Österreichs
Most Wanted

Sie sind Mörder, Diebe oder Vergewaltiger und auf der Flucht vor dem Gesetz. Doch wer sind die meistgesuchten Straftäter Österreichs? Was haben sie verbrochen und wie konnten sie fliehen? Eine Spurensuche mit jenen, die die Hoffnung nicht aufgeben, sie auch Jahre später noch zu finden

von
Chronik - Österreichs
Most Wanted

Es ist eine laue Frühlingsnacht in Wien-Aspern. Der Sommer ist zum Greifen nahe, die Grillen zirpen, die frischen Blätter an Birken und Pappeln rascheln im Wind. Das Licht einer Straßenlaterne flackert, der Strom zischt ungleichmäßig durch die Leitung. Ansonsten ist es still. Zu still.

In jener Nacht des 21. Mai 2015 wird ein Pensionistenpaar im Garten seines Ein­familienhauses im 22. Bezirk tot aufgefunden – ermordet durch zahlreiche Schläge ins Gesicht und Messerstiche in den Halsbereich. Im Haus finden Ermittler Spuren des Mörders: Nach der Tat hat er etwas gegessen, sich und seine Kleidung gewaschen, die Wohnung durchwühlt und sich in aller Ruhe Bilder der Opfer angesehen. Gekannt hat er sie nicht. Wer kann ein friedliches ­altes Ehepaar nur so brutal hinrichten? Und warum?

DNA-Spuren führen die Mordkommission, zum 29-jährigen Polen Dariusz Pawel K., einem „reisenden Serienmörder“, der bereits im schwedischen Göteborg einen Mord begangen haben soll. Doch zu dem Zeitpunkt ist K. bereits auf der Flucht Richtung Tschechien – und damit ein Fall für Helmut Reinmüller.

Einsatzgebiet: die ganze Welt

Wenn er diese blutigen Taten schildert, verzieht Reinmüller keine Miene. Er spricht ruhig und nüchtern und wirkt fast wie ein Großvater, der eine seiner Geschichten erzählt – nur dass seine weder frei erfunden noch für Kinderohren geeignet sind. Reinmüller ist Zielfahnder am Bundeskriminalamt. Als solcher jagt er Verbrecher, die auf der Flucht vor dem Gesetz sind: Austria’s Most Wanted. Dafür hat Reinmüller eine harte Schule hinter sich gebracht. Neben der Ausbildung zum ­Kriminalbeamten sind die Fahnder meist durchtrainierte Kampfsportler oder ehemalige Mitarbeiter der Polzeisondertruppe Wega. „Im Gegensatz zu anderen Fahndern haben wir die ganze Welt als Einsatzgebiet“, sagt Reinmüller. Das Reisen und die Zeitverschiebung seien anstrengend, die Ermittlungsarbeit mühsam und die Gefahr bei Einsätzen im Ausland ungleich höher. „Ich muss ganz ehrlich sagen, ich war in Caracas, in Venezuela, einer Stadt mit rund 60 Morden am Tag“, erzählt er, „die Kollegen waren bis auf die Zähne ­bewaffnet, und man merkt überall, dass Korruption im Land ein großes Thema ist.“

Doch die Einsätze lohnen sich. Vor 15 Jahren wurde die Enfast gegründet: Die europäische Spezialeinheit für die aktive Suche nach Flüchtigen vernetzt 29 Länder. Allein die österreichischen Zielfahnder konnten in diesem Zeitraum 223 Personen weltweit aufspüren. „Länder am Meer, mit Strand und Sonne sind für Flüchtige sehr beliebte Ziele“, sagt Reinmüller und zeigt auf eine Weltkarte mit roten Punkten, die von erfolgreichen Festnahmen zeugen (siehe Grafik S. 34). Südamerika liege bei den „Zielpersonen“, wie sie von den Fahndern genannt werden, neben Florida und Südostasien besonders im Trend.

© Bundeskriminalamt Most Wanted #1: Tibor Foco

Langzeitprojekt Tibor Foco

Trotz der Erfolge ist die Liste der Austria’s Most Wanted nie leer. „Die meisten sind sogenannte Langzeitfälle“, sagt Rein­müller, „selten können wir einen Fall in kurzer Zeit abschließen.“ So gibt es auch Ermittlungen, die so manche Fahnderkarriere überdauern. Und solche, die wohl nie gelöst werden.

Der Fall des verurteilten Mörders Tibor Foco legt eine solche Annahme nahe. Aber die Zielfahnder geben die Hoffnung nicht auf: „Der Fall Foco ist unser ältester Akt. Wir arbeiten seit 2003 nach wie vor sehr aktiv daran“, sagt Reinmüller, „und es ist wirklich noch alles offen.“ Nachdem er im Jahr 1986 zum Mord an der Prostituierten Elfriede H. zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, gelang es Foco 1995, bei einem Haftausgang in Linz zu fliehen – und seither unterzutauchen. Die Fahndungsfotos sind längst nicht mehr aktuell. Mittler­weile wird versucht, Foco mit Phantombildern, die seinem derzeitigen Alter gerecht werden sollen, öffentlich bekannt zu machen. Wie er tatsächlich 23 Jahre nach seiner Flucht aussieht, weiß wohl niemand.

Dabei hat das Gesicht für unser Gehirn den höchsten Erkennungswert und ist deshalb gerade für die öffentliche Fahndung ausschlaggebend, sagt Helmut Reinmüller: „Viele verwenden auf der Flucht falsche Dokumente und können so bei einer Kontrolle oft unerkannt bleiben.“ Andererseits sei es aber immer wieder erstaunlich, wie wenig ein Gesicht wirklich darüber verrät, was auf den zugehörigen Schultern lastet: „Es ist unglaublich, man kann visuell niemanden einschätzen“, sagt Reinmüller aus Erfahrung. Gerade deshalb sei es wichtig, die Öffentlichkeit mit Fotos vor potenziell gefährlichen Menschen zu warnen.

© Bundeskriminalamt Most Wanted #2: Friedrich Felzmann

Wie im Wilden Westen

Dass die Zivilgesellschaft aber umgekehrt auch eine wichtige Rolle beim Aufspüren der Verbrecher übernehmen kann, hat in Western-Filmen Berühmtheit erlangt. Mit dem Slogan „Wanted dead or alive“ werden dort auf Plakaten die Ganoven gejagt. Im Österreich des 21. Jahrhunderts ist die ­Einbindung der Öffentlichkeit aber in den meisten Fällen die letzte Option, sagt ­Helmut Reinmüller. Nicht nur um Selbstjustiz vorzubeugen, sondern auch weil nicht jeder Täter gleich reagiert, weiß ­Kriminalpsychologe Wolfgang Marx: „Es kommt wirklich auf das Profil des Ein­zelnen an und hängt vom Delikt ab. Der eine wird vielleicht dazu bewegt, sich aufgrund des Drucks selbst zu stellen. Der andere hingegen fühlt sich in die Ecke gedrängt und es könnte zu einer Eskalation kommen.“

Im Wilden Westen nahm man darauf keine Rücksicht. Meist gab es sogar ein Kopfgeld oben drauf. In den USA ist das bis heute gang und gäbe, hierzulande allerdings eher die Ausnahme und nennt sich die sogenannte Auslobung. Darüber entscheidet das Bundeskriminalamt. „Unterschiedliche Kriterien“, so heißt es, würden in die Festsetzung des Betrages einfließen, „man orientiert sich dabei an anderen ­Ländern.“ Eine entscheidende Rolle spielt jedenfalls der Grad der öffentlichen Gefährdung.

Je nach Ausschreibung ist das Kopfgeld an bestimmte Bedingungen geknüpft. So werden im Normalfall nur Hinweise entlohnt, die tatsächlich zur Festnahme des Flüchtigen führen. Wenn es aber lediglich darum geht, einen Fall zu lösen, kann eine Belohnung sogar dann gelten, wenn ein Gesuchter nur mehr tot gefunden werden kann.

Eine Auslobung wurde für Hinweise über den Verbleib von Friedrich Felzmann ausgeschrieben. Die Nummer zwei der „most wanted“ Verbrecher Österreichs ist der Polizei 5.000 Euro wert. Der 67-Jährige soll am 29. Oktober vergangenen Jahres seine Nachbarn im steirischen Stiwoll erschossen und eine weitere Person lebensgefährlich verletzt haben (News hat berichtet, Nummer 44/2017).

Nach der vermeintlichen Tat ist es Felzmann gelungen, in einem nahe gelegenen Wald zu verschwinden. Selbst mithilfe ­eines speziellen Einsatzkommandos, Dutzender Polizisten, Spürhunde, Panzer­fahrzeuge und modernsten technischen Geräts konnte der Mann bis heute nicht gefunden werden. „Aufgrund der Tatdynamik ist es aus kriminalpsychologischer Sicht unwahrscheinlich, dass er eine komplexe Flucht geplant hat“, sagt Psychologe ­Wolfgang Marx. Daher erhärtet sich sowohl bei dem Kriminalpsychologen als auch bei den Fahndern zusehends ein ­Verdacht: „Er könnte sich im Wald das Leben genommen haben“, sagt Helmut Reinmüller, „aber bis wir das nicht mit Sicherheit wissen, wird nach Herrn Felzmann weiterhin international gesucht.“ Was das genau bedeutet, schildert Reinmüller nur knapp: „Das heißt, wir durchleuchten den Menschen mit allen Mitteln und Möglichkeiten, die uns das Gesetz bietet.“

© Bundeskriminalamt Most Wanted #3: Peter Seisenbacher

Die digitale Spur

Dazu zähle nicht nur klassische Polizei­arbeit wie das Durchforsten von Archiven und das Befragen von Bekannten und Verwandten, sondern auch die gründliche Spurensuche im Internet. Der digitale ­Fußabdruck, aber vor allem Aktivitäten in sozialen Medien liefern den Fahndern oft wichtige Hinweise, weil sie zum Beispiel Hobbys, zuletzt fotografierte Orte oder auffällige Kleidungsstücke sichtbar machen, „Dinge, die auch jeder andere im Netz abfragen kann“, meint Reinmüller.

Im Fall des „reisenden Serienmörders“ Dariusz Pawel K. führte unter anderem ein auf Facebook gepostetes Foto mit einem unverkennbaren Accessoire zu seiner Festnahme. Wie es den Beamten aber ­genau gelang, sich an die Fersen des Mörders zu heften und ihn schließlich am Bahnhof in Düsseldorf zu fassen, verrät Reinmüller dann doch nicht: „Es wäre ja kontraproduktiv, unsere flüchtigen Straf­täter darüber zu informieren“, sagt er. Nur so viel: Meist seien es Mobiltelefone, Überwachungskameras oder Ticketkäufe, die die Ermittler auf die Fährte bringen.

Neben Österreichs meistgesuchten Verbrechern ist Reinmüller auch an der Suche der Most Wanted anderer Nationen beteiligt. So gelang es dem österreichischen Team im vergangenen Jahr beispielsweise, einen 70-fachen Mörder aus Pakistan in Ungarn zu stoppen. Oder den als „Halsketten-Räuber“ bekannten Dieb in Rumänien aufzuspüren, der zuvor in Graz mehrere Damen überfallen hatte. Einen weiteren Mann konnten die österreichischen Zielfahnder im vergangenen Jahr von der Liste streichen, der wegen versuchten Mordes an einem österreichischen Polizeibeamten gesucht wurde. Er wurde schließlich im Kosovo gefunden.

Olympiasieger unantastbar

Dass es bei internationalen Fahndungen allerdings oft auch Hindernisse gibt, zeigt der Fall des doppelten Judo-Olympiasiegers Peter Seisenbacher aus Österreich, der für besondere mediale Aufmerksamkeit sorgte: Wegen Verdachts auf schweren sexuellen Missbrauch Unmündiger und Ausnützung eines Autoritätsverhältnisses sollte sich Seisenbacher in Wien vor Gericht verantworten. Doch der Sportler ließ den Prozess platzen und floh in die Ukraine. Zunächst gelang es den Fahndern, ihn in Kiew auszumachen und festzunehmen, dann sollte er im Gefängnis auf seine ­Auslieferung nach Österreich warten. Der Fall war damit für Helmut Reinmüller abgeschlossen.

Doch nach ukrainischem Recht sind die Vorwürfe gegenüber Seisenbacher, die sich auf die Jahre 1997 bis 2004 beziehen, verjährt. Eine Festhaltung und ein Auslieferungsverfahren wurden deshalb vonseiten der Ukraine abgelehnt. „Solange er in der Ukraine ist, ist er für uns unantastbar“, sagt Christina Salzborn, Richterin des Landesgerichtes für Strafsachen in Wien, „nachdem ihm allerdings seine Reisedokumente abgenommen worden sind, kann er sonst nirgendwo mehr hin, außer zurück nach Österreich.“ Hier drohe ihm – wie auch in allen anderen Ländern, in denen der gegen ihn verhängte europäische Haftbefehl gilt – die Festnahme. Doch auch in der ­Ukraine hat er kein Aufenthaltsrecht. „Soweit ich weiß, kämpft er sich bereits durch die x-te Instanz, um gegen das Aufenthaltsverbot vorzugehen“, sagt Salzborn. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis Seisenbacher ausreisen und sich den Behörden in Österreich stellen muss. Bis dahin bleibt er trotz Fahndungserfolgs auf freiem Fuß.

Eine Spur führt zum Ziel

Neben Foco, Felzmann und Seisenbacher sind fünf weitere Männer von den Behörden zur Fahndung ausgeschrieben (siehe S. 32): Zeyad Dyab wird seit November wegen Mordverdachts an seiner Ehefrau gesucht. Nach der Tat soll er die vier gemeinsamen Kinder entführt haben und mit ­ihnen geflohen sein. Hossein Azarang aus Kuwait, Alaa El Din Shehata aus Ägypten und Shaqir Matmuja aus Albanien werden gesucht, weil sie jeweils verdächtigt werden, Kinder von ihren erziehungsberechtigten Müttern entführt zu haben. Boris Kegel bleibt ebenfalls weiterhin verschwunden. Er ist seit 2002 wegen Betrugs mit ungedeckten Schecks zur Fahndung ausgeschrieben – und reiht sich damit in die Liste von Fällen ein, die viele, aber vor allem eine Frage aufwerfen: Wie kann jemand einfach vom Erdboden verschwinden? Gibt es denn keine Hinweise?

Reinmüller kennt die Antwort: „Auch wenn viele denken, es gäbe keine Spuren, wenn jemand schon lange auf der Flucht ist, finden wir meist zahlreiche Fahndungsansätze. Es ist zwar oft eine frustrierende Arbeit, weil wir sie alle einzeln abarbeiten müssen. Aber nur eine Spur kann zum Ziel führen.“

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 40 2018