Wer ist das Volk?

Wer nicht Mitglied im Verein ist, kann den Vereinsvorsitz nicht wählen. Ganz einfach. Im Vereinsleben. Im demokratiepolitischen Kontext ist das zunehmend ein Problem.

von Kathrin Gulnerits © Bild: News/Matt Observe

Es ist mir egal, ob der eine auf TikTok tanzt und der andere ankündigt, demnächst Freibier ausschenken zu wollen. Es interessiert mich auch nicht, ob im Wahlkampf, von wem auch immer, Kinder geherzt werden oder inhaltlich ein bisschen mehr als der platte Slogan "Holen wir uns Österreich zurück!" geboten wird. Es geht mich nämlich nichts an. Für mich wird der 9. Oktober ein Tag wie jeder andere sein. Ich bin nämlich nicht gefragt, wenn der neue Bundespräsident gewählt wird. 1,4 Millionen andere - also Menschen, die in diesem Land leben, vielleicht sogar hier geboren sind, aber eben keine Österreicherinnen und Österreicher sind - übrigens auch nicht. Vor 20 Jahren waren wir noch eine überschaubare Gruppe: 580.000, nicht der Rede, jedenfalls keine Erwähnung und schon gar keinen weiterführenden Gedanken wert. Aber jetzt, da bereits 1,4 Millionen über 16 Jahre (zum Vergleich: Bei der Bundespräsidentenwahl 2016 waren 6,4 Millionen Österreicherinnen und Österreicher wahlberechtigt, 4,7 Millionen haben ihre Stimme abgegeben) mangels Staatsbürgerschaft kein Wahlrecht haben, könnte man schon ein paar Sätze über uns verlieren. Man könnte also die hochgekochte Wahlrechtsdebatte zum Anlass nehmen, um nüchtern darüber zu diskutieren. Vielleicht nicht gleich und sofort und schon gar nicht im aktuellen Wahlkampf. Aber zeitnah. Die nächste Wahl kommt bestimmt. Denn schließlich traut man etwa mir seit 26 Jahren auch zu, in regelmäßigen Abständen meinen Bezirksvorsteher zu wählen. Mehr demokratiepolitische Rechte habe ich in meiner Wahlheimat nicht. Was würde es also bedeuten, das Wahlrecht etwa für EU-Bürger mit dauerhaftem und langjährigem Wohnsitz in Österreich zu erweitern? Also Mitbestimmung dort, wo man lebt. Und daran anschließend gerne auch die Frage, die für Nicht-EU-Bürger entscheidend ist, nämlich, ob es einen so restriktiven Zugang zum Erlangen der Staatsbürgerschaft (und damit zum Wahlrecht) wie in Österreich braucht, das die Latte im europäischen Vergleich besonders hoch gelegt hat.

»Wie legitimiert ist eine Politik, wenn sich viele Menschen darin gar nicht wiederfinden?«

Wohlgemerkt: Ausgang ungewiss. Aber schon allein das ernsthafte und glaubwürdige Beschäftigen mit diesen Fragen wäre mehr, als jetzt auf dem Tisch liegt, nämlich vor allem Ressentiments, kalkulierte Unwissenheit, Abgehobenheit. Aufgabe der Politik ist es schließlich, Ängste abzubauen und nicht Sorgen zu verstärken. Vor allem aber, Lösungen anzubieten.

Aber weil wir darüber partout nicht reden wollen, sollten die sich dadurch zwangsläufig aufdrängenden Fragen umso intensiver diskutiert werden: Wie legitimiert ist eine Demokratie, wenn sich viele Menschen darin gar nicht wiederfinden? Was heißt das für unsere Gesellschaft, wenn Menschen von Entscheidungen des politischen Systems betroffen sind, ohne aber mitentscheiden zu dürfen? Ist es wirklich egal, wenn das Feedback von so vielen nicht ankommt? Wählen heißt im besten Fall auch, sich zu informieren, sich mit einem politischen System auseinanderzusetzen.

Fragen, die im Übrigen auch -und nur ein bisschen adaptiert - mit Blick auf die wachsende Zahl der Nichtwähler gestellt werden können.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: gulnerits.kathrin@news.at