Integration geht auch anders

Die Brüder Riahi flohen als Kinder aus dem Iran und gehören heute zur österreichischen Film-Elite

Die vielfach preisgekrönten Filmemacher Arash und Arman Riahi stehen für das Beste an Integration. Im News-Gespräch versuchen sie zu erklären, weshalb Leonies Tod das albtraumhaft Schlimmste an missglückter Integration ans Licht brachte. Und sie erzählen ihre eigene Geschichte von Flucht, die ein Abenteuer sein kann, und der Suche nach dem hellen Moment in der schwärzesten Nacht

von Interview - Integration geht auch anders © Bild: Ricardo Herrgott/News

Eine glatte Geschichte sollte das werden, hell und voller Hoffnung: die Geschichte der iranischen Flüchtlingsbuben Arman T. und Arash T. Riahi, die Protagonisten der glänzenden österreichischen Filmszene wurden. Dann brachten vier junge Migranten ein dreizehnjähriges Mädchen bestialisch zu Tode. Und plötzlich ist Arman, der außer der federleichten Zuwanderer-Groteske "Die Migrantigen" auch zwei Dokumentarfilme über straffällige Jugendliche fertigte, unser Erklärer des Unerklärlichen. "Zunächst: Wir sind keine Politiker, wir kennen keine Details, wir haben keine Handhabe", beginnt er das schwere Werk. "Es gibt von unserer Seite aus - da spreche ich auch für meinen Bruder -keine Toleranz für Verbrecher und Kriminelle, egal, woher sie kommen. Keine Frage, man muss den oder die Täter zur Rechenschaft ziehen. Man muss sich auch die ehrliche Frage stellen, was man mit mehrfach vorbestraften Asylsuchenden in Österreich macht und warum sie wie in diesem Fall scheinbar schalten und walten können, wie sie wollen.

Was mir nicht gefällt, ist, dass man von einem Fall wie diesem auf andere schließt und behauptet, daran sehe man, dass Integration nicht funktioniert. Aber dass niemand über die anderen Fälle redet, wo Integration funktioniert." Ein "engmaschiges Netz" müsse um Straftäter gezogen werden, aber eher wären die Worte zu entschärfen, als dass man Schuldlose durch die Verschärfung des Asylrechts für die Verbrechen Einzelner büßen lasse.

© Ricardo Herrgott/News Die Liebe, die sie verbinde, sei so groß, sagt Arash T. Riahi (re.), dass auch Streitigkeiten kein Problem seien: "Das prallt dann ab." Grundsätzlich teilen sie ohnehin den Humor, den Geschmack und die Lieblingsfilme.

Dann kommt er zum Kern seiner Aussage: Viele der "Kids", deren Weg in den Abgrund er in seinen Dokumentationen erforschte, hatten keine einzige erwachsene Bezugsperson. Und noch deutlicher: "Wir kommen aus einer Flüchtlingsfamilie, in der Bildung extrem wichtig war. Wenn ich 16 gewesen wäre, und meine Eltern hätten nicht auf mich aufgepasst, hätte es bei mir auch schieflaufen können. Minderjährige - und speziell vorbestrafte minderjährige Kriegsflüchtlinge - brauchen eine ordentliche Aufsicht. Ein Generalverdacht gegen Flüchtlinge oder Migranten treibt uns nur noch mehr auseinander."

Und wie ist es vorstellbar, dass die Falschen bleiben, während gut integrierte Kinder in der Nacht abgeschoben werden? "Da muss doch etwas im System nicht stimmen. Das ist doch absurd. Wer trägt da die Verantwortung? Wir sind ein Musterbeispiel in Österreich, weil es hier prinzipiell offene Türen für Menschen gibt, die sich in Österreich ein Leben aufbauen wollen. Ich bin stolz darauf, dass Österreich Flüchtlingen und Migranten die Chance gibt, etwas zu erreichen. Aber wenn wir generalisieren, riskieren wir, den Mehrwert zu verlieren, den die Einwanderung dem Land bringt."

Und jetzt beginnt die Geschichte der Brüder Riahi tatsächlich: immer noch hell und voller Hoffnung, aber alles andere als glatt.

Eine helle Geschichte

Es dauert eine ganze Weile, die Dutzenden Filmpreise der Brüder Riahi für das Fotoshooting im Büro im siebten Wiener Bezirk zusammenzusammeln. Die Auszeichnungen von nationalen und internationalen Filmfestivals stehen dort fast achtlos zwischen Schreibtischen und Schnittplätzen in Regalen und auf kleine Tischchen verteilt.

Auf eine Art dokumentiert dies, wie die Filmemacher Arash und Arman T. Riahi auf ihre Aufgabe im Leben blicken. "Wir drängen uns nicht auf. Wir sind nicht wichtig", wird Arman Riahi, der Jüngere, später sagen, der mit dem Publikumshit "Die Migrantigen" 2017 über 85.000 Besucher in heimische Kinos lockte. Riahi: "Wer wir sind, sieht man in unseren Filmen."

Zwei ihrer Werke -"Fuchs im Bau" und "Ein bisschen bleiben wir noch" - machten das Brüderpaar im vergangenen Jahr zu den erfolgreichsten Regisseuren Österreichs. Gerade inszenierten sie die Gala zum 11. Österreichischen Filmpreis. Fünf Romys, den Joseph-Vilsmaier-Preis, den Max-Ophüls-Publikumspreis, elf weitere Auszeichnungen und fünf Nominierungen beim Österreichischen Filmpreis (Anm.: das Ergebnis war bei Redaktionsschluss ausständig) holte das magische Flüchtlingsdrama "Ein bisschen bleiben wir noch" des Älteren der beiden, Arash T. Riahi, dieses Jahr. Zutiefst berührend und voller Hoffnung spendender Momente erzählt der 48-jährige Regisseur und Drehbuchautor darin die emotionale Achterbahnfahrt einer Flucht aus der kindlichen Perspektive. Die Erlebniswelt des achtjährigen Oskar bringt Erinnerungen aus Riahis eigener Vergangenheit zum Klingen.

© Ricardo Herrgott/News Unabhängige Produktion und damit Freiheit garantiert den Brüdern (o. Arman T. Riahi), die von Arash T. Riahi 1998 mit Freunden gegründete Filmproduktionsfirma Golden Girls

Ein Verlust. Und ein Abenteuer

Der Filmemacher war neun Jahre alt, als sich die Eltern mit ihm auf die dreimonatige Flucht aus dem Iran machten. Als Bub erlebte er sie als Abenteuer. "Ich habe damals zwar meine Freunde im Iran zurückgelassen, aber wir sind in Kurdistan mit kurdischen Freiheitskämpfern, die mit Kalaschnikows bewaffnet waren, auf deren Pferden geritten. Wir sind oft nachts geritten, und ich kann mich noch genau an die Gerüche erinnern. Daran, wie wir Flusswasser getrunken haben. Das beste Wasser, das ich je getrunken habe, weil ich so durstig war. Die Hufe der Pferde haben manchmal kleine Funken erzeugt, die in der Nacht weithin zu sehen waren. Da war Verlust, ja. Aber da war auch Abenteuer."

An diesem Punkt verschmelzen das Leben und die Kunst zu einer der Botschaften des Regisseurs. Mit seinem Film will er zeigen, wie bereit Kinder sind, sich auf ein neues Leben einzulassen, wenn man es ihnen erlaubt. "Was bringt es einem System, Kinder abzuschieben, die voll integriert sind?", fragt er und zitiert die UNICEF-Studie "Stilles Leid", laut der 70 Prozent der abgeschobenen Kinder mit Depressionen kämpfen und auf der Straße landen.

"Wenn wir diese Kinder zu demokratisch denkenden, humanistischen Menschen erziehen, können sie in ihrer Heimat später eine Saat für Demokratisierung sein", sagt er. Um eine Gesellschaft zu verändern, müsse man in die Bildung und die Zukunft der Kinder investieren, denn diese würden die Gesellschaft später damit bereichern, so Arash T. Riahi. Er selbst hat 1998 mit Freunden die "Golden Girls Filmproduktion" gegründet und damit einen maßgeblichen Dienstleister und Arbeitgeber der österreichischen Filmbranche geschaffen.

Gegen Feindbilder angehen

Es war beim Dreh zur sozialkritischen Komödie "Die Migrantigen", als vor Arman T. Riahis Augen Leben und Kunst auf absurde Weise verschmolzen. Auf dem Set des Films, in dem zwei bestens integrierte Jugendliche für eine sensationslüsterne Reporterin vortäuschen, arbeitslose Kleinkriminelle mit Migrationshintergrund zu sein, äußerten sich zwei ältere Statistinnen ungläubig: Dort war doch tatsächlich Riahi der Chef und der blonde, optisch mehr "österreichisch" aussehende Mann, sein Assistent!

Leichthin schildert Arman T. Riahi, dass es ihm als Heranwachsendem nie schwer gefallen ist, feindseligen Aufforderungen, "doch zurück nach Hause zu gehen", zu kontern: "Ja? Nach Fünfhaus?" Der 15. Bezirk ist Heimat für ihn. Er war zwei Jahre alt, als er in Österreich angekommen ist.

Integration ist jedoch nicht das Thema, um das Riahi-Arbeiten kreisen. Dem 40-Jährigen geht es vor allem um das Unkenntlichmachen von Feindbildern. "Feindbilder sind politische Werkzeuge, sie schüren Ängste, und daraus entsteht Hass", sagt er. Dagegen tritt er an, indem er selbst oberflächlich unsympathischste Figuren auf eine menschlich begreifbare Ebene hebt. Im vielfach prämierten Drama "Fuchs im Bau" sind es renitente Jugendliche in einer Strafanstalt, deren abgebrühte Lehrerin, ihr gebrochener Nachfolger und die unnachgiebige Gefängnisleitung, die er aus allen Klischees emporsteigen lässt und in ihrem Handeln begreifbar macht.

Dieser bewusste Umgang mit allen Schattierungen im menschlichen Dasein zeichnet die Arbeit und Denkwelt beider Brüder aus. Oder, wie Arman T. Riahi es formuliert: "Auch Menschen, die foltern, haben Namen und Kinder und gehen im Supermarkt einkaufen. Das System sind nicht irgendwelche Leute, das sind wir alle."

Jeder Unsympathler - ein Mensch

Sich zu fragen warum jemand ist, wie er ist, sei das Ziel, bekräftigt Arash T. Riahi: "Es ist möglich, auch im größten Arschloch das Menschliche zu freizulegen." In den sozialen Netzwerken folgt er bewusst Vetretern völlig konträrer Meinungen, um nicht Opfer eines Algorithmus zu werden, der nur Pro und Contra kennt. Er will die Wahrheit ganz bewusst von verschiedenen Seiten betrachten.

"Wenn wir von unserer Gesellschaft sprechen, kann es ja nicht nur darum gehen, parallel nebeneinander zu leben, sondern darum, gemeinsam miteinander auf einen Weg zu kommen. Gemeinsamkeiten feiern ist das Ziel", ergänzt Arman T. Riahi.

Als Arash T. Riahi 2006 mit dem preisgekrönten "Exile Family Movie" ein emotional und kulturell aufgeladenes heimliches Treffen seiner Großfamilie in einem kleinen Hotel in Saudi Arabien dokumentierte, mahnte ihn sein Vater, gesellschaftlich Relevantes statt Biografisches zu verfilmen.

Im Werk der Brüder nährt heute das eine das andere, wenn auch auf unterschiedliche Weise. So nervt es Arash T. Riahi manchmal, wie er sagt, dass er dem Themenkreis Flucht und Freiheit nicht entkommt. Seinen Spielfilm "Ein bisschen bleiben wir noch" begreift er als zweiten Teil einer "Flucht-Trilogie", die er 2008 mit dem Drama "Ein Augenblick Freiheit" über das Schicksal dreier Flüchtlingsgruppen aus dem Iran begann. Er erinnert sich noch gut an die Besuche bei seinem Vater im Gefängnis und wie er sie im Hof der Großmutter am Zaun nachgespielt hat.

Fünf Jahre lang war der Vater - von Beruf Lehrer wie die Mutter -unter dem Shah als politischer Häftling im Gefängnis und wurde gefoltert. "Nach dem Sturz des Shahs gab es kurze Monate der Freiheit. Dann wurde eine Diktatur von der nächsten abgelöst", erzählt Arash T. Riahi. Es war das Anwesen der Großmutter in Isfahan, wo er aufgewachsen ist, während der Vater inhaftiert war und die Mutter unterrichtet hat. Riahi: "Ich weiß, dass ich meine Großmutter nie wieder sehen werde, so wie vielleicht auch viele der Orte meiner Kindheit. Das bleibt ein tiefer Schmerz. Bei Arman ist es anders. Er ist neun Jahre jünger und geht anders damit um."

Lachen als Werkzeug des Protest

Die humanistische Erziehung der Eltern bleibt für beide maßgeblich. Mit 700 Mark flüchtete die Familie 1984 Richtung Österreich, ohne -trotz all des Erlittenen -je in ein Opfer-Denken zu fallen. "Unsere Eltern haben nie darüber nachgedacht, ob sie Opfer irgendwelcher Umstände waren. Daran war nichts zu ändern", erzählt Arash T. Riahi und merkt an, dass ihn deren Pragmatismus geprägt habe. "Mich interessieren Probleme nicht, sondern deren Lösungen."

Als klar war, dass die Eltern als Pädagogen in Österreich nicht arbeiten konnten, taten sie, was möglich war. Der Vater absolvierte einen Maschinenschlosserlehrgang und arbeitete, bis die Spätfolgen der Folterungen ihn fast das Leben kosteten. Die Mutter arbeitete am Fließband, nähte und arbeitet kurz vor der Pensionierung noch als Pädagogin im Bereich interkultureller Lernmethoden mit Kindern. "Sie haben getan, was getan werden konnte, und waren ein stolzer Teil der Arbeiterklasse, für die sie sich immer eingesetzt haben", beschreibt Arash T. Riahi.

Auf die Frage nach dem positiven Blick in allen Widrigkeiten, der alle Riahi-Filme prägt, fällt Arman T. Riahi ein, wie die Mutter es stets geschafft habe, durch ein - durchaus erzwungenes -Lachen jeder Bitterkeit zu trotzen: "Sie hat einfach gelacht und uns alle damit angesteckt. Dieser Humor war immer da."

© Ricardo Herrgott/News Das aktuelle Filmplakat

Der Film "Everyday Rebellion" spiegelt diese Erfahrung wider. Der Kinodokumentarfilm beider Brüder beschrieb 2013 die Strukturen erfolgreicher Protestbewegungen weltweit und wird heute noch u. a. im Rahmen des Widerstands in Hongkong öffentlich gezeigt. "Damals wurde uns klar, dass Humor als Methode des Widerstands einer der kräftigsten Faktoren ist. Wenn man lacht, kann man keine Angst haben, das ist ein biologischer Faktor. In Ländern, wo du keine freie Meinung äußern kannst, passiert Protest durch Witze. Witze gegen das System, die jeder Taxifahrer erzählt", sagt Arash T. Riahi.

Was macht einen Menschen aus?

Genauso wichtig sei aber auch das Motto "Stop hoping, make it happen", meint er, denn Hoffen allein sei zu wenig. Es mag diese Erkenntnis sein, die die Brüder - auch dank der Initiative eines engagierten Lehrers im Gymnasium Schottenbastei in Wien -heute Filme machen lässt, die Bewusstsein schaffen und das Verbindende in den Vordergrund rücken. Jene Leute in Szene zu setzen, die sie mögen, sei das Ziel, sagt Arash T. Riahi. "Wir machen Filme über Leute, die wir empowern wollen, die wir gerne haben, nicht über Feinde. Vielleicht kommt das später!"

Den Begriff Integration ersetzen die Riahis im Gespräch lieber durch den Begriff Inklusion, wie Arman T. Riahi betont: "Es hat sich ergeben, dass unsere Herkunft ein Thema wurde. Aber es ist nicht das erste Merkmal eines Menschen, woher er kommt. Ich bin ein Wiener mit einem Herzen für iranische Kultur und Sprache und Essen. Wir streben eine Gesellschaft an, in der die Herkunft egal ist."

Die wichtigste Frage bleibt, so Arash T. Riahi: "Was macht einen Menschen aus? Es gibt Dinge, zu denen ich nichts beigetragen habe, wie meine Herkunft oder wer meine Eltern sind. Und es gibt Dinge, die ich beeinflussen kann, wie meine Haltung, mein kollektives Denken, wofür ich kämpfe. Darum geht es doch letzten Endes bei jedem Menschen." Diese Bewusstsein zu stärken, ist das Ziel ihres filmischen Schaffens in der festen Überzeugung, dass Filme gesellschaftlich etwas bewegen können.

Und das Funkeln der Preise auf ihrem Weg ist wie die Funken aus den Pferdehufen in der Nacht über Kurdistan: Zeuge eines Abenteuers.