Wenn Haltung das Narrativ bestimmt

Berechtigte Sympathien für das Kriegsopfer Ukraine verstellen uns den Blick auf unbequeme Details wie Neonazi-Umtriebe und vorschnelle Schuldsprüche.

von Wenn Haltung das Narrativ bestimmt © Bild: Ricardo Herrgott/News

Der Krieg in der Ukraine verändert vieles. Am intensivsten trifft er den Alltag der mit dem Tod bedrohten Bevölkerung vor Ort. Doch auch hierzulande tut sich einiges. Nein, dieser Beitrag handelt nicht von Wirtschaftskrisen, Russen- Gas oder Landesverteidigung. Hier und heute geht es um die Verschiebung der Grenzen zwischen Wünschen, Moral und Fakten. Und die manchmal unrühmliche Rolle, die Medien dabei spielen. "Gibt es Beweise dafür, dass Wladimir Putin die Kriegsverbrechen im Kiewer Vorort Butscha angeordnet hat?" Oder: "Ist es auszuschließen, dass die Ukraine ein Rückzugsort von Neonazis geworden ist?"

Wenn Sie auch nur eine dieser Fragen mit "Nein" beantworten, taugen Sie zum Lehrbuchreporter: kritisch, nicht leichtgläubig, Fakten von Annahmen trennend. Tatsächlich laufen Sie derzeit jedoch Gefahr, mit solch einer Beurteilung als Sonderling oder Putin-Versteher geächtet zu werden. Die grausame Bilder-und Informationsflut des Krieges nimmt vielen Journalisten und Kommentatoren die Fähigkeit zur nüchternen Beurteilung. Das ist menschlich nur verständlich. Klug ist es nicht. Niemand weiß mit Sicherheit, wie genau es - zum Beispiel - zu den Tötungen von Zivilisten in Butscha kam. Ob jemand innerhalb der russischen Streitkräfte etwas gegen die Gräuel unternommen hat, sie duldete, womöglich anordnete. "Wir wissen nur, dass sie verübt wurden", hielt unlängst der Militäranalyst und General in Ruhe Walter Feichtinger fest. Und trotzdem nannten zahllose Medien (und auch Politiker) die Schuldigen beim Namen: Russland allgemein. Putin.

Die Aufarbeitung des Massakers von Srebrenica dauerte Jahre. Wer weiß, wem der Eifer der Schuldzuweisung im Lauf der nächsten Jahre noch schadet. Ähnliches geschieht bei der Beurteilung einer so gar nicht heldenhaften Seite der Ukraine. Als Putin seinen Angriff -unter anderem -damit begründete, dass er das Land "entnazifizieren" wolle, wurde die Sache mit den Nazis in zahllosen Beiträgen empört zurückgewiesen. Ein Land, dessen Präsident jüdischer Abstammung ist und dessen Verwandtschaft zum Teil in Konzentrationslagern ermordet wurde, könne kein ewiggestriges sein.

»Es geht um die Verschiebung der Grenzen zwischen Fakten, Wünschen und Moral«

Die Tatsache abseits dieses Narrativs ist: Rechtsextreme bis nazistische Milizen sind Teil der Ukraine. Und wurden bis kurz vor Kriegsbeginn international als Bedrohung eingestuft. Etwa aufgrund ihrer Vernetzungen nach Europa und Nordamerika. Reporter von "Time" und "Guardian" dokumentierten Fackelzüge unter SS-Runen und Reden, in denen vom Wiederaufstieg der arischen Rasse die Rede war.

Diese andere Seite der Ukraine legitimiert deshalb keineswegs Putins Propaganda. Aber sie ist von fundamentalem Interesse für die Öffentlichkeit in Europa. Es ist das Steuergeld der Bürger hier, mit dem Waffen gekauft werden, die letztlich auch an das im Osten und Süden des Landes kämpfende Regiment Asow gehen. An eine Miliz, die zwar unter Aufsicht der Regierung in Kiew steht und in der dennoch ein harter Kern rechtsextremer bis nazistischer Kämpfer zu finden ist.

Parallelen zur Aufrüstung afghanischer Islamisten durch die CIA sind nicht weit hergeholt. Wozu das führen kann, ist Zeitgeschichte.

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