Geht nicht? Gibt's nicht mehr

Die Pandemiejahre brachten uns eine Reihe politischer und rhetorischer Grenzüberschreitungen. Wen das stört, der sollte es schnell sagen. Das Versammlungsrecht wird "evaluiert".

von Geht nicht? Gibt's nicht mehr © Bild: Ricardo Herrgott/News

Das willkürliche Verschieben von Grenzen findet derzeit nicht nur in der Ukraine statt. Es passiert vor unseren Augen, schleichend, Stück für Stück. Das Gespür dafür, was dem Souverän zumutbar ist und was nicht, ist während der Pandemiejahre verloren gegangen. Beispiele dafür gibt es genug. Etwa in der Sprache. Ein Ex-Bundeskanzler, der heute wieder Außenminister ist, sprach im November und im Stil eines autoritären Potentaten davon, "die Zügel für die Ungeimpften straffer ziehen" zu müssen.

Sein Nachfolger, Karl Nehammer, stand Alexander Schallenberg um nichts nach. Im Frühling 2021 noch bezeichnete der gelernte Rhetoriktrainer Personen, die geschmacklose Sujets von KZ-Toren mit dem Slogan "Impfen macht frei" vor sich hertrugen, als "Verschwörungstheoretiker". Im Jänner 2022, inzwischen Kanzler, sagte er in einem Interview mit "profil": "Nur Impfen erhält uns die Freiheit." Noch stärker als die Sprache wiegen Taten. Eine Lobbyistin der pharmazeutischen Industrie wechselt die Seiten und wird bald als Leiterin der Medizinmarktaufsicht bestellt. Dies ist jene Einrichtung, die bei der Marktzulassung neuer Medikamente oder Impfstoffe mitentscheidet.

Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein bezeichnete den Vorgang als "normalen Prozess" ("Ö1 Mittagsjournal", 19.2.2022). Und dass im Impfgremium seines Hauses gleich mehrere Personen mit Pharma-Hintergrund sitzen, ist ebenfalls kein Problem für den Ressortchef. Transparenz? Wozu? Schließlich gibt es Recherchen wie jene von News, die den Umstand erst öffentlich machten. Auch der Einfluss der Parteizentralen wird immer größer. Noch als Innenminister ernannte Karl Nehammer im Herbst 2021 Omar Haijawi-Pirchner zum Leiter des neuen Inlandsnachrichtendienstes DSN. Die Vorgängerbehörde, das BVT, war wegen Missmanagement und Ränkespielen der ÖVP aufgelöst worden. Dass Haijawi-Pirchner einst ebendieser ÖVP im Wahlkampf half, wurde bei der Bestellung ausgeblendet.

»Jeglicher Zusammenhang mit genannten Grenzüberschreitungen ist frei erfunden und - natürlich - Verschwörungstheorie«

Ganz ähnlich der Fall des Stephan Tauschitz. Schwarze, rote und blaue Personalvertreter fanden - wie das Innenministerium - nichts dabei, den ehemaligen Klubobmann der Kärntner ÖVP zum Leiter des Verfassungsschutzes des Bundeslandes zu machen. Gehen musste er nach zehn Tagen Amtszeit deshalb, weil er - wie andere Offizielle auch - Reden beim Ulrichsberg-Treffen gehalten hatte.

Als Bürger hat man nicht mehr die Zeit, die Bedeutung dieser Grenzüberschreitungen auf sich wirken zu lassen. Die tägliche Dosis Ablenkung liefern Smartphone-Chats, Almosen wie Klima- oder Energiebonus und der eine oder andere Plagiatsverdacht.

Wer sein Missfallen dennoch in Form legitimer Kundgebungen zeigen will, sollte dies schnell tun. Letzte Woche trafen sich Vertreter aus Wirtschaft und ÖVP nämlich mit Spitzenkräften des Innenressorts. Besprochen wurde nicht nur der Umgang mit lästigen Covid-Maßnahmen-Gegnern, sondern eine "Evaluierung des Versammlungsrechts" an sich. Dieses stamme aus dem Jahr 1867 und sei nicht mehr zeitgemäß.

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