Nach dem Freispruch
der Zusammenbruch

Ein Arzt soll seine Kinder psychisch gefoltert haben. Nach seinem Freispruch in erster Instanz wollte sich seine Tochter das Leben nehmen: "Damit man uns endlich glaubt".

von Chronik - Nach dem Freispruch
der Zusammenbruch © Bild: David Pesendorfer

Nach dem Aufwachen eine Tablette Temesta, die besitzt angstlösende Eigenschaften. Dann zwei halbe Pillen Sertralin, nachmittags noch einmal dieselbe Dosis: Der Wirkstoff wird zur Behandlung von Angststörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt. Abends dann, zum Einschlafen, noch eine Mirtabene-Pille: Sie soll helfen, besonders schwere Formen von Depression abzumildern.

Miriam, 23, ist dankbar für ihren pharmazeutischen Cocktail und die Idee von Gleichgültigkeit, die er suggeriert. "Danke der Nachfrage", sagt sie mit leiser, fast tonloser Stimme. Ja, es gehe ihr wieder etwas besser. Den Umständen entsprechend, wie man so schön sagt. "Denn hier drinnen fühle ich mich sicherer als draußen." Pünktlich um 21 Uhr werden die Eingangspforten verschlossen. "Draußen hätte ich ständig Angst, dass er sich an mir zu rächen versucht."

Hier -das ist die psychiatrische Abteilung eines steirischen Krankenhauses. Und er -das ist Miriams Vater, Vorname Eduard, angesehener Landarzt, Bruder eines einflussreichen Politikers. Am 29. September wird Eduard L. vor einem Grazer Gericht freigesprochen. "Ja, er ist psychisch auffällig", kommentiert der Richter zwar, und man frage sich schon, was denn in seinem Oberstübchen abgegangen sei. "Seine vier Kinder wurden dauerhaft traumatisiert", konstatiert der Staatsanwalt. Doch, so urteilt der Vorsitzende schließlich, psychische Auffälligkeiten seien das eine, Strafrecht sei das andere. "Ich habe keinen Anhaltspunkt dafür, dass die vorgeworfenen Handlungen in einer Intensität vorkamen, dass sie zu verurteilen sind."

Absolute Verzweiflung

Dann lässt er Eduard L. gehen. Und Miriam sinkt auf die Knie, zittert, bricht in Tränen aus. Unmittelbar nach dem Freispruch - der totale Zusammenbruch. "Ich dachte, jetzt ist alles vorbei", schildert Miriam. "Dieses Gefühl, dass man uns vielleicht nicht glaubt, dieses Gefühl hat in mir absolute Verzweiflung ausgelöst", sagt sie. Und: "Ich dachte mir, man würde uns Kindern wohl erst glauben, wenn sich eines von uns das Leben nimmt." Und: "Dieses Kind wollte unbedingt ich sein." Doch Miriams Freund reagiert rasch, bringt Miriam in die Klinik. Hier ist sie jetzt seit knapp drei Wochen. Freiwillig.

Miriams ältere Schwester Madlen, 28, sitzt an der Bettkante, nun beugt sie sich vor, umarmt Miriam. Beide weinen. Auch Josef, mit 18 Jahren das jüngste der Geschwister, ist gekommen. "Gemeinsam schaffen wir das", sagt Madlen. Und Miriam nickt stumm. Irgendwann will auch sie verarbeitet haben, was derzeit nur starke Pillen und Gesprächstherapie irgendwie erträglich machen. Irgendwann will sie über die Zeit hinweg sein, in der für sie und ihre Geschwister die Grenzen zwischen Vater und Peiniger verschwammen.

Waffe an der Schläfe

Die Staatsanwaltschaft legt ihm "das Verbrechen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer Personen" zur Last. In einer "Vielzahl von Angriffen" soll der honorige Doktor den eigenen Kindern laut Strafantrag "körperliche und seelische Qualen" zugefügt haben. Vier prall gefüllte Ringmappen umfasst mittlerweile der Strafakt, auch die Tagebuchaufzeichnungen von Madlen sind Teil des Konvoluts: "Der Papa und die Mama haben sich wieder einmal gestritten", notierte sie als Teenager das, was sie, Miriam und die anderen zwei Geschwister hinter der schmucken Fassaden ihres Elternhauses erlebten. "Irgendwann ist der Papa dann durchgedreht und über die Treppe raufgerannt. Ich bin ihm hinterhergelaufen, und als er oben ankam, hielt er sich eine Waffe an die Schläfe. Ich habe mich auf den Boden hingekniet, bitterlich geweint und geschrien:,Tu's nicht! Bitte Papa! Bitte tu's nicht!'" Und dann, ein paar Seiten weiter: "Ich fühle mich gefangen, der Papa droht mit Selbstmord, immer wieder Anspielungen, Drohungen, es ist Folterei. Ich versuche, für ihn, so gut ich kann, da zu sein, doch es ist anstrengend, meine Kraft geht mir aus. Es ist schwer zu atmen, meine Augen sind so schwer, sie wollen nur schlafen "

Entlarvendes Telefonat

Wie aus den Aufzeichnungen der Anklagebehörde ersichtlich ist, dürften die Suiziddrohungen des Vaters System gehabt haben: Einmal etwa hat ihn Miriam im Geräteschuppen mit einem Seil erwischt, das er sich um den Hals gezogen und bereits fest zugezogen habe. "Einmal bin ich sogar schon im Strick gehängt, dann ist aber die Schnur gerissen", erzählt der Vater im Zuge seiner Einvernahme. Und: "Diese Suizidversuche waren eigentlich mehr ein Hilfeschrei." Wirklich? In einem aufgezeichneten Telefonat, dessen Wortlaut dem Gerichtsakt beiliegt, weist der eifrige Kirchgänger jegliche ernsthafte Selbstmordabsicht brüsk zurück: "Ich bin doch nicht blöd, dass ich mich umbringe."

Das Polsterende von Miriams Spitalsbett ist hochgeklappt, Miriam lässt den Kopf auf das Kissen zurücksinken. Ihr Hals ist trocken, Madlen füllt die Plastiktasse der Schwester mit Früchtetee aus der Thermoskanne. War also alles nur sadistische Show, ein allumfassender Herrschaftsanspruch in der familiären Hermetik?

Eine ehemalige Patientin, mit welcher der Mediziner ein langjähriges Verhältnis hatte, sagt aus: "Er war fasziniert davon, über die Macht über Leben und Tod zu verfügen." Madlen versuchte als Teenager zweimal, sich das Leben zu nehmen, schluckte Unmengen an Tabletten aus der väterlichen Hausapotheke, in erster Linie die Beruhigungsmittel Gewacalm und Bromazepam. Der Vater, so der gravierendste Vorwurf, soll ihr bei vergleichsweise harmlosen Schmerzen auch mehrmals Morphiumpräparate verabreicht haben, woraus eine langjährige Abhängigkeit entstanden sei. "Er hat ihre Gesundheit fahrlässig beträchtlich geschädigt, indem er ihr über Monate hinweg unkontrolliert Medikamente, unter anderem starke Schlaf-und Schmerzmittel, zur Verfügung stellte, die bei ihr zu körperlichen Beschwerden und Abhängigkeitssymptomen führten", ist der Staatsanwalt überzeugt. Der Arzt stellt den Vorwurf massiv in Abrede, der Richter hat nur das Wort der vier Kinder, doch das ist ihm zu wenig.

"Meine Mutter hat mich oft gefragt, was der eigentliche Grund für meine Suizidversuche war", notierte Madlen in ihr Tagebuch. "Erst vor Kurzem konnte ich ihr eine Antwort geben: Es war mein eigener Vater, der mich psychisch kaputt gemacht hat."

Gibt es in dieser Kindheit denn nichts, woran sich die Geschwister gerne zurückerinnern? Nichts Rührendes, Nettes in Verbindung mit dem Mann, den sie heute nicht mehr "Vater" nennen wollen. Miriam denkt lange nach, schluckt, senkt wortlos den Kopf. "Nein, nichts", sagt Madlen.

Niedergespritzt

Nach außen hin verläuft die Karriere des Familienvaters imposant, bis zu 300 Patienten pro Tag fertigt der Landarzt laut Eigenangaben ab. Doch hinter den Kulissen dürfte er längst zum besten Kunden der eigenen Hausapotheke geworden sein. "Ich nehme in erster Linie Diazepam, also eine Tablette, damit ich überhaupt erst zum Schlafen komme", vertraut er den Ermittlern an. Weiters schlucke er in der Früh fünfmal pro Woche das Aufputschmittel Ephedrin, um wieder wach zu sein. "Ich hatte eine Phase, wo ich mich mit Medikamenten niedergespritzt habe. Damals bin ich einmal sogar nackt durchs Haus gelaufen, das habe ich aber nicht mitbekommen. Es kann auch sein, dass das öfter vorgekommen ist, meine Kinder halten mir das heute noch vor."

Was ihm die Kinder - wie im Zuge der Zeugeneinvernahmen penibel dokumentiert wurde -noch vorhalten: "Er hat sich auch immer wieder selbst verstümmelt. Also er hat sich selbst gebrannt oder einfach aufgeschnitten", schildert Madlen. "Ich hatte immer das Gefühl, dass er will, das wir wissen, dass er sich wieder verletzt hat. So hat man öfter einen Blutfleck an der Kleidung gesehen, also richtig, dass man gemerkt hat, dass er darunter frisch blutet."

Einmal dürfte es dem strauchelnden Gott in Weiß so schlecht gegangen sein, dass er den eigenen Sohn, Josef, damals gerade einmal elf, dazu angestiftet hat, ihm intravenös ein Betäubungsmittel zu spritzen. Das gibt der Mediziner im Prozess auch unumwunden zu, verweist aber auf die Folgen einer schweren Sportverletzung, die ihm unerträgliche Schmerzen verursacht habe. Und Miriam erinnert sich, dass sie einmal von ihrem Vater zur Hilfe gerufen worden sei, nachdem sich dieser einen Schraubenzieher bis zum Griff in den Bauch gerammt habe. "Er hat das Werkzeug im Bauch sogar fotografiert", erzählt sie. Die Bilder liegen dem Gerichtsakt bei. "Erst danach habe ich ihm das Werkzeug herausgezogen."

Akzentuierte Persönlichkeit

Die Gerichtsgutachterin sollte bei L. eine "Persönlichkeitsakzentuierung" feststellen. "Persönlichkeitsakzentuierung - viel zynischer geht's wohl nicht", sagt Madlen. Gewaltschutzexperten sprechen von einem "Skandal", der Staatsanwalt beruft gegen den Freispruch. Miriam zieht sich die weiße Spitalsdecke bis zum Hals empor. Durch das halb geöffnete Fenster scheint milde die Herbstsonne. Doch in Miriam ist dieses Gefühl von Kälte, das nur die Tabletten ein wenig mildern.