ich kann es nicht verstehen, dass man in Kauf nimmt, das Menschen an Einsamkeit sterben könnten."

Auf eine Nachfrage antwortet Direktor Franz Oelz: "Es gab bis dato nur eine einzige Anfrage eines Angehörigen, ob ein Ausflug bzw. die Mitnahme einer Bewohnerin in den häuslichen Bereich möglich sei." Dies hätte jedoch aus Sicherheitsgründen vor der Rückkehr ins Pflegeheim "eine Testung oder 14-Tage-Quarantäne im Heimzimmer" zur Folge gehabt. "Ansonsten waren Spaziergänge ohne Kontakt zu externen Personen immer möglich." Seit 4. Mai dürften Bewohner wieder insbesondere mit ihren Angehörigen das Haus für Rollstuhlausfahrten verlassen. Frau C. zeigt sich über diese Antwort überrascht. Das sei ihr nicht mitgeteilt worden.

»In den Besucherkojen wird man vorgeführt wie im Gefängnis. Mir tut die Oma so leid«

Mit dem Vater ins Freie

Schon während der Schließung hat es in der Stadt Salzburg Fälle von Angehörigen gegeben, die versuchten, in die geschlossenen Häuser einzubrechen, um Bewohner zu sehen. Ein Gedanke, der Frau D. niemals kam. Sie war zuerst froh über die strengen Vorschriften zum Schutze ihres 70-jährigen Vaters, der an Morbus Parkinson und leichter Demenz leidet. Doch die Versuche, während der fast zweimonatigen Besuchersperre mit ihm Kontakt aufzunehmen, empfand sie zunehmend als zermürbend. Schon früher wäre ihr Vater ein introvertierter Mensch gewesen, durch die Krankheit und über das Telefon sei es in der Corona-Zeit noch schwieriger gewesen, an ihn heranzukommen. Die Freude über ein Wiedersehen in der ersten Mai-Woche hinter Glas und mit Walkie-Talkie verflog schnell. "Es kam mir vor, als säße ich in einer Auslage. Ihn empfand ich als eingesperrt. Er hat mir so unendlich leidgetan", sagt sie. Mehrmals habe sie daraufhin im Haus der Stadt Salzburg angerufen und gefragt, wieso sie ihn nicht im Garten treffen könne, anderswo wäre dies, so habe sie gehört und auch in Fernsehbeiträgen gesehen, möglich. Nach mehreren Absagen gelang das Vorhaben am 20. Mai, mittlerweile sind die Tochter und der Vater wieder gemeinsam draußen unterwegs. Trotzdem ist der Ärger bei Frau D. nicht verflogen: Die wochenlange Uneinheitlichkeit der Besucherregelungen verschiedener Seniorenheime "sind mir bis heute nicht verständlich". Am 15. Juni, so habe sie jetzt die Information erhalten, wären Besuche auf den Zimmern erlaubt. "Aber wir sind ohnehin lieber draußen."

Sozialstadträtin Hagenauer (SPÖ) ist stolz, keinen einzigen positiven Fall in den sechs ihr unterstellten Häusern zu vermelden. Natürlich sei es seit dem 1. Mai für Bewohner möglich, Verwandte außerhalb des Hauses zeitlich unbegrenzt zu treffen. Zuvor hätten dies die Bewohner ohnehin nicht gewollt, der Schutz sei ihnen wichtiger gewesen. "Und für mich zählt der Bewohner-Wille, nicht jener des Enkerls", sagt Hagenauer. Im Fall der Fälle aber hätte es nach dem Zurückkommen eventuell eine Quellenisolierung gegeben, also ein Verbleiben am Zimmer, bis ein Covid-19-Test gemacht hätte werden konnte. Das wäre im besten Falle innerhalb eines Tages möglich gewesen, im März allerdings habe es noch an entsprechenden Schutzausrüstungen gefehlt. "Wir haben aber allen Angehörigen schon zu Beginn angeboten, die Bewohner mit nach Hause zu nehmen. Sie hätten auch ihren Platz behalten."

Der Verlust des Lebensmenschen

Nur eine Angehörige traut sich, ihren Namen in den Medien zu nennen. Sabine Vieth aus Wien hat ihren 77-jährigen Mann Bodo während der Sperre verloren. Er starb eine Stunde, bevor in Österreich die Lockerungen in Kraft traten, also am 30. April um 23 Uhr. Bis zuletzt habe sie gekämpft, ihn sehen zu dürfen. Bevor das Pflegeheim die Tür für sie verschloss, habe sie den früheren Antiquitätenhändler täglich gesehen. "Er war ein so lieber Mensch", sagt sie "ich konnte mit ihm über alles reden." Dass er an Demenz erkrankt gewesen sei, hätte der Lebenslust keinen Abbruch getan. "Wir hatten auch im Heim immer eine Gaudi."

»Mein Mann ist nicht an Corona gestorben sondern wegen Corona. Er hat einfach aufgegeben«

Die Information vom Ableben ihres Mannes traf sie unvorbereitet. Als sie ihn das letzte Mal sah, sei er bei guter Gesundheit gewesen. "Ich habe mich immer an alle Sicherheitsvorschriften gehalten, ich war nie eine Gefahr für ihn. Er war gegen seinen und meinen Willen eingesperrt", sagt sie heute unter Tränen. "Ich habe ihm einst ein Versprechen gegeben, immer für ihn da zu sein, und konnte es nicht einhalten." Vieth ist überzeugt, ihr Partner sei nicht an Corona gestorben, sondern wegen Corona. "Er hat einfach aufgegeben." Der Fall sei ein besonders tragischer, sagt die Pflegeleiterin der Caritas, Ilse Simma- Boyd, und würde die Mitarbeiter des betroffenen Hauses heute noch sehr belasten. "Für uns alle war das eine furchtbare Phase." Man habe sich stets bemüht, für jene Bewohner, bei denen ein Ableben absehbar gewesen sei, Ausnahmen von der Besuchssperre zu genehmigen. Der Lebensgefährte von Frau Vieth sei allerdings sehr plötzlich verstorben, daher wäre ein Treffen nicht mehr möglich gewesen.

Die noch zu klärenden Fragen

Die Frage, unter welchen Umständen schon während des Besuchsverbots Treffen außerhalb des Hauses möglich gewesen wären und welche der angedrohten Konsequenzen, von denen Angehörige berichten, wirklich verhältnismäßig gewesen sind, lässt alle Verantwortlichen um Worte ringen. Verhindert worden sei der Ausgang nicht, man hätte die Bewohner dahingehend auch nicht motiviert, könnte man alle Aussagen zusammenfassen. Simma- Boyd bringt das Dilemma der Heim-Verantwortlichen auf den Punkt: "Es ist eben bis heute keine Rechtssicherheit gegeben, was höher steht: das Recht auf persönliche Freiheit oder der Schutz der Gemeinschaft. Ich glaube, wir brauchen hier eine Lösung, die auf die individuelle Situation der Betroffenen eingeht." Sie erhoffe sich in der Nachbearbeitung der Krise eine Klärung dieser Frage.

Was Frau A und Frau B betrifft, gab es nur in einem Fall Antwort vom Träger: "Es gab kein Ausgangsverbot", heißt es vom KAV -in einem seiner Häuser lebt die Mutter von Frau B. "Anzumerken ist, dass die meisten unserer Bewohner aufgrund ihrer chronischen Erkrankungen immobil sind. Die Häuser haben selbstständig abgewogen, ob in Einzelfällen aus medizinischen und hygienischen Gründen ein Verlassen des Hauses kontraproduktiv ist."

Vom Träger "Wie daham" gab es bis Redaktionsschluss keine Rückmeldung und damit keine Klärung für Frau A.

Aus dem Gesundheitsministerium heißt es am Mittwoch, dem 3. Juni: Eine neue Empfehlung des Bundes zu den Besuchsbedingungen in Alters-und Pflegeeinrichtungen sei in Arbeit und werde Anfang der kommenden Woche präsentiert. Deren Umsetzung liegt dann wieder bei den Ländern und in letzter Instanz bei den Trägern.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 23/20

Kommentare