"Alt soll man nicht werden ...

... und deppert auch nicht"

Kurz nach ihrem 91. Geburtstag schwant Tante Helli, dass es allein nicht mehr geht. An guten Tagen plant sie, in ein Pensionistenwohnhaus zu ziehen, an schlechten will sie in ihren eigenen vier Wänden sterben. Die Geschichte der vielleicht letzten großen Entscheidung eines langen Lebens.

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© Video: news/Gamper/Strasser/Hammerschmied
© News/Nina Strasser
»Ich will euch keine Arbeit machen. Ihr wisst ja, ich bin ganz unkompliziert«

Alt soll man nicht werden und deppert auch nicht", sagt Tante Helli. Dann blättert sie in ihrem Terminkalender. Auf ihrem runden Beistelltisch bildet er den Mittelpunkt eines Sammelsuriums aus Tabletten, Servietten und Grußkarten; er bildet den Mittelpunkt ihres Lebens. In der Originalversion fingerdick, schwillt er im Laufe eines Jahres stetig an. Bereits im Jänner hat er sich verdoppelt. Erinnerungszettel verteilen sich nicht nur zwischen Wochenblättern. Weitere hat sie mit Tixo an neuralgische Punkte der Wohnung gepickt. Sie warnen Tante Helli vor unbedachten Handlungen. "Vorsicht, brennt ständig", notierte sie auf einer Packung Spaßkerzen, die nicht auszublasen sind. Im Hausflur erinnert sie ihre Nachbarn: "Fenster zulassen wegen Regen, Kälte." Der Kalender erscheint ihr als verlässlicher Freund. Mir aber kommt vor, er habe sich längst gegen sie gewendet.

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Eine Reise, keine Umstände

"Jetzt müsst ihr euch mehr um mich kümmern", sagt Tante Helli an ihrem 91. Geburtstag, beziehungsweise ihrem 19. - vertauscht sind ihr die Zahlen lieber. Meine Schwester Eve und ich sind ihre Großnichten, sie ist die Schwester unserer Großmutter. Tante Helli hat keine Kinder. Kümmern, das hieß für uns bis dato: anrufen, vor allem zu Weihnachten und am Geburtstag, Karten schreiben, vor allem aus dem Urlaub, bei der "10er Marie", ihrem Stammheurigen, ein paar Achterln mit ihr kippen, vor allem, wenn wir beim Anrufen und Kartenschreiben säumig waren. Umgekehrt klingelten unsere Handys häufig, Ansichtskarten erreichten uns selten. Zu Weihnachten und an den Geburtstagen schenkte sie Eve und mir Geld, mit dem Verweis, dass es vom Herzen komme und von ihrer Mindestpension. Die Frequenz von Anrufen, "10er Marie"-Besuchen und Karten zu erhöhen, ist jetzt mein Plan. Ob Tante Helli in einem Pensionistenwohnheim besser aufgehoben wäre? Die Frage stellt sich mir im Februar dieses Jahres nicht.

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"Welcher Tag ist heute?", fragt Tante Helli am Freitag. "Sonntag?" Im März fragt sie: "April?" Dann blättert sie im Terminkalender. Dort vermerkt sie ihre Erholungsreisen. Ob Mönichwald, ob Scheiblingstein, ob Poppenlauer oder Brandlucken: Von all ihren Lieblingszielen zeugen die Urkunden für den treuen Gast. Sie hat sie sich ins Schlafzimmer gehämmert. Tage vor der Abreise meldet sie sich normalerweise ab, manchmal nicht. Zurück meldet sie sich in der Sekunde. Darum bleibe ich entspannt, als sie im April tagelang verstummt. Erst eine Tante-Helli-Freundin informiert mich über den wahren Grund. Den Erholungsort habe sie nie besucht, stattdessen lag sie im Krankenhaus. Sie sei gestürzt, es sei nichts gebrochen, aber ich müsse jetzt dringend etwas tun, so könne es nicht weitergehen. Tante Helli gibt sich beim Verhör agil. Nur in einem Nebensatz sagt sie, dass sie hin und wieder erwäge, in ein Altersheim zu ziehen. Ich rate ihr weder zu noch ab.

© News/Nina Strasser Tante Helli weiß nicht immer, ob Montag oder Freitag ist, aber sie weiß, was sie will - und was nicht

"Ich will euch keine Umstände machen", sagt Tante Helli. Deshalb spendete sie ihren Körper vor zehn Jahren der Medizinischen Universität Wien. Im Jahr 2000 meldete sie sich bei der Stadt Wien für einen Platz in einem der "Häuser zum Leben" an. Das Schicksal ihrer Schwester war ihr eine Warnung gewesen. Die hatte so lange gar nichts organisiert, bis sie gar nicht mehr gefragt wurde. Wirbelbruch, Krankenhaus, von dort in ein Wiener Altersheim. Mit fortgeschrittener Demenz kam sie ins Pflegeheim, weit weg am Land. Die je vier Stunden hin und zurück hat sich Tante Helli, aber keine Wiener Freundin angetan. Vereinsamt ist die Schwester fernab ihrer Heimatstadt, und als sie starb, wachte am Nachtkastl des Krankenzimmers ein junges Bild von ihr und ihrer Schwester. Darum wollte Tante Helli alles für sich selber regeln. So hat sie das immer schon gesagt. Niemand hat je daran gezweifelt. Um Hilfe hat sie nie gebeten.

© News/Nina Strasser Vor der Besichtigung eines Appartments im Haus Prater ist sie kritisch, danach ist sie auf der Flucht

Viele Fragen, ein Ziel

"Einmal im Leben ein Balkon, das würde mich noch reizen", sagt Tante Helli im Mai. Ein paar Pensionistenwohnhäuser habe sie in den vergangenen Jahren begutachtet. Nur das "Haus Prater" komme für sie infrage. Eine Freundin wohnt seit Jahren dort. Diese nennt einen Balkon ihr Eigen, mit Sonne in den Morgenstunden. Welch Aussicht aus dem sechsten Stock: Der Blick nach vorn geht gegen Himmel, nach unten in den grünen Park. Genau das will Tante Helli auch. Die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens wohnte sie im zweiten Bezirk, 65 weitere lebte sie im fünften. Beton vor dem Fenster da wie dort. Endlich einmal auf Bäume blicken, das ist jetzt ein großes Ziel. Wir lassen uns die Unterlagen schicken. Denn der Bedarf an Unterkunft muss bei der Stadt Wien neu gemeldet werden. Das Zettelwerk füllen wir gemeinsam aus. Wo sie wohnt, wie alt sie ist und wie hoch ihre Pension ist. Wie viel Pflegegeld bekommt sie? Tante Helli ist auf einem Auge blind. Ganze Seiten können wir uns sparen. Weder hatte sie Ehemänner, noch besitzt sie ein Vermögen. Bald sind wir mit dem Geschreibsel durch. Das war doch leicht. Das war noch gar nichts.

»Ich will in meiner Wohnung sterben«
© News/Nina Strasser Der Umzug ist auf unbestimmte Zeit verschoben, darum testet sie zuhause lieber Faschingssachen, als die Wohnung auszumisten

Ein Wecker, keine Nerven

"Ich will in meiner Wohnung sterben", sagt Tante Helli an schlechten Tagen. Nur an guten will sie doch "ins Heim". Vor Jahren begann sie die Wohnung auszumisten, um eines Tages umzuziehen. Säckeweise überführten meine Schwester und ich Dinge aus ihrer großen Wohnung in unsere kleine: Wecker, Werbegeschenke, eine Waffe. Die 50 Jahre alte volle Linsendose stellt unser Nachbar bis heute auf einem Küchenkastl aus. Dass der Fluss der Dinge irgendwann verebbte, blieb von mir nicht unbemerkt. Beschwert habe ich mich darüber nicht. Als sie mir im Juni dieses Jahres einen goldenen Wecker offeriert, lasse ich mich von der Hoffnung blenden, sie nehme die Gewohnheit wieder auf.

Tante Helli
© Nina Strasser Fast alle Liebesromane, Reiseführer und Kochbücher müssen beim Umzug zurückbleiben.

"In meinem jugendlichen Alter", so beginnen Tante Hellis Sätze oft. In ihrem jugendlichen Alter hat sie laut Kalender vieles vor. Deshalb hat sie die ausgefüllten Unterlagen für das Haus Prater lieber weggeräumt. Die Juli-Reise tritt sie demnächst an. Das trifft sich gut. Für zwei Wochen bin ich beruflich weg. Kaum im Ausland angekommen, bricht daheim die Hölle los. Man schätze sie als treuen Gast, sagt eine Frau am Telefon, doch so könne es nicht weitergehen, ich, die Nichte, müsse dringend etwas tun. Der zweite Anruf erreicht mich ein paar Tage später: Die Tante kam unversehrt zurück nach Wien, berichtet meine Schwester. Doch jetzt öffnet sie die Türe nicht, ihr Handy läutet ins Leere. Die Schlüssel ihrer sieben Schlösser hat sie uns nie ausgehändigt. Polizei und Schlüsseldienst? Oder sie, wie erbeten, in ihrer Wohnung sterben lassen? Am nächsten Morgen ist sie wohlauf. Nach meiner Rückkehr, das schwöre ich, kommt mir Tante Helli nicht mehr aus.

© News/Nina Strasser Die Entscheidung fällt Tante Helli bei gleichfarbigen Röcken besonders schwer

"Pfiat di Gott, Lackerl!", sagt Tante Helli, bevor sie ein Achterl gänzlich leert. Meine Schwester und ich stoßen in der "10er Marie" mit ihr auf eine frohe Kunde an. Eine Verwandte, die ich gar nicht kenne, verständigte mich per Telefon. Nächste Woche, ließ sie mich wissen, ziehe Tante Helli im Haus Prater ein. In meiner Abwesenheit habe sie die Unterschrift geleistet. Doch angesichts der jungen Männer vergisst sie jetzt, beim Heurigen, das Altersheim und den Kalender. Tante Helli feiert gern, Partys hat sie bis zuletzt geschmissen. Sie tanzte am Seniorenball mit Vorliebe mit Taxi-Tänzern. Sie weiß sogar, was Haschisch ist. Sie hat ja nach dem Krieg fünf Jahre in Holland gearbeitet, in einer Schokoladenfabrik. Damals hieß sie Vonka, seit 1964 heißt sie Proksch. Denn zurück aus den Niederlanden, zog sie zu ihrer Tante, deren Sohn im Widerstand gefallen war, und ließ sich von ihr adoptieren, um die Wohnung zu ergattern. Sie erzählt vom Krieg und von den Russen. Dann erzählt sie vom Balkon. Der gefalle ihr nämlich nicht. Statt in den begrünten Innenhof ragt er in den betonierten Hinterhof. Tante Helli verlässt sich wirklich nur auf uns. Ich fühle mich vom Glück verlassen und sage das Apartment ab.

© News/Nina Strasser Was ihr überlebenswichtig scheint, packt sie erst in Taschen, um später danach zu suchen. Auch wichtige Dokumente und Ausweise verschwinden
»Bei mir wird nichts weggeschmissen, jedes Sackerl kann man brauchen«

"Du kannst mir doch nicht einfach den Wecker wegnehmen. Bitte ihn mir sofort zurückzubringen!", sagt Tante Helli. Zurück ist das Ding seit Wochen, sie vermisste es bereits zwei Stunden nach der Übergabe. Seitdem sucht sie den goldenen Wecker jeden Tag. Manchmal ruft sie deshalb dreimal in der Stunde an. Damit sie darauf nicht vergisst, erinnern sie Zettel und der Terminkalender. All ihre Freundinnen, das sind viele, besitzen plötzlich meine Nummer. Wie das kam? Ich weiß es nicht. Sie sorgen sich um Tante Helli. Man muss was tun, ihr geht es schlecht! Auch die Nachbarn wählen sich jetzt ein. Sie muss was essen, sie hat nichts daheim! Der Tonfall verschärft sich auf allen Seiten. Tantes Stimme erreicht ärgerliche Spitzen. Meine Laune fällt in den Keller.

Tausend Sackerln, ein Kampf

"Bei mir wird nichts weggeschmissen", sagt Tante Helli. Liebesroman für Liebesroman, Ratgeber für Ratgeber, Kochbuch für Kochbuch blättert sie durch. In jedem zweiten steckt ein Lesezeichen. Dann will sie das Buch zu Ende lesen. Um die Wartezeit für das Haus Prater zu überbrücken, sortiert sie mit meiner Schwester aus. Sie sitzt in ihrem Ohrensessel mit den selbstgemachten Häkeldeckerln und kämpft um jedes Plastiksackerl. Ihre Kleiderschränke bersten, jedes Kostüm birgt Geschichten, jedes Tuch hat einen Sinn. Ist sie allein in ihrer Wohnung, bringt sie Wichtiges in Sicherheit. Im Wohnzimmer, vor ihrem schwarzen Kasten, wächst ein Taschenmeer zum Ozean. Irgendwann findet sie gar nichts mehr. Im August pausiert zudem der Seniorenclub am Eck. Dort spielt sie normalerweise Karten. Bei mir verspielt sie langsam die Gunst.

© News/Nina Strasser Wegen eines Wirbelbruchs liegt Tante Helli im Spital. In einem Ohr das Hörgerät, am anderen das Telefon: Verstehen will sie vieles nicht

"Du weißt doch, dass ich dich nicht höre", sagt Tante Helli. "Du musst schon herkommen." Von Anruf zu Anruf hört sie schlechter. Das Hörgerät liegt meist auf ihrem Tisch, gleich neben dem Terminkalender. Es pfeift im Ohr und es klingelt. Rechts hört sie damit zu wenig, links zu viel. Wenn sie nicht hören will, versteht sie sowieso kein Wort. An manchen Tagen ruft sie zweimal an, an manchen bis zu zwanzigmal. Das Klingeln weckt mich schon um sechs Uhr in der Früh. Meistens gehe ich nicht ran. Selten brülle ich ihr meinen ganzen Frust durchs Telefon ins taube Ohr. Sie hört mich nicht. Fast täglich stehe ich auf ihrer Matte, meine Schwester löst mich ab, Freunde mag ich längst nicht mehr treffen. Keiner will dauernd meine Tante-Helli- Geschichten hören.

Viele Zettel, keine Papiere

"Ihr wisst ja, ich bin ganz unkompliziert", sagt Tante Helli. Sie weiß zwar nicht immer, welcher Tag gerade ist, aber sie weiß genau, was sie will. Wir sind zum Besichtigungstermin Nummer zwei ins Haus Prater bestellt. Das Apartment liegt im sechsten Stock. Die Tür gegenüber gehört Tante Hellis Freundin. Diese redet mit Engelszungen, doch Tante Helli sagt zur Wohnung einfach: "Nein!" Der Balkon ist straßenseitig. Nachmittagssonne mag sie nicht. Ein Sekterl zur Beruhigung aller, auf dem Traumbalkon der Freundin. Dann wackelt sie davon. So schnell hat sie sich lange nicht bewegt. Irgendwann in den nächsten Stunden verschwinden alle Unterlagen. Pass und Geburtsurkunde? Keine Ahnung! Der Hausarzt verschreibt ihr ihre "Hirntabletten". Sie nimmt sie, solange sie es nicht vergisst. Wir schreiben September. Eine Woche fahre ich weg. Auf Urlaub. Ich traue mich fast nicht, es zu sagen.

© News/Nina Strasser Notizen verhelfen zu Überblick
»Geht es mir schlecht, dann singe ich: 'Es geht alls vorüber, es geht alles vorbei!'«

"Im Verhältnis habe ich immer alles in Ordnung gehalten", sagt Tante Helli. Das dritte zugewiesene Apartment ist jetzt unser, vor einer Woche bekam ich vom Fonds Soziales Wien Bescheid. Da lag ich am Strand von Italien und Tante Helli lag mit Wirbelbruch im Krankenhaus. Nur wo die Unterlagen liegen, hat sich bisher nicht geklärt. Bei meiner Rückkehr bleiben mir drei Tage, um sie in ihrer Wohnung auszugraben. Ich muss mir weiter Urlaub nehmen. Statt im Büro heißt es in Tantes Wohnung werken. Der Briefkasten platzt vor Spendenbriefen. Vom Roten Kreuz bis zu den Blindenhunden, am häufigsten kommt die Tierschutzzeitung. In den Schubladen finde ich Unterlagen, die bis ins Kaiserreich zurückreichen. Aus den Visitenkarten der Beraterinnen, die ihr jahrelang Pensionistenhäuser schmackhaft machen wollten, baue ich einen Turm. Die Geburtsurkunde aus dem Jahr 1925 zerfällt fast, wenn sie an Sauerstoff gerät. Ein Identitätsausweis aus dem Jahr 1946 ist ein minimaler Hoffnungsschimmer. Nach vier Stunden dann der Führerschein, ausgestellt 1973, in dem Jahr, in dem ich geboren bin. Damit melde ich später Tante Helli an. Außerdem grub ich mich durch Stapel von Röntgenbildern. Der Anblick ihrer gebrochenen Gebeine steckt mir in den Knochen.

© News/Nina Strasser Der Krankenwagen parkt am Hintereingang des Hauses Prater ...

Eine Fliege, ein Drama

"Ihr müsst auch einmal auf mich Rücksicht nehmen", sagt Tante Helli. Der Rücken schmerzt, die Beine streiken. Der Wirbel soll im Spital durch Liegen heilen. Im Krankenhaus genügt ein Knopfdruck, schon springen Pfleger ihr zur Seite. Der Anrufknopf am Telefon bringt nicht das gewünschte Resultat. Ihre Großnichten bauen in Tante Hellis neuem Heim Ikea-Kästen auf und bepflanzen ihren Traumbalkon. Ihr schwarzer Kasten schmückt das Apartment, der Ohrensessel ist auch schon da. Darüber hängt ein Bild wie tausend Tonnen. In der Wohnung packen wir Taschen, im Haus Prater packen wir sie wieder aus. Begleitet vom Geklingel unserer beider Telefone. Bei den Krankenhausbesuchen gibt sich Tante Helli gefügig, zumindest was den nahen Umzug betrifft. Die Frau im Nachbarbett will keine Pflege, obwohl sie kaum noch gehen kann. Deren Tochter frisst der Neid. Ich esse mit Tante Helli Nüsse. Die sind wirklich gut für das Hirn.

Tante Helli
© Nina Strasser ... nächster Stopp: das Zimmer

"Alles geht vorüber, alles geht vorbei", singt Tante Helli. Da hat sie das Schlimmste noch vor sich. Mit dem Rettungsdienst geht es vom Spital ins Haus Prater, eine Reise durch halb Wien, auf der sie in Erinnerungen schwelgt: Im Zweiten ist sie aufgewachsen, gleich ums Eck vom Pensionistenhaus. Wann sie geboren ist, will der Pfleger wissen. "Am 27. Februar", sagt sie. Der Mann kann es kaum fassen, am selben Tag kam er zur Welt. "In welchem Jahr?", fragt er sie. "1925", sagt Tante Helli. "1991", sagt er zurück. Er schiebt sie im Rollstuhl über den Hinterhof in das Pensionistenhaus. Sie winkt allen alten Damen. Keine winkt ihr zurück. Die Freundin wartet mit lila Sekt im Zimmer. Dann schiebt die Tante den Rollator in ihr neues Heim hinein. Eine Woche haben wir geschuftet, um ihr Zimmer herzurichten, Stoffblumen sprießen überall. Jetzt fließen Tante Hellis Tränen. Nicht vor Glück. Es ist der Schock. Das Bett zu hoch, das Licht zu hell. Eine Fliege stört sie enorm. Die vielen Menschen, die sie nicht kennt, sie findet sich hier nicht zurecht. Lieber will sie zu Hause sein. Da helfen keine Pflanzen am Balkon und kein netter Krankenpfleger. Da hilft nur noch Alkohol. Ich schenke ihr und mir noch ein paar Gläschen ein.

Ein Balkon, ein Leben

"Arbeit macht das Leben süß, Faulheit stärkt die Glieder, nichts tun ist auch nicht z'wider", sagt Tante Helli. Mit dem Hörapparat waren wir endlich beim Service, die Tabletten serviert eine Pflegekraft dreimal am Tag. Der Friseur färbt weiße Häupter direkt im Haus. Montags geht sie zum Kegelabend, von der Bastelgruppe haut sie gern ab. Das Singen in der Gruppe macht ihr Spaß. Kartenspielen mit einer neuen Freundin füllt den Rest des Tages aus. Die Waschmaschine bediente in der Wohnung noch sie, die im Haus Prater bedienen wir. Einmal die Woche wird bei ihr geputzt, das Essen serviert man ihr. Wir entrümpeln ihre Wohnung, zu uns kommt der Pizzadienst. Ihr Kühlschrank schmückt jetzt unsere Küche, das Wohnzimmer blockieren ihre alten Schränke. Während wir Möbel, Bücher, Kisten schleppen, macht Tante Helli Physiotherapie. Manchmal ruft sie einen Tag lang nicht an. Das ist schön. Fast fehlt sie mir.

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»Einmal im Leben ein eigener Balkon. Das hat mich gereizt«

"Solltest du auf mich vergessen, ja vergessen könnt auch ich", zitiert Tante Helli ein Gedicht, "dein Vergessen, mein Vergessen, dich vergessen könnt ich nicht." Wegen der kalten Jahreszeit sitzen wir selten am Balkon. Dann aber trinken wir ein Achterl Wein und reden über ihr Leben. Meine Schwester und ich lernten unsere Großtante in den vergangenen Monaten erst richtig kennen. In 91 Lebensjahren hat sie Schlimmeres überstanden: einmal Krieg, zweimal Krebs, dreimal schweren Liebeskummer. Den Verlobungsring ihrer großen Liebe trägt sie immer noch am Finger. Sie hat im Krieg als Funkerin gearbeitet, nach dem Krieg in der Fabrik. In den 60ern hat sie als Unterwäscheverkäuferin sogar Männern BHs angepasst, später besaß sie einen Strickladen. Hunderte Pfadfinder wurden von ihr bekocht, mit uns ging sie lieber auswärts essen. Tante Helli muss oft weinen. Bei Besuchen strahlt sie aber. Der Rollator blinkt dank Lichterkette. Das Foto mit meiner Großmutter und Tante Helli hängt jetzt über ihrem Bett. Der goldene Wecker thront auf ihrem runden Beistelltisch. Irgendwer ließ den Terminkalender irgendwo verschwinden. "Alt soll man nicht werden und deppert auch nicht", sagt Tante Helli, und wir stoßen an. "Du wirst noch einmal an mich denken, wenn es so weit ist. Wer wird sich dann um dich kümmern?" Ich werde alles selber regeln.

Diese Geschichte von Nina Strasser wurde mit dem Dr. Karl Renner Publizistikpreis 2017 in der Kategorie „Print“ ausgezeichnet. Die ehemalige Spitzensportlerin machte mit einer Reportage über ihre 92jährige Tante das Rennen, der Titel: „Alt sollte man nicht werden – und deppert auch nicht“. Laudator Oswald Klotz bezeichnete sie als „berührende und zutiefst menschelnde Reportage.“ Nina Strasser brachte ihre Tante sogar zur Preisverleihung mit, ein berührender Moment.

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Kommentare

Gabe Hcuod

Lieber reich ins Heim als heim ins Reich.

Ein großartiger Text, wenn auch nicht gerade stimmungsaufhellend...

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