"Man hat uns die
Jugend gestohlen"

Diese Tirolerin ist älter als die Republik und erinnert sich an ihr Österreich

Eine der ersten Erinnerungen von Elsa Roilo betrifft eine Katastrophe: Am Pfingstsonntag 1921 machte sie mit Geschwistern und Eltern einen Ausflug zum Achensee. "Der Dampfer ist dahergekommen in Pertisau und wir Kinder sind alle auf den Steg. Beim Anlegen ist aber der Steg eingebrochen und wir sind alle in den See gefallen und fast ertrunken. Es gab dann acht Tote." Elsa Roilo war fünf Jahre alt.

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Zeitzeugen - "Man hat uns die
Jugend gestohlen"

Vor wenigen Tagen hat die Innsbruckerin ihren 103. Geburtstag gefeiert. Sie ist älter als die Republik Österreich, die im November 100 wird. Roilos wirkliche Verbundenheit ist aber eine andere, das wird im Verlauf des Gesprächs rasch deutlich: "Tirol, Tirol, Tirol, du bist mein Heimatland", singt sie den Beginn eines alten Volkslieds an, das sich schon im Ersten Weltkrieg in vielen Soldatenliederbüchern fand. "Das wird ein anderer vielleicht gar nicht verstehen, aber das ist halt so", meint die rüstige Dame und lächelt.

Leben für die Arbeit

Ihre Mutter war aus dem Stubaital, und Frau Roilo kann sich noch an die Sommerferien bei ihrer Großmutter erinnern. Sie selbst lebt seit frühester Kindheit im Innsbrucker Stadtteil Pradl. Träume von einem anderen Leben habe sie nie gehabt, versichert sie. Sie sei glücklich gewesen, dass sie ab den 1930er-Jahren im elterlichen Betrieb mitarbeiten konnte: "Es war damals diese Arbeitslosigkeit und man war froh, dass man sich keine Stelle hat suchen müssen."

Im Fleischereibetrieb des Vaters hat sie sich bald um die Buchhaltung gekümmert, und als der Vater als Altersversorgung 1936 ein Haus mit elf Wohnungen baute, war sie danach mit der Verwaltung von bis zu drei Häusern befasst - weit länger als ein normales Berufsleben lang. "Ich habe dafür eine Schreibmaschine und ein kleines Rechenmaschinchen, das reicht mir vollkommen. Und den Kopf muss man halt noch beieinanderhaben. Wenn das nicht mehr passt, kann ich es halt nicht mehr machen."

"Wir haben uns in der Familie nie politisch betätigt, weil wir in der Arbeit aufgegangen sind", wehrt Elsa Roilo die Frage ab, was sie von den politischen Turbulenzen der 1930er-Jahre mitbekommen hat. Manches sei aber doch unübersehbar gewesen: "1931 ist es losgegangen mit den Illegalen, da ist die Unterwanderung schon im Gang gewesen. 1938 ist dann alles vorbereitet gewesen."

Der "Anschluss" sei vor allem von jenen begrüßt worden, die keine Arbeit hatten. "Nach dem Umbruch ist alles viel strenger gewesen, man musste sich überlegen, was man sagt, sonst ist mein gleich drangewesen. Und wenn man halt nicht zum Heldentum geboren ist, dann ist das schwierig... Bei uns ist der Betrieb an erster Stelle gestanden, und dass der weitergegangen ist. Mein Bruder ist dann gleich einmal einberufen worden, der war schon in Polen dabei, und auch mein späterer Mann ist 1940 einberufen worden. Die ganzen jungen Leute sind weggewesen. Man hat uns die Jugend gestohlen."

»Wie ist das möglich, dass man denen so auf den Leim gehen kann«

Später habe sie sich "schon auch meine Gedanken gemacht, wie das möglich ist, dass man denen so auf den Leim gehen kann", erzählt Elsa Roilo. "Aber die Propagandamaschine hat das alles unterwühlt und sturmreif gemacht." 1943 wurde geheiratet. "Mein Mann war damals in Norwegen oben und hat Heiratsurlaub bekommen." Kurz vor Kriegsende kam er in Kriegsgefangenschaft. Nur knapp entkam ihr bereits 60-jähriger Vater seiner Einberufung. Während die Männer in den Krieg mussten, "haben wir die Arbeit von den Männern übernehmen müssen. Unglaublich, man weiß gar nicht, was man alles schaffen kann, wenn es notwendig ist."

Die einfachen Dinge zählen

Als die Männer wieder zurückkamen, mussten die Frauen ihnen wieder Platz machen. Wie hat Elsa Roilo das erlebt? "Ich habe zwei Kinder gehabt und bin schon froh gewesen, dass ich hie und da daheimbleiben habe können, nachdem der Bruder wieder da war. Aber es wird noch immer nicht geschätzt, wenn Frauen einen Beruf haben und gleichzeitig auch auf die Kinder schauen. Was diese Arbeit wert ist, weiß man erst, wenn man sie bezahlen muss. Aber man tut es ja für seine Familie."

Eigentlich gehe es um ganz einfache Dinge, glaubt die 103-Jährige, die sich weiterhin durch regelmäßige Gartenarbeit fit hält: "Der normale Bürger will eine Arbeit und ein Auskommen haben und halbwegs ein Familienleben. Und wenn man Kinder hat, möchte man, dass es denen besser geht. Das habe ich versucht. Ob es gelungen ist, weiß nicht."

Ihr Mann ist schon über 20 Jahre tot. Zwei Kinder, fünf Enkel und einige Urenkel umfasst ihre Familie heute. Die Frage, was sie ihren Kindern mitgegeben habe, wird von Elsa Roilo zunächst vage beantwortet, als sich ihr Sohn, der Innsbrucker Rechtsanwalt Johannes Roilo, ins Gespräch einschaltet: "Ihr habt uns schon eine Geisteshaltung beigebracht und eigentlich eine klare Linie vorgegeben: Prinzipien wie Ehrlichkeit und Anständigkeit habt ihr ja immer vorgelebt, das muss ich schon sagen!"

»Junge Leute sollen sich von keiner Seite beeinflussen lassen«

Was würde Elsa Roilo aufgrund ihrer Lebenserfahrung den heutigen Politikern mitgeben? "Wichtig ist, dass sie das einhalten, was sie versprochen haben, dass sie ihrer Idee treu bleiben. Das erscheint mir sehr wichtig. Denn sonst ist es eine Irreführung." Und worauf sollten die jungen Leute von heute achtgeben? "Sie sollen sich von keiner Seite beeinflussen lassen, von keinen Strömungen, die irgendwoher kommen, sondern sich ein bisschen an dem inneren Halt orientieren, den sie hoffentlich vom Elternhaus oder den Erziehungsberechtigten mitgekriegt haben. Sie sollen sich nicht von irgendjemanden etwas sagen lassen, von dem sie gar nicht wissen, worum es dem eigentlich geht. Denn so ist es uns damals gegangen."

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