"Putin ist ein lupenreiner Alle-Demokraten-Mörder"

Der sanfte, weise Arik Brauer und der radikale, zornige Wolf Biermann: Beide verbanden ein kämpferischer Humanismus und verheerende Erfahrungen mit Diktaturen. Am 24. März nimmt Biermann folgerichtig den Brauer-Preis entgegen. Sein aktuelles Buch heißt "Mensch Gott!"

von wolf biermann © Bild: imago images / APress

Die Statuette aus Keramik hat Arik Brauer noch selbst geschaffen und gestiftet. Sie war sein Abschiedswerk, und sie würdigt die Träger des Arik-Brauer-Preises für Publizistik, den Mena-Watch, ein in Wien ansässiger "Nahost-Thinktank", am 24. März erstmals vergeben wird. "Eine von Wissen, Anstand und Menschlichkeit gekennzeichnete Haltung gegenüber allen Formen von Antisemitismus" ist Voraussetzung für die Zuerkennung. Und der jüdisch-deutsche Liedermacher Wolf Biermann, 85, der einst in die DDR immigrierte, dort verboten, schikaniert und gründlich von allen Illusionen kuriert wurde, erfüllt die Bedingungen noch um ein Stück glänzender als die Mit-Preisträger, Christian Ultsch von der "Presse" und die Filmemacherin Esther Schapira. Mit dem Gedichtband "Mensch Gott!" hat er sich sogar bei einer noch höheren Instanz qualifiziert.

Herr Biermann, die Förderer Ihrer jungen Tage, die Stalinisten, sind unter anderem Namen gegen die Ukraine ausgerückt. Hatten Sie gedacht, dass Sie das noch einmal erleben würden? Und wie beurteilen Sie Putins Handeln?
Wir sind jetzt in der Situation, dass wir keine Angst vor dem Krieg mehr haben müssen, denn der Krieg ist schon da. Putin hat der Menschheit schon mehrmals mitgeteilt, dass die schlimmste Katastrophe des 20. Jahrhunderts nicht der Erste und der Zweite Weltkrieg war, nicht der Holocaust und der Mord an Zigeunern, sondern der Zusammenbruch der UdSSR. Ich hatte schon vor dem endgültigen Ausbruch dieses Krieges einen schlimmen Gedanken, der mich umgehauen hat: Es besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass Putin doch recht hat.

Wie das?
Ich will die Katastrophe nicht herbeireden und muss es doch sagen: Wenn die UdSSR nicht zusammengebrochen wäre, nachdem Gorbatschow die Perestroika in Bewegung gesetzt hatte, wäre dann auch nicht der Säufer Boris Jelzin an die Macht gekommen. Und der hätte dann auch nicht im Suff dem miesen kleinen KGB-Agenten Putin die Macht mit einem Handstreich zuschieben können. Und wenn jetzt dieser Mann einen Atomkrieg provoziert, dann verwandelt sich seine Geschichtslüge leider doch noch in eine Wahrheit. Weil ja der Dritte Weltkrieg mit Atombomben viel schlimmer wird als alles vorher.

Sie bleiben dabei, Putin mit Hitler zu vergleichen?
Natürlich vergleiche ich diese beiden Diktatoren. Vergleichen bedeutet ja nicht gleichsetzen. Im Politischen wie im Privaten: Beim Vergleichen erkennt man die Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede und sogar die Gegensätze. Putin wie Hitler, getrieben von "höheren" Idealen, sind fanatische Kriegsverbrecher geworden. Zwei nationalistische Todfeinde der Demokratie.

Und was hat mit all dem Gott zu tun, der sich sogar im Titel Ihres jüngsten Werks findet?
Nichts, weil es keinen Gott gibt. Allerdings gibt's doch einen, denn wir Menschen haben erst Götter und dann Gott erfunden, mit dem wir uns vergleichen. Ich habe darüber ein Lied geschrieben: "Gott ist unser edleres Ebenbild, so hausen wir hier auf Erden. Und eifern dem eigenen Kunstwerk nach. So wollen wir Menschen werden." Ich Gottloser glaube jedenfalls fester an Gott als die meisten Christen. Zumal ich ja gar nicht an ihn glauben muss. Ich weiß ja, wer ihn geschaffen hat. Darüber schreibe ich in meinem neuen Buch: "Mensch Gott!".

Tatsächlich? Wer denn?
Die besten, klügsten Menschen, die es überhaupt gibt. Er ist die geniale Verkörperung dessen, was wir als Menschen sein wollen. Deshalb ist er ja auch so nützlich, wenn er nicht gerade eine Institution mit Beamten wird. Da ich per Zufall in der christlichen, also auch in der jüdischen Welt aufgewachsen bin, bin ich dazu verurteilt, mich mit Gott auseinanderzusetzen. Meine Mutter Emma, eine Kommunistin, hat immer gesagt: "Ich beneide die Gläubigen, weil sie wissen, an wen sie sich klammern können. Aber an wen soll ich mich klammern?" So hat sie sich an mich geklammert, aber ich bin kein Gott und habe umgekehrt eher ihre Hilfe gebraucht. Als ich 1965 in der DDR verboten wurde, wollte die Partei sie als Zeugin gegen mich verwenden -in Hamburg, denn sie war, als ich in die DDR übersiedelte, auf Geheiß der Partei zur politischen Arbeit im Westen geblieben. Sie hat sich geweigert, sich öffentlich gegen mich zu stellen. Aber nicht in ihrer Eigenschaft als Muttertier. Da kennen Sie meine Mutter schlecht, die hätte mich weggehauen, wenn sie der Meinung gewesen wäre, dass die Parteibonzen recht haben. Emma war der Meinung, dass ich es richtig mache, und deshalb knallte sie ihren Genossen drei wunderbare Sätze an den Kopf, die ein Liedrefrain sein könnten: "Mein Sohn Wolf ist ein Kommunist. Und ihr, Genossen, seid Antikommunisten. Mein Wolf ist ein Revolutionär. Und ihr seid Konterrevolutionäre. Mein Sohn ist ein junger Dichter. Und ihr seid alte Schweine." Daraufhin hat die Beziehung meiner Mutter mit der Partei, der sie seit 1922 angehörte, ein Ende gefunden.

Ihre Mutter hat Sie zu Kriegsende als Kind tatsächlich schwimmend aus einem Feuersturm gerettet?
Ja, das ist ja der Mutter ihr Sinn.

Aber Sie machen der Schwarzen Madonna von Tschenstochau, der Gnadenmutter der polnischen religiösen Hysterie, im Buch fast libidinöse Komplimente. Wieso denn das?
Ich respektiere auch den katholischen Glauben, der den unterdrückten Polen 1980 half, sich gegen das totalitäre Unrecht zu erheben. In meinem Lied heißt es: "Besser mit der Schwarzen Madonna im Herzen Revolution gemacht / Als mit Marx im Arsch und zum Hohn -die Konterrevolution."

Und wie bewerten Sie Polens Aktionen, die Nato in den Krieg zu verwickeln?
Die Polen sind keine Selbstmörder! Sie versuchen nicht, das Nato-Bündnis in einen direkten Krieg gegen die Atommacht Russland, gegen den panisch paranoiden Putin zu zwingen. Aber sie tun etwas Menschliches: Sie nehmen mit einer verblüffenden Großherzigkeit die Flüchtlinge aus Putins Vernichtungskrieg bei sich auf. Das wundert mich, und es beschämt meine exaltierte Wut gegen all die ehemaligen Ostblockländer, die so hartherzig keine Flüchtlinge aus Serbien, Afrika und Afghanistan retten wollten.

Wie hat sich denn Ihr Verhältnis zu Gott entwickelt?
Der Schriftsteller Doron Rabinovici sagte, der Gott, an den er nicht glaube, sei ein jüdischer. Der Satz ist, soweit ich weiß, von Ben Gurion, und schon der hatte ihn wohl nicht erfunden, sondern gefunden. Aber wie Sie schon dunkel ahnen, leuchtet mir dieser Satz auch ein. Diejenigen, die aus mir im kulturellen Sinn einen Juden hätten machen können, sind alle ermordet worden. Als Jude fühlte ich mich immer. Aber erst im Westen wurde es ein Lebensthema. Wichtig war für mich Arno Lustiger, der Historiker des jüdischen Widerstandes, der Auschwitz überlebt hat. Arno Lustiger war ein sehr jüdischer Jude, aber so wie ich: gottlos.

Wir erleben jetzt, wie Nazikretins mit Judensternen zur Impfdemo ausrücken. Was tut man denn da, außer zu verzweifeln?
Sich totlachen oder totweinen. Das sind geschichtslose Kretins, die niemanden ermordet haben, aber auf den Leichen ihre geistige Notdurft verrichten. Das ist grauenhaft, macht mir aber keine Angst, sondern ekelt mich nur.

Und der immigrierte und der linke Antisemitismus, die sich als Antiisraelismus verkleiden? Der englische Labour-Altvorsitzende Corbyn, der zurücktreten musste, weil er zuletzt eine Partei von Antisemiten geleitet hat?
Dieser dumme Traditionslinke hat es ganz besonders schwer, kein Antisemit zu werden. Das ist das Erbe der Sowjetunion. Niemand hat die Juden so radikal verfolgt wie Stalin. Stalin hat gegen Ende seines Lebens systematisch alle Juden in der Sowjetunion liquidieren wollen. Nur sein Tod am 5. März 1953 hat diese Pläne gestoppt. Er hat an der Grenze zu China und der Mongolei einen rein jüdischen Staat der UdSSR gegründet, der nichts anderes als ein Vernichtungslager für alle Juden werden sollte. Er hat immerhin in der Nacht vom 12. zum 13. August 1952 eine logistische Meisterleistung erbracht, der Codename: "Nacht der ermordeten Poeten". 200 der bedeutendsten jüdischen Schriftsteller der Sowjetunion ließ er liquidieren. Und von zehn Immigranten, die es schafften, sich vor Hitler nach Moskau zu retten, wurden acht liquidiert. Und nun raten Sie mal: Von diesen acht waren die allermeisten Juden.

Kann Putins Vernichtungswille also auch den Juden Selenskyj meinen?
Das weiß ich nicht. Ich vermute, dass Putin kein rassistischer Mörder ist, sondern eine modernere Spezies: ein lupenreiner Alle-Demokraten-Mörder.

Und was sollen wir tun mit Immigranten aus dem arabischen Raum, die einen aggressiven Vernichtungswillen mitbringen?
Diese Fanatiker mit der angemessenen Härte bekämpfen. Einsperren, aussperren, ihnen die materiellen Möglichkeiten vermasseln. Aber trotzdem kein Islam-und Muslim-Hasser werden!

Und die Linken, die mit der Unterdrückung Palästinas durch Israel argumentieren?
Ich war oft genug in Israel, kenne genügend Menschen, die dort leben, und weiß, dass dieses Land, das jeden Tag von arabischen Armeen mit der Auslöschung bedroht wird, trotz alledem die einzige Demokratie in dieser totalitären arabischen Welt ist. Kein arabischer Israeli, nicht mal ein fanatischer Judenfresser, möchte lieber in einem der arabischen Nachbarländer leben. Sie wissen sehr gut, was sie an Israel haben, und sind keine Totalidioten.

Wie sehen Sie denn rückblickend Frau Merkel?
Da wir Freunde sind, können wir auch gelegentlich sehr verschiedener Meinung sein. Ihren ja-panischen Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Atomkraft nach dem Fukushima-Unglück hielt ich all die Jahre für einen Fehler. Ich bin froh, dass Deutschland sie als Kanzlerin in all den Krisenzeiten hatte. Sie hat sich als eine tatkräftige Humanistin bewährt, ist trotz der innereuropäischen Turbulenzen eine stoische Europäerin geblieben und zeigte der Welt das freundliche Gesicht menschlicher Vernunft.

Sie hat nicht zu große Nähe zu Putin gehalten?
Nein. Sie hielt ihn niemals für einen lupenreinen Demokraten, nicht einmal für den Zaren einer russischen "Demokratur". Sie wusste, dass sie mit einem Erben des Stalinismus verhandelt. Das waren freilich bessere "schlechte Zeiten", als Frau Merkel die internationale Finanzkrise lösen half, EU-Konflikte löste und 2015 die Flüchtlinge hereingelassen hat. In dieser tragischen Situation hat sie den richtigen Fehler gemacht und nicht den falschesten. Das war eine große Tat für Deutschland. Allerdings machte Putin, seit er an die Macht kam, eine Metamorphose durch: vom kleinen zynischen KGB-Offi zier in Dresden zu einem großrussischen Wiederbeleber der gefledderten Sowjetleiche und inzwischen ist er ein aufgeblasener Diktator und banaler Völkermörder. Er droht nun den Dritten Weltkrieg auszulösen mit all seinen Atomraketen im Köcher.

Und was sagen Sie zu Scholz? Wie er sich in der aktuellen Situation verhält?
Scholz ist ein kühler Hanseat - das gefällt mir, dem geborenem Hamburger Fischkopf. Scholz ist ganz am Anfang seines schweren Weges.

Wie gefallen Ihnen denn die Grünen, die sich in ihrer Regulierungswut an literarischen Texten vergreifen, Genderverweigerer bespitzeln und bloßstellen?
Die meisten Grünen sind nicht so blöd, die Idioten sind auf alle Seiten verteilt.

Und wenn Sie "alte, weiße Männer" hören?
Darüber streiten wir auch bei uns zu Hause am Küchentisch. Mich kotzt diese Debatte an. "Den Dummheiten seiner Epoche entgeht kein Mensch ganz." Das sagte Goethe, übrigens auch über sich selbst.

Nun wird Ihre Autobiografie verfilmt. Wen hätten Sie denn gern als Biermann?
(Lacht.) Ich habe die Vergabe der Rechte davon abhängig gemacht, dass ich das Privileg genieße, selber die Hauptrolle in dem Teil des Films zu spielen, wo meine Mutter mich als Knabe durch den Kanal aus dem Feuer zieht. Mit einer guten Maskenbildnerin schaffen wir das!

Nun bekommen Sie den Arik-Brauer-Preis. Welche Erinnerungen verbinden Sie denn mit ihm?
Ich habe ihn einmal getroffen, in Ihrem Buch-Magazin im ORF. Als ich meinem Freund, dem Literaten Hannes Stein, einem nach New York ausgewanderten Österreicher, von der Begegnung erzählte, ist er in Freudentränen ausgebrochen. Er hat den Brauer geliebt, lang bevor er mich überhaupt kannte. Brauers Vater hatte ja, wie meiner, das gleiche miese Erlebnis, er wurde im KZ ermordet. Auch das verbindet lebenslänglich. Arik Brauers Vater war ein Schuhmacher, mein Sohn Lukas ist ein Schuhmachermeister.

Eine tatsächliche Freundschaft habe ich mit meiner Sendung aber auch gestiftet. Nach anfänglicher gegenseitiger Reserve waren Sie und Hugo Portisch einander sehr nahe, nicht?
Das ist fast untertrieben. Wir waren ein Herz und ein Sparkassenbuch. Er hat mir alle seine Bücher geschickt, auch die seiner wunderklugen Frau.

Die Sparbücher auch?
(Lacht.) Leider nein. Aber ich habe gerade wieder seine vier großen Bände über die Geschichte Österreichs durchgeblättert. Ein Kapital! Er war derjenige, der den Österreichern die Wahrheit zumuten durfte, zu wissen, wer sie sind. Darf ich noch einen Wiener erwähnen, der meinem Herzen ganz nah war? Der Koloss Helmut Qualtinger war das. Er hat mich in Ostberlin besucht, und ich dachte: Der passt zu Brecht! Er war nicht so ein Wiener Schluri, und er hat mir Horváths Mörderwort beigebracht: "Du entgehst meiner Liebe nicht."

Und Ihre Kinder, zehn insgesamt? Können Sie den Überblick denn noch behalten, von der Liebe gar nicht zu reden?
Leicht! Das werde ich immer wissen: Genau sieben Söhne wie im Märchen und drei wunderbar verschiedene Töchter. Dazu kommen 13,14,15 Enkelkinder. Da kann ich mich vertüddeln.

Wenn ich nun abschließend unterstelle, Sie und nicht Dylan hätten den Nobelpreis bekommen sollen?
Wenn Sie mir den Nobelpreis androhen, muss ich mich revanchieren, indem ich Ihnen zum Beispiel vorhalte, dass Sie der bedeutendste Literaturkritiker in der Geschichte Österreichs sind. Und schon steht einer in des anderen Schuld. Solch eitle Schuld schafft reflexartige Wut in zwei Dimensionen: Man redet die Zuwendung, die man genossen hat, klein, und man redet sie vor allen Dingen schlecht. Sprechen Sie mir den imaginären Nobelpreis also lieber nicht so leichtsinnig zu.

ZUR PERSON: Wolf Biermann
Geboren am 15.11.1936 in Hamburg, übersiedelte 1953 in die DDR, wurde mit seinen Liedern zum Regimekritiker und in der DDR mit Auftrittsverbot belegt. 1976 ließ man ihn nach einer Konzerttournee nicht mehr einreisen, aber seine Konzerte vor gigantischen Zuschauermassen mobilisierten über West-Sender den Widerstand. Er ist verheiratet und hat zehn Kinder von drei Müttern.

Das Buch
Gedichte eines Ungläubigen, der mit einem faszinierenden Phantom harte Kämpfe austrägt: "Mensch Gott!" sammelt und ordnet Lyrik seit den Sechzigerjahren. Suhrkamp, € 22,70

Der Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 11/2022.