Schuldloses Unglück?

Ein prominenter Sportler und Polizist auf seinem nächtlichen Heimweg. Ein Schüler, der ums Leben kommt. Und Ermittlungen, die versanden, noch ehe sie richtig anlaufen: das Todesrätsel von der B 320.

von Chronik - Schuldloses Unglück? © Bild: News Ricardo Herrgott

In seiner Verzweiflung setzt sich Michael St. an seinen Laptop, um an jenen Mann zu schreiben, dessen Auto seinen Sohn Raphael in einer klaren, frostigen Samstagnacht, exakt 52 Minuten nach Mitternacht, seitlich erfasste, in die Luft schleuderte und tödlich verletzte. "Verzeihen Sie, dass ich meine Worte mittels Computer geschrieben habe", tippt der trauernde Vater, "aber derzeit bin ich nicht in der Lage, meine Worte ohne Tränen und ohne Zittern zu Papier zu bringen." Und dann: "Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten ihn zu Lebzeiten gekannt. Auch Sie würden sich fragen: Warum er? Warum?"

Das Mail des Vaters datiert vom 23. Februar 2017, der Tod seines Sohnes liegt mittlerweile fast genau ein Jahr zurück. Doch eine schlüssige Antwort auf das Warum hat Michael St. bis heute nicht. Zu viele Ungereimtheiten, meint er, haben sich während der Ermittlungen zum Unfallhergang ergeben. Zu rasch, zu überhastet wurde das Verfahren gegen den Unfalllenker im vergangenen Herbst eingestellt, meint der Anwalt von St., zu viele gravierende Lücken seien augenscheinlich.

Der Mann, dessen Auto den 17-jährigen Raphael tötete, ist heute 47 Jahre alt und selbst Polizist. Als ehemaliger Spitzenwintersportler und Olympia-Athlet ist er noch heute, zumindest auf regionaler Ebene, ein Prominenter. Der Mann, dessen Auto Raphael tötete, ist niemals vor Gericht gestanden. Und das ist, da sind sich Rechtsexperten einig, vor dem Hintergrund eines tödlichen Verkehrsunfalles zumindest sehr, sehr ungewöhnlich.

Das Recht auf Wahrheit

"Dabei geht es meiner Frau und mir ja gar nicht um Genugtuung oder darum, jemandem die alleinige Schuld an Raphaels Tod umzuhängen", sagt Michael P., und die Augen des stämmigen Mannes füllen sich mit Tränen. Immerhin, das ergab die Obduktion, war Raphael stark alkoholisiert. Damit, dass sein Sohn Pech gehabt habe, könne und müsse er sich wohl irgendwann einmal abfinden. Der Veterinärmediziner ist selbst bis zu 50.000 Kilometer pro Jahr mit dem Auto unterwegs und weiß, wie schnell es dabei zu Unaufmerksamkeiten kommt. Zufall, Schicksal, Verhängnis, so nennt er das. Aber dabei, dass Raphael ausschließlich und ganz alleine selbst an seinem Unglück schuld sein soll, dabei könne er es doch nicht bewenden lassen. "Haben wir als Eltern denn nicht das Recht auf die ganze Wahrheit?"

Die Spurensuche nach der Wahrheit, sie beginnt in der Nacht vom 11. zum 12. Februar 2017 - sie beginnt in den letzten Stunden von Raphaels Leben.

Der BORG-Schüler, der aus einer kleinen Salzburger Landgemeinde in unmittelbarer Nähe zur steirischen Grenze stammt, ist an diesem Abend mit vier Burschen und zwei Mädchen aus seiner Schule in Schladming unterwegs. Am Tag zuvor waren in der 7b-Klasse die Semesterzeugnisse verteilt worden, Raphael hat in allen Fächern positiv abgeschnitten, in Englisch, Latein und Mathematik mit Genügend, der Rest der Noten sind Einser, Zweier und Dreier.

Zunächst treffen sich die jungen Leute daheim bei ihrem Mathematiklehrer, um kurz auf das erfolgreiche Halbjahr anzustoßen. "Ich habe ihn stets als sehr höflichen und zuvorkommenden Menschen erlebt", sollte der Pädagoge etwa eine Woche später ins Kondolenzbuch schreiben. Dann ziehen die Kids in die Schladminger Diskothek Hohenhaus-Tenne weiter. Es muss etwa Mitternacht sein, als Raphael einen seiner Mitschüler hinaus auf den Parkplatz begleitet. Zu viel Alkohol, dem Burschen ist schlecht. Raphael wartet, bis der Klassenkollege von seinen Eltern abgeholt wird. Dann macht er sich wohl auf den Weg. Zu Fuß. Hinaus aus dem Ortszentrum von Schladming, vorbei am Schild, das Fußgängern den Zutritt untersagt, hinauf auf die Auffahrtsrampe zur B 320, der Ennstal Bundesstraße.

Ende eines langen Tages

Zu dieser Zeit hat Polizist Manfred K. (Name geändert) bereits zwölf Stunden Außendienst hinter sich. Es ist ein turbulenter Samstagabend, gegen Ende seiner Schicht muss K. mit seinen Kollegen noch einmal ausrücken, um eine Rauferei zu schlichten. K. ist seit fast 30 Jahren Polizist, seit 20 Jahren arbeitet er auf demselben obersteirischen Posten. Gegen 21.30 Uhr macht sich K., so sagt er, auf den Weg nach Hause, danach fährt er noch ins öffentliche Schladminger Hallenbad. Um diese Zeit sind die Zugänge zu den drei Schwimmbahnen für normale Gäste längst schon geschlossen, doch der Polizist, der immer noch regelmäßig anspruchsvolle sportliche Wettkämpfe bestreitet, hat seinen persönlichen Schlüssel. Gegen 0.40 Uhr fährt er noch einmal kurz zurück auf seine Dienststelle, um seinen Rucksack zu holen. Dann macht er sich mit seinem dunklen SUV auf den Heimweg. Hinauf auf die Auffahrtsrampe zur B 320, der Ennstal Bundesstraße.

Es passiert in einer langgezogenen Linkskurve: K. ist, blinkend und kurz nach links blickend, dabei, die Beschleunigungsspur zu verlassen, sich von rechts kommend in die Hauptfahrbahn einzureihen. "Plötzlich habe ich in Bruchteilen von Sekunden vor meinem Pkw einen Schatten wahrgenommen", gibt er später zu Protokoll. "Dann habe ich zwei dumpfe Anprallgeräusche wahrgenommen." Der Gerichtsmediziner diagnostiziert wenige Stunden später ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Raphael hatte nicht die geringste Überlebenschance.

"Jedenfalls kann man davon ausgehen", hält der Sachverständige für Unfallrekonstruktion in seinem Gutachten nüchtern fest, "dass der Fußgänger mit den Beinen in die Höhe geschleudert wurde und er sich im Zuge des Anpralls des Kopfes gegen die Windschutzscheibe überschlagen hat." Und zwar mit solcher Vehemenz, dass ihm beide Schuhe von den Füßen gerissen werden, es einen der Sneakers sogar über eine Lärmschutzmauer schleudert.

Ein SMS ohne Antwort

Etwa zur selben Zeit legt sich Raphaels Mutter Gudrun daheim, 43 Kilometer von Schladming entfernt, schlafen. Bis dahin hat sie auf ein SMS ihres Sohnes gewartet. "Wir hatten ausgemacht, dass er mir etwa bis Mitternacht eine Nachricht schickt, wenn der Abend langweilig verläuft und ich ihn mit dem Auto abholen sollte." Doch da sie keine Mitteilung erhält, geht sie davon aus, dass Raphael Spaß habe, in der wummernden Disco das Handysignal überhört habe und wie vereinbart bei einem Freund übernachte. Für alle Fälle schickt sie ihm noch ein kurzes SMS: "Alles in Ordnung?"

Nichts, gar nichts ist in Ordnung, wenn ein ganz normaler Teenager voller Pläne und Hoffnungen von einer Sekunde auf die andere sein Leben verliert. Manfred K. bleibt unverletzt, erleidet einen Schock, wird von seinen Kollegen im Rettungswagen ins nächstgelegene Spital gebracht. "Ich konnte vom Auto aus noch beobachten, wie der Notarzt sich um den Burschen kümmerte und wie dieser dann mit einer Folie zugedeckt wurde", schildert er bei seiner Einvernahme.

Nichts, gar nichts ist in Ordnung. Raphael liebte Skateboards der Marke Titus, Songs der Metalband Linkin Park. Und er liebte das Fotografieren, hatte seine Kamera immer und überall dabei und wollte seine Leidenschaft nach der Matura vielleicht sogar zum Beruf machen. Keiner weiß, was ihn auf die Auffahrtsrampe zur B 320 treibt. Die Letzte aus der Familie, die ihn lebend sieht, ist seine ältere Schwester Sarah. Ihr gegenüber betont er mehrmals, wie schön der Mond an diesem Abend sei und dass er ihn unbedingt fotografieren müsse, erzählt Vater Michael. "Vielleicht ist er deswegen raus auf die offene Straße."

"Bitte verstehen Sie auch meine Situation und geben Sie mir noch ein wenig Zeit", schreibt Unfalllenker K. knapp zwei Wochen nach dem letalen Crash an die Eltern in einem kurzen Mail. Und: "Für mich ist in dieser Nacht eine Welt zusammengebrochen." Michael und Gudrun St. hatten ihn um ein persönliches Treffen gebeten -doch seither haben sie nie mehr etwas von ihm gehört.

Finsternis bei Vollmond

Nichts, gar nichts ist in Ordnung - denn auch die Ermittlungen, die von Beamten aufgenommen werden, die gerade einmal sieben Kilometer von K.s Dienststelle stationiert sind, werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.

Warum, fragt sich Rechtsanwalt Michael Kropiunig, der Raphaels Eltern vertritt, wurde der Todeslenker erst zwei Tage nach dem Unfall für gerade eine Stunde einvernommen? "Hier geht es immerhin um den Verdacht der fahrlässigen Tötung -und das ist die einzige Beschuldigteneinvernahme, die sich im gesamten Akt findet."

Welche Lichtverhältnisse herrschten tatsächlich zur Unfallzeit? "Es war komplett finster", sagt K. in seiner Einvernahme. Doch Kropiunig holte bei der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik eine schriftliche Expertise zur Unfallnacht ein. "Zum Unfallzeitpunkt wies der Mond eine Phase von 99 Prozent auf, am Tag davor war Vollmond. Die Sichtverhältnisse können aufgrund der Mondphase und der Witterungsverhältnisse im Vergleich zu Neumond und/oder schlechtem Wetter als außerordentlich gut beschrieben werden, selbst ein Schattenwurf ist bei diesen Verhältnissen möglich."

War das Auto von K. ordnungsgemäß beleuchtet, welches Licht hatte er eingeschaltet? "Das Abblendlicht", erklärt er selbst in seiner Einvernahme. "Das lässt sich nicht mehr objektivieren", heißt es im von der Staatsanwaltschaft eingeholten Gutachten zur Unfallrekonstruktion. Wenige Zeilen später aber steht: "Zumindest bei der für K. günstigsten Variante folgt, dass er keine Möglichkeit gehabt hat, den Fußgänger rechtzeitig zu erkennen." In einem Parallelgutachten eines weiteren gerichtlich zertifizierten Sachverständigen, der im Auftrag von Raphaels Eltern tätig war, heißt es jedoch: "Fahren auf Sicht ist in Zweifel zu ziehen. Dies wäre durch einen Nachtortsaugenschein zu objektivieren." Und weiter: "Da das Leuchtmittel im Zuge des Ermittlungsverfahrens nicht untersucht wurde, lässt sich keine objektive Aussage über die am Beschuldigtenfahrzeug verwendete Beleuchtung tätigen. Bei der ( ) eingeschätzten Sichtweite von zumindest 60 Metern an der Unfallstelle wäre es möglich gewesen ( ), das Opfer zu erkennen, was ebenso wiederum durch einen Nachtortsaugenschein zu verifizieren wäre." Anwalt Kropiunig: "Für die Verschuldensfrage ist die Art der Beleuchtung absolut relevant."

War K. zum Zeitpunkt des Unfalls zumindest leicht alkoholisiert? "Unwahrscheinlich, aber nicht völlig auszuschließen", behauptet Anwalt Kropiunig. Gemäß einem Amtsvermerk der Staatsanwaltschaft sei der Beschuldigte "unverzüglich" einem Alkotest zugeführt worden. Dieser Amtsvermerk basiert auf einem um 2.30 Uhr morgens geführten Telefonat zwischen der Staatsanwaltschaft und jener Polizeiinspektion, auf der K. seit zwei Jahrzehnten seinen Dienst versieht. Laut Alkomatmessstreifen ergibt sich, dass die -negative -Messung aber erst um drei Uhr früh durchgeführt wurde. Kropiunig: "In der Regel wird bei einem Verkehrsunfall mit Personenschaden beim Beschuldigten gleich zu Beginn der Amtshandlung ein Alkotest durchgeführt."

Wurden im Zuge der Ermittlungen voreilige Schlüsse gezogen? "Der Unfallhergang sei für ihn geklärt", schreibt die Staatsanwaltschaft in einem Aktenvermerk vom 14. Februar 2017 in Bezug auf ihren Sachverständigen -und das, obwohl das entsprechende Gutachten erst am 13. März, also einen Monat später, ausgefertigt wird. "Trotz all dieser offenen Fragen hat die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren gegen K. eingestellt und sich gegen unseren Fortsetzungsantrag ausgesprochen", resümiert Anwalt Kropiunig.

"Da der Sachverständige sämtliche Fragen schlüssig beantworten konnte, gab es keinerlei Grund, an der Richtigkeit des Gutachtens zu zweifeln", erklärt man seitens der zuständigen Staatsanwaltschaft. "Nun ist das Landesgericht zur Entscheidung über den Fortführungsantrag am Zug." Manfred K. selbst ist am Telefon äußerst kurz angebunden: "Seien Sie mir nicht böse, wenn ich überhaupt nichts dazu sage, das Ganze ist eine Hetze gegen mich."

Die letzte Fahrt

Raphaels Jugendzimmer, daheim im Haus seiner Eltern -es sieht so aus, als hätte er es gerade erst verlassen. Eine weiße Magnetwand, an der die Versatzstücke eines jungen Lebens fixiert sind: ein Boardingpass der Linie Westjet, mit der Raphael und seine Klasse vor nunmehr zwei Jahren im Rahmen einer Nordamerika-Reise von Toronto nach Boston flogen; ein Notizzettel mit Lateinvokabeln - die durchgestrichenen hatte er bereits gelernt, die anderen wollte er noch wiederholen; eine Ansichtskarte mit Urlaubsgrüßen aus Kroatien; ein Klassenfoto der 7b. Darunter, am Schreibtisch, liegt eine CD der deutschen Folkband Santiano. "Die letzte Fahrt" heißt der Song, den Raphael zuletzt am liebsten hörte. "Der Nordstern ruft den treuen Freund herbei, er ruft dich heim, die letzte Fahrt, hinein ins Licht." Das Lied wird auf Raphaels Beerdigung gespielt, seine Klassenkameraden tragen den Sarg.

"Ich hätte mir so gewünscht, von Ihnen zu hören", schreibt Michael St. bereits elf Tage nach dem Unfall an den Polizisten Manfred K., "ich wollte ja nur einige Fragen von Ihnen geklärt wissen." Von "innerer Zerrissenheit" zwischen dem "Versuch des Verzeihens" und "Zorn" schreibt er.

Neun Tage, nachdem das Verfahren gegen K. eingestellt wurde, erhalten Michael und Gudrun St. eine schriftliche Anfrage von dessen Anwalt. Ob nach dem Tod des Siebzehnjährigen ein Verlassenschaftsverfahren durchgeführt worden sei, möchte er wissen, und wenn ja, unter welcher Aktenzahl. "Die aktiven Ansprüche meiner Klientel aus diesem Verkehrsunfall belaufen sich insgesamt auf 6.993,29 Euro."

Der dunkle SUV, der Raphael erfasste, musste umfassend repariert werden. Die nächtliche Kollision auf der B 320, sie hat gravierende Spuren hinterlassen.

Der Beitrag erschien ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 7/2018).