Keine Zeit für Neuwahlen

Die Ausweitung der Weltkrisen hat auch Auswirkungen auf die Stimmungslage in Österreich. ÖVP und SPÖ haben keine Antworten darauf - und zunehmend mit sich selbst zu kämpfen.

von Politische Analyse - Keine Zeit für Neuwahlen © Bild: Privat

ANALYSE

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo über Neuwahlen spekuliert wird. Es ist absurd. Zu viel spricht dagegen: All die Weltkrisen wollen nicht enden, sondern werden zahlreicher. Zum Krieg in der Ukraine ist jetzt auch noch der in Israel dazugekommen. Das vergrößert zum einen Unsicherheiten für Parteistrategen und drückt zum anderen auf die Stimmung der Bevölkerung. 60 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher erklären, dass die Krisen sie belasten. Ein Drittel berichtet im jüngsten "Eurobarometer" außerdem, müde, erschöpft oder überhaupt niedergeschlagen zu sein.

Und da gibt es keine anderen Sorgen, als über Neuwahlen zu spekulieren? Regierende Parteien können unter solchen Umständen einpacken. Die ÖVP von Bundeskanzler Karl Nehammer, die nach den fulminanten 37,5 Prozent vom letzten Mal ohnehin mit einem Absturz rechnen muss, kann nicht einmal mehr davon ausgehen, dass es ihr gelingt, einen solchen in Grenzen zu halten. Nehammer findet keine Antworten, die der allgemeinen Lage gerecht werden. Genauer: Er liefert Ansätze wie jenes "Glaub an Österreich", das in schweren Zeiten Mut machen soll. Das ist dann aber durch das "Hamburger-Video" durchkreuzt worden. Es hat zu viele Menschen verstört und ist eine Erklärung dafür, dass Nehammer so ziemlich die schlechtesten Persönlichkeitswerte hat, die ein Kanzler jemals hatte.

Die ÖVP muss froh sein, wenn sie die 37,5 Prozent, mit denen Macht und Förderungen verbunden sind, bis zum letztmöglichen Tag auskosten kann. Bei Neuwahlen wäre die Gefahr zu groß für sie, hinterher nur als wesentlich kleinerer Juniorpartner der FPÖ in der Regierung bleiben zu können. Um jeden Preis, sozusagen. Das ist eine denkbar schlechte Perspektive.

Eine Koalition mit der SPÖ würde sich derzeit kaum ausgehen. Zumal diese unter Führung von Andreas Babler nicht und nicht vom Fleck kommt. Wie auch? Babler ist angetreten, sozialen Ungerechtigkeiten den Kampf anzusagen. Doch jetzt bescheren ihm Wiener Sozialdemokraten die Kleingarten-Affäre mit den günstigen Grundstückskäufen durch Funktionäre. Wobei es darum geht, was Altbundespräsident Heinz Fischer bemerkte: Viele Menschen werden sich sagen: "Aha, es gibt doch Gleiche und noch Gleichere."

Schlimmer für Babler: Die Themenlage verschiebt sich zu seinen Ungunsten. Migration und Integration rücken wieder ins Zentrum, verstärkt durch die Entwicklungen im Nahen Osten und Demonstrationen dazu in Österreich. Politische Gegner der SPÖ vermitteln da gerne den Eindruck, sie schaue nur weg. Sie selbst schafft es nicht, damit umzugehen. Auch weil es von Babler bisher vernachlässigt worden ist, weil er keine Zugänge gefunden hat, die die rechte Deutungshoheit für Wähler infrage stellen, die er braucht, um auf die angepeilten 30 Prozent zu kommen.

ZAHL

Problem mit dem Pensionsalter

Holger Bonin (55), seit Juli Leiter des Instituts für Höhere Studien, wundert sich darüber, dass man sich ein "generöses Pensionssystem" leistet, aber kaum darüber diskutiert. Die Erklärung ist einfach: Die SPÖ hat schon immer dazu tendiert, für sie ist es Ausdruck eines starken Sozialstaates. ÖVP und FPÖ tun es, seit sie in den 2000er-Jahren gelernt haben, dass Reformen unpopulär sind und zu Wahlniederlagen führen können.

Ergebnis: Von 100 Euro Steuereinnahmen, die der Bund verzeichnet, flossen zuletzt schon 40 Euro in den gesamten Pensionsbereich. So werden Spielräume für andere Herausforderungen kleiner, die ebenfalls anstehen: Ausbau Kinderbetreuung, Bewältigung Klimakrisenfolgen etc.

Doch wie gegensteuern? Bonin schlägt "perspektivisch" ein Pensionsalter von 67 Jahren vor. Auch Fiskalratschef Christoph Badelt fordert eine seriöse Debatte darüber, wie man eine Anpassung an die demografische Entwicklung vornehmen könnte.

Das ist derzeit vollkommen offen. Es gibt ein Problem: Eine Auswertung der Statistik Austria zeigt, dass bei Männern Hochschulabsolventen eine um sechseinhalb Jahre höhere Lebenserwartung haben als all jene, die nicht über die Pflichtschule hinausgekommen sind. Schwerwiegender: Akademiker fühlen sich im Schnitt bis Anfang 70 gesund und diejenigen, die gleich nach der Pflichtschule erwerbstätig geworden sind, nur bis Mitte 50. Bei ihnen beginnen körperliche Leiden also schon lange vor dem gesetzlichen Pensionsalter. Bei Frauen sind die Unterschiede ebenfalls groß. Dafür gibt es mehrere Gründe, einer davon ist die berufliche Tätigkeit.

Der Punkt ist: Zu sagen, alle müssten bis 67 arbeiten, ist zu einfach. Wenn, dann sind mehr denn je individuelle Lösungen notwendig, die stärker von den Versicherungsjahren abhängig sind. Das würde gerade auch Männern und Frauen helfen, die schon als Jugendliche ins Berufsleben gestartet sind.

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BERICHT

Karas wird der ÖVP fehlen

Alles in allem war die ÖVP in den vergangenen Jahrzehnten bei Europawahlen erfolgreicher als bei Nationalratswahlen: Sofern es nicht für den ersten Platz reichte, landete sie knapp hinter der SPÖ auf dem zweiten. Zu tun hatte das nicht zuletzt mit ihrer Doppelstrategie: Sie trat mit Kandidaten für eine Masse und mit Othmar Karas auf. Dieser verkörpert 100 Prozent Europapolitik und ein Stück Christdemokratie, spricht nicht zuletzt also traditionelle ÖVP-Wähler an.

Doch damit ist es jetzt vorbei. Karas sieht seine Partei mehr an den Rändern als in der Mitte positioniert und wird bei der Europawahl im Juni 2024 nicht mehr dabei sein. Zwischen den Zeilen lässt er Verbitterung erkennen. So zeigt er sich verwundert darüber, dass ihn Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer nie kontaktiert hat, obwohl er als Erster Vizepräsident des Europaparlaments in Brüssel eine Größe ist.

Die Verwunderung ist nachvollziehbar: Selbst der erfolgreiche Parteiobmann Sebastian Kurz setzte bei der EU-Wahl 2019 auf die erwähnte Doppelstrategie. Damals wurde die Kandidatenliste von Karas und der heutigen Verfassungsministerin Karoline Edtstadler angeführt. Sie war ein Angebot für türkise Zielgruppen, er sicherte unter anderem Stimmen von "schwarzen" Stammwählern, die davon abwichen.

Für Nehammer wäre diese Strategie geradezu politisch überlebenswichtig gewesen: Die türkise ÖVP, die er führt, steckt in der Krise. Sie braucht zumindest die "schwarzen" Stammwähler - vor allem bei der EU-Wahl im Juni, die ein Test für die darauf folgende Nationalratswahl werden dürfte.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at