Die unerhörte Generation

Die Bedeutung von öffentlichem Raum hat in der Pandemie zugenommen. Jetzt ist das Leben in der Stadt zurück und muss neu ausverhandelt werden. Eine Expedition in zwei Konfliktfelder

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Chronik - Die unerhörte Generation

Auf dem Karlsplatz herrscht gespenstische Stimmung. Ein paar Gruppen Jugendlicher sitzen rund um den Teich, andere im Halbschatten des Kirchenportals. Davor stehen unübersehbar zwei Polizeiautos. Die riesigen, grellbunten Mülltonnen wirken wie eine deplatzierte Kunstinstallation. Gemütlich ist anders. Aber immerhin ist es einigermaßen still an diesem Samstag, eine Woche nach den Ausschreitungen, bei denen es zu Zusammenstößen zwischen Polizisten und feiernden Jugendlichen kam. Seitdem wird heftig diskutiert. "Es sind 14-, 15-jährige Kinder, die sich hier volllaufen lassen", erzählt Anthony Guedes, der gleich hinter der Karlskirche wohnt. "Je betrunkener, desto lauter sind sie natürlich. Und am nächsten Morgen liegen überall Bierdosen, Glasscherben und Weinflaschen herum. Ich will die Jugend nicht verteufeln, ich verstehe schon, dass sie sich austoben wollen. Aber es muss Grenzen geben. Wir können keine Nacht mehr schlafen."

© Ricardo Herrgott/News Bundesjugendvertreterin Fiona Herzog vor der Karlskirche, wo es zu den Zusammenstößen kam. Sie fordert Solidarität mit den Jungen ein

So klingt die eine Seite. Die andere äußert Verständnis für eine Generation, die im letzten Jahr besonders unter den Pandemieverhältnissen litt. Fiona Herzog war auch schon ein paar Mal am Karlsplatz feiern, wenn auch nicht in der betreffenden Nacht. Die Vorsitzende der Bundesjugendvertretung sagt: "Man hat ein Jahr lang eingefordert, dass junge Leute zu Hause bleiben sollen, und sie sind auch zu Hause geblieben. Aber die Solidarität, die man von ihnen eingefordert hat, muss man jetzt auch ein Stück weit zurückgeben und schauen, dass ihnen öffentlicher Raum zur Verfügung gestellt wird."

No Future

Die Karlsplatz-Problematik gerät zur Metapher für das Dilemma einer Generation, die wenig Gehör findet. Universitäten und Nachtgastronomie sind noch geschlossen, beim Impfen kommen die Jungen als Letzte dran. Die Zukunft, erklärt Herzog die Befindlichkeit der Teens und Twens, "ist für uns etwas Unsicheres. Einen sicheren Job, in dem wir 30 Jahre arbeiten, werden wir wahrscheinlich nie haben. Die Klimakrise macht ganz vielen jungen Leuten Sorgen."

Und die Diskussion über feiernde Jugendliche verweist auf ein weiteres Problem: In der Pandemie wurde Wien zur Geisterstadt. Eine Metropole im Energiesparmodus. Wenig Autos auf den Straßen, kaum Passanten auf den Gehsteigen. Jetzt kehrt das Leben zurück und alte Konflikte brechen auf. Wer darf was? Wem kommt wie viel Platz zu? Muss das Zusammenleben der zwei Millionen Hauptstadtbewohner neu organisiert werden?

Alternative Heldenplatz

Seit letztem Wochenende versuchen vierköpfige "Awareness-Teams", Konflikten am Karlsplatz und am Donaukanal, der zweiten notorischen Partyzone Wiens, entgegenzuwirken. Ergebnis eines runden Tisches, den Neos-Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr letzte Woche einberufen hatte. "Das ist sicher ein ganz neues Konzept im öffentlichen Raum, man muss es ausprobieren", kommentiert Fiona Herzog diese Maßnahme. Karlsplatz-Anrainer Anthony Guedes kostet sie nur ein müdes Lachen. Das Wochenende nach der großen Eskalation verlief für ihn durchwachsen: Freitagnacht war wieder "grauslich, volle Pulle bis fünf in der Früh", am Samstag sei es zwar voll, durch die Präsenz der Polizei aber "komplett leise" gewesen. Er schlägt vor, die Feierlichkeiten auf den unbewohnten Heldenplatz zu verlegen und dort für entsprechende Infrastruktur zu sorgen. Dann würden wenigstens die dortigen Anrainer, Bundeskanzler, Bundespräsident und Parlamentsabgeordnete, "merken, wie das ist". Dass die öffentlichen Partys aufhören, sobald die Nachtgastronomie wieder aufsperrt, glaube er nicht, meint Guedes: "Warum sollten sie? Es ist ja viel billiger, im Supermarkt ein Bier zu kaufen und sich in den Park zu setzen."

Trinkwasser und WCs

Jugendliche nützen den öffentlichen Raum intensiver und anders als andere Bevölkerungsgruppen, sagt Thomas Madreiter, Planungsdirektor der Stadt Wien, "insofern wundert es mich überhaupt nicht, dass wir das Thema jetzt am Tisch haben".

Und junge Leute hätten "ganz klar adressierte Grundbedürfnisse an den öffentlichen Raum. Sie wollen Trinkwasser haben, sie wollen verwendbare, saubere öffentliche WCs haben und Verweilorte, wo man sein kann und darf." Ziel der Stadtplanung sei es, fußend auf diesen Informationen "die gesamte Bevölkerung, aber insbesondere auch Jugendliche dabei zu unterstützen, den öffentlichen Raum im Sinne ihrer Bedürfnisse optimal nutzen zu können und so etwa einer völlig deplatzierten Stigmatisierung von Jugendlichen entgegenzuwirken.." Nachsatz: "Der Großteil der Kinder und Jugendlichen macht bei der Nutzung des öffentlichen Raums keine Probleme. Insofern hat mich die völlig zynische Darstellung der Jugendlichen als 'Generation Dosenbier' wirklich geärgert."

Während der Coronapandemie bekam der bis dahin wenig beachtete öffentliche Raum besondere Aufmerksamkeit. Als Tabuzone und Sehnsuchtsort zugleich. Für viele Stadtbewohner war er plötzlich die einzige Möglichkeit, sich die Beine zu vertreten oder ein bisschen Grün zu sehen.

Dieser neue Blick, meint Stadtplaner Madreiter, werde bleiben. "Der Wert des öffentlichen Raums wird in der Gesellschaft zunehmend höher eingeschätzt. Nicht nur wegen der Pandemie, dieser Prozess läuft schon länger. Aber Krisen sind eben Beschleuniger für gesellschaftliche Veränderungen. Während es vor Jahrzehnten normal und akzeptiert war, dass öffentlicher Raum Straße heißt und zu 70 Prozent für fahrende oder parkende Autos zur Verfügung steht, wünschen sich inzwischen erhebliche Teile der Bevölkerung, dass es, ergänzend zu Bereichen mit vorrangiger Verkehrsfunktion, stärker beruhigte Bereiche im öffentlichen Raum gibt."

© Ricardo Herrgott/News Der Praterstern ist von vier bis sechs Fahrspuren für Autos umgeben. Die Initiative "Platz für Wien", der Ulrich Leth angehört, will mehr Flächengerechtigkeit

Gscher im Verkehr

Einer dieser Bevölkerungsteile ist Ulrich Leth. Der Verkehrsplaner engagiert sich in der Initiative "Platz für Wien". Ein weiterer berüchtigter Ort in der Hauptstadt illustriert, worum es der geht: Den Praterstern umgeben vier bis sechs Fahrspuren, ein ständiger dröhnender Autostrom. Sobald eine Fußgängerampel ihn kurz unterbricht, quellen Trauben von Fußgängern und Radfahrern über den Zebrastreifen gen Prater. Hier äußert sich der großstädtische Interessenkonflikt zwischen motorisiertem und nicht motorisiertem Verkehr in reinster, anschaulicher Form. "Platz für Wien" fordert mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer.

© wienschauen.at Eine typische Wiener Straße, interpretiert von Blogger Georg Scherer: mehr als 70 Prozent Raum für Autos, knapp 30 für Fußgänger. Bäume und Radfahrer sind nicht vorgesehen

Soziale Fragen

"In den letzten 60,70 Jahren wurde autogerecht umgestaltet und geplant, und entsprechend sieht die Flächenverteilung momentan aus", kritisiert Leth. "Es gibt keine Flächengerechtigkeit. In der Bevölkerung vollzieht sich langsam ein Paradigmenwechsel, aber es fehlen noch die Rahmenbedingungen der Politik."

Auch hier geht es um die Jungen und ihre Bedürfnisse. Viele von ihnen haben keinen Führerschein. Nicht nur in Hinblick auf das unterschiedliche Mobilitätsverhalten von Jüngeren und Älteren, ganz generell sei die Verkehrsthematik eine soziale Frage, sagt Leth: "Es gibt viele wirtschaftlich schwächere Haushalte, die sich kein Auto leisten können, aber an Hauptverkehrsstraßen wohnen müssen, weil dort die Mieten günstig sind."

Auch Leth meint, dass das durch die Pandemie geschärfte Bewusstsein für den öffentlichen Raum und dessen stärkere Nutzung bleiben werden. "Gerade vor dem Hintergrund des Klimawandels. In wärmeren Ländern ist es gang und gäbe, dass man sich länger im öffentlichen Raum aufhält. Und es haben sich in letzter Zeit mehr Leute Gedanken darüber gemacht, wie der öffentliche Raum verteilt ist, und sich zivilgesellschaftlich engagiert."

Neuer Blickwinkel

Georg Scherer startete 2018 seinen Blog WienSchauen.at, eigentlich mit einem Fokus auf Altstadterhaltung. Mittlerweile beschäftigt er sich auch mit dem Thema öffentlicher Raum und stellt seit Ende Mai jeden Tag einen "Wiener Querschnitt" online. Fotos, die auf einen Blick zeigen, wie der öffentliche Raum in den meisten Wiener Straßen und Gassen aufgeteilt ist. Eine neue, überraschende Perspektive.

Seitdem die Grünen im Herbst 2020 aus der Wiener Stadtregierung flogen, geht es vielen mit der Umgestaltung zu langsam. Stadtplanungsdirektor Thomas Madreiter mahnt zu Geduld. "Wien hat seine sehr hohe Lebensqualität nicht zuletzt deshalb, weil wir versuchen, die Dinge sachlich, fundiert und schlau zu managen. Wir setzen uns derzeit intensiv mit der unterschiedlichen Funktion von öffentlichen Räumen auseinander, damit wir ein gutes Bild haben, welche öffentlichen Räume in Zukunft auch weiterhin Straßen sein werden und welche geeignet sind, in Richtung Begegnungszonen, begrünte Zonen und kühle Zonen weiterentwickelt zu werden."

Die stille Stadt

In ihrem Buch "Stille Stadt" dokumentieren der Stadtforscher Peter Payer und der Fotograf Christopher Mavric das Jahr, in dem in Wien phasenweise alles stillstand. Der menschenleere U-Bahnsteig unter dem Karlsplatz. Der verwaiste, weil abgesperrte Augarten. Sommerbäder, die ohne Wasser und ohne Badende seltsam nackt wirken. Kaum befahrene Autobahnen. Payer erinnert sich: "Mich hat überrascht, dass die Stadt sich so abrupt verändern kann. Das war fast wie Zauberei. Ein magischer Wechsel, den niemand für möglich gehalten hätte. Staunen-und furchterregend gleichzeitig, schön und schiach, auf Wienerisch gesagt." Dieses "Hin und Her aus Leere und Fülle", meint der Historiker, habe den Fokus auf die wichtige Frage gelenkt, was mit dem Raum außerhalb unserer Wohngebäude passiert. "Das Raumbewusstsein ist in dieser Zeit extrem geschärft worden. Welche Räume haben wir, wie groß oder klein sind sie, wie sind sie ausgestattet und wie verändern sie sich?" Das, glaubt Payer, werde bleiben, auch wenn die Bilder vom Frühling 2020, in dem der Puls der Stadt fast stehen blieb, inzwischen kaum mehr sind als vage Erinnerungen an einen surrealen Traum.

Einzelne Konflikte, die sich jetzt, in der Spätphase der Pandemie, entwickeln, lösen sich dagegen rasch wieder auf, meint Payer. "Wenn die gewohnte Raumaufteilung in Frage gestellt wird, dann gibt es Aufregung und Nutzungskonflikte. Das ist ganz normal und pendelt sich meist rasch wieder ein." Für die postpandemischen Bedürfnisse der Jugend erbittet Payer zumindest temporäres Verständnis: "Eine gewisse Toleranz für die Wiederaufnahme des Lebens ist jetzt sicher nötig."

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 24/21

Kommentare

Der Großteil der Jugend kann nur Lärm machen, Blödheiten im Kopf und saufen. Ausfällig werden , Dreck hinterlassen, Zerstörungswut usw. Aus Langeweile und keine sinnvollen Interessen!

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