Im Zwischenlager
der Zeitgeschichte

In Hadersdorf am Kamp tobt ein Streit um das Andenken an 61 Erschießungsopfer der SS

Der Bundesverband der Antifaschisten brachte am Friedhof von Hadersdorf am Kamp zwei Plexiglastafeln zur Erinnerung an 61 NS-Opfer an. Doch die Gemeinde ließ die Mahnmale abmontieren und im Bauhof zwischenlagern: ein malerischer, kleiner Ort - und sein erbitterter Kampf um die Gedenkkultur

von Chronik - Im Zwischenlager
der Zeitgeschichte © Bild: Ricardo Herrgott News Ricardo Herrgott

Der Himmel ist tiefgrau, der Nieselregen gefriert, und die etwa 50 Menschen, die sich an diesem Sonntag, dem 21. Jänner, am Friedhof von Hadersdorf am Kamp zusammenfinden, sind dick vermummt: Marlene Streeruwitz, die Schriftstellerin, ist unter ihnen und Madeleine Petrovic, die einstige Grünen-Chefin. Ein SP-Gemeinderat aus Krems ist gekommen, der beteuert, sich für seine Parteigenossen in Hadersdorf zu genieren, und Vertreter der KZ-Verbände Wien und Niederösterreich sind da. Aus dem Ort selbst ist nur ein Lehrerpaar anwesend. Passiert hier denn Subversives? In feierlicher Getragenheit werden zwei Plexiglastafeln an der Friedhofsmauer montiert, jede von ihnen ist eineinhalb Meter lang und einen Meter breit. Darauf sind die bislang bekannten Namen jener 61 Opfer aufgelistet, die am 7. April 1945 genau an dieser Stelle von einer SS-Einheit exekutiert wurden. "Mit Unterstützung von ortsansässigen Helfern", steht da auf den Tafeln.

Vor Monaten hatte der Bundesverband der Antifaschisten die beiden Schilder schon einmal angebracht. Rein rechtlich ist das nicht in Ordnung, der Friedhof ist Eigentum der Gemeinde, und deren Gemeinderat hatte sein Veto eingelegt. Aber moralisch?

Der Sekretär des Rathauses ließ auf Geheiß der Bürgermeisterin die Tafeln kurz vor Weihnachten abmontieren und in den örtlichen Bauhof verfrachten. Dort wird die Gerätschaft für Grünpflege, Straßenerhaltung und Winterdienst gelagert. Und auch ein Stück Zeitgeschichte. Rein rechtlich ist das in Ordnung. Aber moralisch?

69 Kilometer von Hadersdorf am Kamp - dem Schnittpunkt zwischen Waldund Weinviertel, mit seinen 2.500 Einwohnern, seinem malerischen Hauptplatz, seinen herausgeputzten Bürgerhäusern - sitzt Christine Pazderka in ihrer kleinen Wohnung in Wien-Kaisermühlen. Auf dem Wohnzimmertisch hat die 77-jährige Frau vergilbte Fotos ausgebreitet: sie als kleines Mädchen, zwischen Vater Alois und Mutter Rosa. Daneben liegen alte Briefe aus porösem Papier. "Mein braves, gutes Kind", steht da. Alois hatte aus dem Gefängnis an sein Töchterchen geschrieben. "Wenn du recht brav bist, komme ich bald. Einstweilen schicke ich dir recht viele, gute Busserln. Dein Papschi." - Doch Alois ist nicht zurückgekommen, nie mehr.

Am 22. März 1943, als Christine Pazderka gerade einmal zwei ist, wird ihr Vater am Oberlandesgericht Wien zu "sieben Jahren Zuchthaus und sieben Jahren Ehrverlust" verurteilt. Alois, der Metalldreher, früher Mitglied der "Sozialistischen Arbeiterjugend", hatte auf der Toilette seines Betriebs in Blockbuchstaben "Es lebe die Internationale" geschrieben. Ein Hilfsarbeiter hatte ihn dabei beobachtet. "Die Strafe ist somit dem Schutzbedürfnis der Volksgemeinschaft angemessen", befindet das Gericht. Alois wird in die Männerstrafanstalt Stein an der Donau überstellt.

Ein zerfranstes Album

Dort bastelt er ein Album mit selbst verfassten Gedichten, das er seiner Tochter Christine, genannt "Giga", schickt: "Wenn noch so trübe Tage ich erlebe und Sorg' und Kummer mich bedrückt, so sind die Augen meiner kleinen Giga mein Leben, mein Sonnenschein, und Jubel kehrt in mir zurück." Christine Pazderka streift zärtlich über das zerfranste Album, ihre Stimme wird brüchig. "Ich will nach all den Jahren doch nur eine würdige Erinnerung an meinen Vater, ist das denn zu viel verlangt?"

»Ich will nach all den Jahren doch nur eine würdige Erinnerung an meinen Vater, ist das denn zu viel verlangt?«

Dabei standen Tochter und Vater damals, in den Vierzigern, schon so knapp vor einem Wiedersehen: Am 6. April 1945 wird Alois überraschend aus der Haft entlassen. Die Russen stehen bereits unmittelbar vor Wien, innerhalb der NS-Nomenklatura herrscht heilloses Kompetenzchaos. Und so beschließt der Leiter der Haftanstalt kurzerhand, an die 600 politische Gefangene auf freien Fuß zu setzen.

© Ricardo Herrgott News Ricardo Herrgott Christine Pazderka, deren Vater beim Massaker von Hadersforf umkam

Alois und 60 weitere Ex-Häftlinge machen sich zu Fuß auf den Weg nach Wien. In Hadersdorf am Kamp fragen sie einen Anrainer nach dem Weg. Doch sie sind ausgerechnet an den Ortsbauernführer geraten, der bei der SS Meldung macht. Und da der Gefängnisdirektor eigenmächtig gehandelt hatte, werden die 61 Männer umgehend wieder inhaftiert. In einem aufgelassenen Gasthaus in Hadersdorf. Der örtliche Volkssturmführer und seine Mannen übernehmen die Überwachung. Tags darauf werden die Häftlinge dann zum Friedhof getrieben, wo sie ihr eigenes Massengrab ausheben. Einer nach dem anderen wird erschossen. "Zertrümmerung des Schädels" steht im Totenschein von Alois. Und: "Erschossen durch die SS als politischer Gefangener." Ein Weinbauer aus dem Ort erinnerte sich im Rahmen eines 1947 abgehaltenen Gerichtsprozesses: "Ich sah, wie Zivilisten in eine Grube springen mussten und von einem SS-Mann erschossen wurden, vorher mussten sie noch aus einem Papiersack Kalk in die Grube schütten." Und: "Inzwischen hatten sich viele Dorfbewohner in ihre Gärten begeben, da sie neugierig geworden waren."

Erst war da die furchtsame Neugierde. Die Jahrzehnte vergingen. Die Täter und Mittäter starben, die Opfer wurden auf den Wiener Zentralfriedhof umgebettet. Klar war da auch stilles Bedauern, aber ein Bedauern, das sich nach Vergessen sehnte und immer noch sehnt. Und schließlich war da die monströse Erinnerung, die plötzlich Leute von auswärts daherschleppten. Und in einer beschaulichen Gemeinde entbrannte ein erbitterter Kampf um die Gedächtniskultur, der sich bis hinauf in die Gegenwart zieht.

Kollektiver Abwehrreflex

Bereits im Jahr 1995 fährt Christine Pazderka erstmals nach Hadersdorf. Sie hat Blumen mitgebracht, die sie zu Ehren ihres Vaters einfrischen will. Sofort sticht ihr das Kriegerdenkmal am Hauptplatz ins Auge. Der "tapferen Brüder" wird da gedacht, die "für ihre Heimat den Heldentod fanden" - aber weit und breit keine Erinnerung an die Toten des Friedhofsmassakers. Pazderka wendet sich an den Bürgermeister und an die Opferverbände der Parlamentsfraktionen. Die hohe Politik nimmt Anteil, fast jedes Jahr werden vom Bund der Antifaschisten am 7. April Gedenkfeiern am Hauptplatz veranstaltet. SP-Frauenministerin Johanna Dohnal kommt, die Minister Werner Faßlabend von der ÖVP und Erwin Buchinger von der SPÖ ehren die Opfer, auch Parlamentspräsidentin Barbara Prammer von der SPÖ ist zu Gast. Doch die Gemeinde selbst mauert.

»Es ist verständlich, dass die Generation, die die Jahre bis 1945 miterlebt hat, diese Zeit aus ihren Gedanken verdrängen will. Ich ersuche Sie daher auch, uns Hadersdorfer zu verstehen«

"Nach sofortigen Umfragen im Orte kam ich zu dem Schluss, dass sich eigentlich niemand im Orte an diese Zeit gerne erinnert", schreibt Hadersdorfs damaliger VP-Bürgermeister Bernd Toms bereits im Mai 1995 an Christine Pazderka. Und weiter: "Es ist verständlich, dass die Generation, die die Jahre bis 1945 miterlebt hat, diese Zeit aus ihren Gedanken verdrängen will. Ich ersuche Sie daher auch, uns Hadersdorfer zu verstehen."

© Ricardo Herrgott News Ricardo Herrgott Franz Ofenböck ist seit knapp 27 Jahren Pfarrer von Hadersdorf: "Bisher sind wir kläglich gescheitert"

Christine Pazderka, die ihren Vater nie richtig kennenlernte, fragt sich bis heute, wie das funktionieren soll. Im Jahr 2006 schließlich errichten die Opferverbände am Hauptplatz, in Sichtweite zum Kriegerdenkmal, in der Nacht auf Palmsonntag eine etwa zwei Meter hohe Gedenkstele aus Holz, bedruckt mit Fotos und Namen der SS-Opfer. "Das Denkmal war illegal errichtet und außerdem sehr filigran", erinnert sich der damalige Bürgermeister Bernd Toms im Jänner 2018 zurück. "Da für den kommenden Tag, an dem unser Osterumzug stattfand, starke Windböen angesagt waren, ließen wir es abmontieren."

Weggewaschene Namen

Man könne, so der ehemalige Ortschef, einstige Landtagsabgeordnete und Träger des Großen Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich, nun einmal nicht "beliebig an jedem Platz einfach ein Denkmal errichten":"Schauen Sie, ich mag Hunde, und trotzdem kann ich nicht einfach am Hauptplatz ein Hundedenkmal errichten." Doch die Gegenseite lässt sich nicht einschüchtern, mit Kreide werden die Namen der Opfer auf den Asphaltboden geschrieben, so entsteht ein fortlaufender Schriftzug, der vom Hauptplatz bis hinaus zum Friedhof führt. Doch der Bürgermeister veranlasst, dass ihn die örtliche Feuerwehrjugend wegschrubbt.

© Ricardo Herrgott News Ricardo Herrgott Die Bilder der ermordeten SS-Opfer vor der von der Gemeinde errichteten Gedenktafel am Friedhof Hadersdorf

2009 schließlich errichtet die Gemeinde, nach zermürbendem Hin und Her, schließlich doch noch eine Gedenktafel am Friedhof. Doch der vorgesehene Text, ursprünglich mit den Opfervertretern akkordiert, wird an entscheidenden Stellen gekürzt. Geeinigt hatte man sich auf den Wortlaut "Nie wieder Faschismus!", doch plötzlich ist auf der Tafel nur noch von "Nie wieder!" die Rede. Zudem wird "politische Gefangene" auf "Gefangene" reduziert. "Aber mein Vater und seine Leidensgenossen waren keine beliebigen Kriminellen, sondern Menschen, denen ihr Kampf gegen ein mörderisches Regime zum Verhängnis wurde", sagt Christine Pazderka.

»Die Zeiten war'n brutal, jetzt klappt's den Deckel wieder zu, wir brauchen kan Skandal -in Hadersdorf am Kamp, in Hadersdorf am Kam«

Und nun stehen da also an diesem Sonntag, dem 21. Jänner 2018, diese 50 dick vermummten Menschen am Friedhof, verlesen feierlich die Namen der erschossenen SS-Opfer von Hadersdorf und montieren erneut ihre von der Gemeinde entfernten Gedenktafeln. Auf der lückenhaften Inschrift der Gemeinde ergänzen sie mit schwarzem Filzstift die Wörter "politisch" und "Faschismus". Rudi Burda vom KZ-Verband Wien hat eigens ein Lied komponiert, dessen Chor die Gruppe nun gemeinsam intoniert: "Die Zeiten war'n brutal, jetzt klappt's den Deckel wieder zu, wir brauchen kan Skandal -in Hadersdorf am Kamp, in Hadersdorf am Kamp "

Die spätbarocke Pfarrkirche ist gerade einmal 300 Meter entfernt und bis auf den letzten Platz gefüllt, an diesem Sonntag ist Familienmesse. "Kunterbunt ist Gottes Garten, kunterbunt, so sind auch wir, kunterbunt in allen Farben, kunterbunt ist Gott in mir", hallt es durch das Kirchenschiff. Karl Molnar, der Vorsitzende des Pfarrgemeinderates, sagt: "Wir haben ein Vergangenheitsbewältigungsproblem." Denn: "Es waren keine einfachen Zeiten -für alle." Aber: "Wir sollten irgendwann einen Schlussstrich ziehen." Liselotte Golda, die amtierende VP-Bürgermeisterin von Hadersdorf, will persönlich nichts mehr zur Causa sagen, über ihren Amtsleiter verbreitet sie ein Schreiben: "Sollten neuerliche Sachbeschädigungen an der Friedhofsmauer und somit öffentlichem Grund erfolgen, werden weitere Maßnahmen über den Rechtsanwalt abgesprochen werden."

© Ricardo Herrgott News Ricardo Herrgott Margarete Hartner am Hauptplatz von Hadersdorf: Die Rentnerin wünscht sich, dass "der braune Mantel gelüftet wird"

Nun könnte Franz Ofenböck, seit 1992 Hadersdorfs Pfarrer, vermitteln: "Es wäre an der Zeit, seitens der Marktgemeinde ein Zeichen zuzulassen", befindet er. Bisher, so Ofenböck, sei man "kläglich gescheitert".

»Ich würde mir wünschen, dass dieser braune Mantel endlich gelüftet wird«

Margarete Hartner aus Hadersdorf am Kamp feierte dieser Tage ihren Achtziger. "Ich würde mir wünschen, dass dieser braune Mantel endlich gelüftet wird", sagt sie. Der Himmel ist tiefgrau und der Regen gefriert. Es ist Sonntag, und die alte Frau steht alleine am Hauptplatz. "Warum lassen Sie die Vergangenheit nicht ruhen?", schreibt ein einstiger Hadersdorfer SP-Gemeinderat an den KZ-Verband.

Dieser Artikel ist erschienen im News 4/2018