Tödliches Berufsrisiko

Eine Mutter und ihr ungeborenes Baby wurden beim Zusammenstoß mit einer Straßenbahn getötet, ein Kind verletzt. Für den Unfalllenker wurde ein Albtraum wahr. Wie lebt man damit?

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Chronik - Tödliches Berufsrisiko

Es war zu spät. In dem Moment, als er die junge Frau sah, im Arm ihr kleines Kind, war es bereits zu spät. Der Zugführer zog die Notbremse, aber er hatte keine Chance. Nur den Bruchteil einer Sekunde später folgte der Frontalzusammenstoß. 40 Tonnen Stahl gegen 60 Kilo Mensch: ein dumpfer Schlag, Blut, Schreie, Schock.

Der junge Straßenbahnfahrer setzte sofort den Notruf an die Zentrale ab, sicherte das Fahrzeug und rannte zu der hochschwangeren Frau, die blutüberströmt am Boden lag, um erste Hilfe zu leisten. Aber alle Bemühungen waren vergebens. Zu schwer waren die Verletzungen. Die junge Mutter starb kurz darauf im Rettungshubschrauber auf dem Weg ins Spital. Ihr Baby starb wenige Stunden später, nachdem es per Kaiserschnitt zur Welt gebracht worden war. Nur der 18 Monate alte Bub, den die junge Frau im Arm trug, als sie die Straßenbahngleise auf der Simmeringer Hauptstraße überqueren wollte, überlebte mit einem Beinbruch.

Während ganz Österreich mit den Hinterbliebenen trauert, dem Witwer, dem Halbwaisen, fragt kaum jemand nach jenem Zugführer, für den an diesem Donnerstagvormittag der Albtraum aller Berufsfahrer wahr wurde: Er wurde unschuldig zum Täter. Er hat zwei Menschen getötet.

250 Unfälle

Ein Zugführer, sagt man, muss in seinem Berufsleben mit durchschnittlich zwei "Schienentoden" rechnen. Im Stadtverkehr sind Unfälle mit Todesfolge freilich deutlich seltener. Aber auch in Wien muss das hauseigene Kriseninterventionsteam der Wiener Linien, Sozius, bis zu 250 Mal pro Jahr ausrücken, um U-Bahn-, Straßenbahn-oder Buslenker nach einem Unfall mit Personenschaden psychologisch zu betreuen. Selten sind die Folgen so dramatisch wie bei jenem tödlichen Unfall in Simmering. Trotzdem leiden die betroffenen Fahrzeuglenker oft ein Leben lang unter den Erinnerungen. Vor allem dann, wenn Kinder betroffen sind, erzählt Michael Kiss, Leiter des Referats Arbeitspsychologie bei den Wiener Linien und Teamleiter von Sozius. Wie man damit weiterlebt, erzählt er im News-Interview.

Was tun Sie und Ihr Team mit einem Menschen, der gerade in einen tödlichen Verkehrsunfall verwickelt war? Wie fängt man jemanden da auf?
Zuerst ist es einmal wichtig, den Betroffenen von der Unfallstelle wegzubringen. Wir treffen uns meistens in der nächstgelegenen Dienststelle oder in einer Garage der Wiener Linien. Dort finden in der Regel auch die Einvernahmen mit der Polizei statt. Und dann geht es darum, zu schauen, was der Betroffene braucht. Im ersten Moment helfen auch Kleinigkeiten wie ein Glas Wasser oder eine Decke.

Wann realisiert ein Unfalllenker, dass gerade jemand gestorben ist?
Das ist ganz unterschiedlich. Aber wenn das passiert, wenn der Gedanke kommt: "Ich habe jemanden umgebracht!", dann tritt oft eine tiefe Verzweiflung ein. Und es tauchen tausend Fragen auf: Was hätte ich anders tun können? Warum ich? Was, wenn ich eine halbe Minute später dort gewesen wäre? Hätte ich das verhindern können? Und, und, und. Unsere Aufgabe ist es dann, gemeinsam Antworten auf diese Fragen zu finden.

Wie kann man sich das vorstellen?
Es ist wichtig, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Manchmal ist es gut, die Unfallstelle noch einmal aufzusuchen, um das Bild im Kopf zu komplettieren. Oft erinnern sich die Fahrer nur an Einzelheiten. An Blut, an Schreie, an Röcheln. Es ist wichtig, die ganze Geschichte zu sehen, auch um zu erkennen, was die eigene Beteiligung und Schuld dabei ist. Wie im Fall der toten Schwangeren. Sie war verdeckt von einer Plakatwand und ist unvermittelt auf die Gleise getreten. Wenige Meter weiter wäre ein Schutzweg gewesen. In diesem Fall ist eigentlich der Fahrer das Opfer.

Hilft dem Unfallfahrer die breite mediale Berichterstattung oder traumatisiert sie ihn erst recht?
Ich glaube, in diesem Fall hilft es, das ganze Bild der Geschichte zu rekonstruieren. Zum Glück gibt ja niemand dem Fahrer die Schuld. Auch dass wirklich alle über diesen Vorfall tief betroffen sind, hilft. Wenn niemand über einen Unfall redet, kann beim Unfalllenker das Gefühl entstehen, er müsse unverzüglich wieder zur Tagesordnung zurückkehren. Manche überfordert das.

Wie lange dauert es, bis man einen tödlichen Unfall überwinden und wieder ins Fahrzeug steigen kann?
Das ist ganz individuell, und es hängt natürlich von der Schwere der Verletzungen ab. Und von der Dramatik des Unfallhergangs. Meist ist es leichter, wenn der Fahrer überrascht wird, wie in Simmering. Schlimm ist es, wenn zum Beispiel Menschen auf Straßenbahngleisen stehen. Oft noch mit Kopfhörern im Ohr. Wenn der Fahrer sie sieht, klingelt, bremst, aber weiß, dass er den Zusammenprall nicht mehr verhindern kann. Weil es einfach eine Zeit lang dauert, bis ein so schweres Gefährt wie eine Straßen- oder U-Bahn zum Stehen kommt. Und ganz schlimm ist es, wenn Kinder involviert sind. Die allermeisten unserer Fahrer haben selbst Kinder. Da ist dann die Identifikation mit den Hinterbliebenen riesig. Manche verwinden das nie.

Raten Sie den Unfalllenkern, Kontakt mit den Hinterbliebenen aufzunehmen?
Nein, davon raten wir ab. Weil wir nicht wissen, wie sie reagieren. Ob sie dem Fahrer nicht trotzdem die Schuld geben. Oft haben die Hinterbliebenen ihre eigene Geschichte und brauchen einen Schuldigen. Es ist daher auch nicht empfehlenswert, zum Begräbnis zu gehen. Das kann für alle Beteiligten unschön enden.

Als Berufsfahrer hat man natürlich ein viel höheres Risiko, in einen schweren Unfall verwickelt zu sein, als andere. Kann man sich an den Gedanken gewöhnen, dass man bei der Arbeit vielleicht jemanden töten wird?
Nein. Darauf, dass jemand stirbt, kann man sich nicht vorbereiten. Das ist sicher nicht Teil des Jobs. Aber natürlich ist es für Berufsfahrer, die acht Stunden täglich hinter dem Steuer sitzen, ein realistisches Szenario, dass irgendwann einmal etwas passieren kann. Mit diesem Gedanken sollte man sich schon auseinandersetzen. Daher glaube ich, dass es für Berufsfahrer auch etwas leichter ist, mit einer Unfallsituation umzugehen, als für Sonntagsfahrer.

Der Fahrer, der am vergangenen Donnerstag mit seiner Garnitur der Linie 71 die Mutter und ihr Kind erfasste, war ein erfahrener Lenker. Auch wenn die Polizei formal wegen fahrlässiger Tötung gegen ihn ermittelt, trifft ihn keine Schuld. Aber es gab an jenem Tag Menschen, die sich schuldig gemacht haben. Jene Schaulustigen, die sich in einer Traube um das Opfer scharrten und die Rettungskräfte bei ihrer Arbeit behinderten, um Fotos und Videos zu machen. Das Verhalten dieser Gaffer verurteilte die Polizei später als rechtlich wie auch moralisch verwerflich.

Sozius

Die psychosoziale Unterstützung für Mitarbeiter der Wiener Linien gibt es seit 2009. Fünf Psychologen und 20 Laienhelfer sind sieben Tage die Woche rund um die Uhr im Einsatz, um Kollegen beizustehen, die im Rahmen ihres Dienstes einen Unfall oder ein Suizid hatten. Die Kollegen übernehmen die psychologische Erstbetreuung der betroffenen Fahrer. Ziel ist es, dass sie ihren Dienst wieder aufnehmen können. 60 Prozent der Fahrer nehmen das Angebot von Sozius in Anspruch, sagt Kiss. Im deutschsprachigen Raum ist so eine hausinterne Kriseninterventionseinheit einmalig.